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weiß Gott was mitführen. Waffen, Drogen, oder andere Dinge, die mich gerade Wegs in eine Zelle bringen würden. Aber auch Gegenstände, die mir mehr über mich mitteilen könnten. Ich musste nachsehen. Sofort.

      Ich wartete, bis der Einsatzwagen außer Sichtweite war, und öffnete die Fahrertür. Das taube Gefühl im Unterschenkel hatte zugenommen. Bei jedem Schritt spürte ich ein Kribbeln im rechten Fuß, das die Furcht vor einer Beinprothese schlagartig zurückkehren ließ.

      Der Schlüssel ließ sich nur mit Kraft drehen. Mit hellem Klacken sprang der Kofferraumdeckel auf. Ich scheute mich, ihn hochzuheben. Immer wieder tauchte der absurde Gedanke auf, dass mich in wenigen Augenblicken das bleiche Gesicht des Mexikaners anstarren würde. Der leere Blick, die blutlosen Lippen, das nassrote Hemd. Und dann würde er mich fragen, warum ich ihn in der Hütte liegen gelassen hatte. Ohne jedes Mitgefühl. Nach allem, was er für mich getan hatte.

      Es befand sich kein Mexikaner in dem Kofferraum. Nur ein Paar graue, schmutzige Stiefel, wobei es sich bei dem Dreck nicht um Schlamm handelte. Er war schwarz. Und der Geruch im Kofferraum bestätigte meinen ersten Verdacht: Ruß. Das Material der Stiefel war kein herkömmlicher Kautschuk. Es fühlte sich robust an. Hart und dennoch geschmeidig. Es musste sich um spezielle Stiefel handeln. Auf einem schwer lesbaren Etikett am inneren Schaft erhielt ich die Information, die vieles erklärte. FDNY. Fire Department New York City. Es waren die Stiefel eines Feuerwehrmannes.

      New York City braucht Sie. Jetzt wusste ich, was der Polizeibeamte meinte. Ich war ein amerikanischer Feuerwehrmann. Ich war ein Held.

      Die vorbeifahrenden Trucks ließen den Boden beben und das Dröhnen der Dieselmotoren schreckte mich mit jedem Mal aufs Neue auf. Dennoch hörte ich sie deutlich. Diese Stimme. Eine Kinderstimme. Sie sang meine Melodie. »Somewhere over the rainbow …«

      Zuerst dachte ich, dass ich mich täuschte und sich diese Worte nur in meinem Kopf bildeten. Doch nach und nach wurde mir klar, dass die Stimme, die Töne und der Text durch die Luft schwebten und sich deren Ursprung unmittelbar in der Nähe befand. In meinem Wagen.

      Ich drückte den Kofferraumdeckel nach unten und erkannte einen Lockenkopf durch die Heckscheibe. Blonde Spirallocken.

      Das Mädchen aus der Hütte.

      »Way up high. There‘s a land that I heard of …«

      Es fiel mir schwer, mich zu bewegen. Zwar arbeitete mein Verstand auf Hochtouren und wollte mir einreden, dass dieses Mädchen nicht in meinem Wagen sitzen konnte, aber meine Augen widersprachen dieser Behauptung. Die Kleine saß in meinem Chevrolet. Auf der Rückbank. Und sang.

      »Once in a lullaby. Somewhere over the rainbow …«

      Ich zwang mich nach vorne zu gehen, fasste nach der Türschnalle und zog daran. Ein leises Klacken. Das Mädchen war verschwunden.

      Oder war es nie da gewesen?

       Natürlich war das Mädchen da, Jack. Du hast es doch gesehen.

      Nein. Es gab kein Mädchen. Nicht in der Hütte, nicht in meinem Wagen, nirgendwo. Mein Gehirn spielte mir einen Streich.

      Ich kannte dieses Mädchen nicht. Ich hatte nichts mit ihm zu tun. Aber auch wenn ich mir diese Dinge einzureden versuchte, wusste ich, dass ich mich belog. Denn obwohl das Mädchen nicht mehr auf der Rückbank saß, hatte sie doch etwas zurück gelassen.

      Ich beugte mich in den Wagen und fasste nach der Puppe.

      Sie trug ein hellblaues Ballettkleid. Die blonden Locken waren mit einem blauen Haarband zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Die Lippen waren mit rotem Filzschreiber nachgemalt worden und an der rechten Wange glänzten dicke schwarze Tränen. Das Gesicht der Puppe wirkte traurig, und obwohl die Lippen zu einem Kuss gespitzt waren, hatte ich beim Betrachten das Gefühl, dass aus den blauen Augen jeden Moment Tränen fließen würden.

      Diese Puppe musste bereits im Wagen gelegen haben. Die ganze Zeit. Ich hatte sie nur nicht bemerkt, was in Anbetracht der Hektik plausibel war. Vermutlich war das Auftauchen des Mädchens nur ein Rest an Erinnerung, der in meinem Gedächtnis aufgeblitzt war. Jede andere Erklärung war absurd.

      Ich warf die Puppe zurück auf die Sitzbank und setzte mich ans Steuer. Das Radio dröhnte laut und mit jeder gefahrenen Meile wuchs die Überzeugung, dass sich alles aufklären würde. Es genügte ein kleiner Lichtstrahl, um die Dunkelheit in meinem Gehirn zu vertreiben. Und dieser Lichtstrahl würde bereits auf mich warten. In New York. 538 Grand Street.

      Ich wechselte auf die Überholspur und presste den Fuß auf das Gaspedal. Die Trucks im Rückspiegel wurden schnell kleiner. Im Minutentakt blickte ich auf den Rücksitz. Kein Mädchen. Nur diese Puppe.

      Lag es am Wechselspiel zwischen Sonnenlicht und Schatten? Vermutlich. Eine andere Erklärung konnte es nicht geben, für den Eindruck, dass die Kunststofflippen bei jedem Blick erneut zu grinsen begannen. Boshaft. Als würde diese Puppe ein Geheimnis hüten und es kaum erwarten können, dass ich es endlich lüfte.

      3

       New York City, 538 Grand Street.

      Die Grand Street zu finden war einfacher, als ich befürchtet hatte. Mein Plan bestand darin, ins Zentrum der Stadt zu fahren und zu hoffen, dass sich eine Art Automatismus in Gang setzte, der mich wie ein Autopilot in meine Wohngegend führte. Doch dieser Automatismus blieb aus. Hatte ich auf dem Highway ins Zentrum noch ansatzweise das Gefühl, diese Stadt zu kennen, löste sich diese Vertrautheit schnell in nichts auf, als ich von der Schnellstraße abfuhr und mich in Chinatown wiederfand. Ziellos fuhr ich umher, bis ich mir sicher war, das erste Mal in New York zu sein. Nichts, rein gar nichts, kam mir auch nur im Entferntesten bekannt vor. Dennoch dauerte es von diesem Zeitpunkt, in dem mich die Verzweiflung zu würgen begann, bis jetzt keine dreißig Minuten. Ein Taxi-Fahrer, der an einer Kreuzung neben mir stand, gab mir durch zwei Handzeichen die Wegbeschreibung: fünf Finger und ein Deut mit dem Zeigefinger nach rechts. Ich bog also die fünfte Straße nach rechts ab und fuhr die Abraham Kazan Street entlang. Sie mündete direkt in die Grand Street. Unweit meines Häuserblocks.

      Die Straße war kaum frequentiert. Nur vereinzelt begegneten mir Fahrzeuge. Auch auf den Trottoirs befanden sich nur wenige Menschen. Eine ältere Dame, die einen Rollkoffer hinter sich herschleifte. Ein Mann in einem elektrischen Rollstuhl, der aus der Apotheke fuhr, eine Plastiktüte auf seinem Schoß, und eine Mutter, die ihr Kleinkind im Arm hielt und vor der Ampel wartete. Ich bremste. Rote Locken leuchteten um ein mit Sommersprossen übersätes Gesicht. Helle, grüne Augen blitzten in meine Richtung. Ein kurzer Blickkontakt. Dann drehte sie sich zur Seite.

      Ein Hupen hinter mir schreckte mich auf und ich fuhr weiter. Da ein Schild an der Hauswand mit der Nummer 538 darauf hinwies, dass ich mein Ziel erreicht hatte, hielt Ausschau nach einer Parkmöglichkeit. Doch meine Gedanken hingen an dieser rothaarigen Frau. Jede Frau hier auf der Straße konnte meine Frau sein. Jedes Kind mein Fleisch und Blut. Und jeder einzelne Mensch konnte mich besser kennen, als ich es tat.

      Selbst jetzt, da ich auf mein Wohnhaus blickte, stieg keinerlei Vertrautheit in mir auf. Ich fühlte mich wie ein Besucher. Ein Fremder, den man in eine Gegend geschickt hatte, die er nie zuvor gesehen hatte. Ich überlegte, ob es eine andere Grand Street geben könnte und mich der Taxilenker schlicht zur falschen gesandt hatte. Aber selbst im chaotischen Trubel meiner Gefühle kam mir diese Erklärung fadenscheinig vor. Nein. Dies war mein Wohnhaus. Hier wohnte ich. Und ich musste endlich aus dem Wagen steigen und herausfinden, wer ich war.

      Der Schmerz trat nach der ersten Belastung des Beines ein. Wie ein Blitz zog sich das Brennen durch den Oberschenkel und jeder Versuch, den Schmerz zu ignorieren, scheiterte.

      Ich humpelte die Straße entlang und bog in Richtung Hauseingang ein. Über der doppelflügeligen Tür war ein grüner Baldachin angebracht. In großen weißen Lettern strahlte Hillman in der Vormittagssonne. Darunter stand 538 E Grand Street. Rechts vor dem Eingang befand sich ein Verschlag in der Grünfläche. Eine Portierloge, in deren Seitenfenster sich die Statur eines Mannes abzeichnete.

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