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Nass in meinem Gesicht. Immer wieder fiel der Blick auf den Spiegel. Doch etwas in mir weigerte sich, danach zu greifen.

       Es wird dir nicht gefallen, was du siehst. Ganz bestimmt nicht.

      Eine Stimme hallte in meinem Kopf. Tonlos und doch unangenehm laut. Auch wenn ich mir einredete, dass es meine Gedanken waren, meine gedachte innere Stimme, hatte ich das Gefühl, dass ich diese Worte empfangen hatte, als stünde jemand mit einem Funkgerät vor dem Haus und stellte eine Direktverbindung mit meinem Gehirn her. Wer immer es auch war – ich mochte ihn nicht. Ich hasste ihn.

      Als wollte ich beweisen, dass diese ungebetene Stimme Unrecht hatte, griff ich nach dem Spiegel und hielt ihn vor mein Gesicht. Hellblaue Ringe um kleine Pupillen, die von einem Netz aus roten Adern umsponnen waren. Dunkle Streifen unter den Augenhöhlen. Eine wuchtige Nase, über die ein Kratzer bis zur Spitze lief. Blutleere Lippen, die den Eindruck von Unsicherheit ausstrahlten. Blonde Strähnen über der Stirn, auf der sich rechts eine hellblaue Beule abhob. Dunkle Bartstoppel an den Wangen, wobei rechts der Bartwuchs von einer hellroten Narbe unterbrochen war. Ich vermutete, dass es sich dabei um eine Brandverletzung handeln musste.

      Es fühlte sich seltsam an. Wieder und wieder musste ich mir klar machen, dass diese Augen, diese Nase, diese schulterlangen Haare und diese Narbe mir gehörten. Dass dieser Mann ich war. Ich. Und nicht jemand, den ich gerade eben kennengelernt hatte. Ich fand mich weder schön noch hässlich. Mein Aussehen war mir schlicht egal. Es löste auch keinerlei Erinnerung in mir aus, wer ich war, wie ich hieß oder etwas, das mir in welcher Weise auch immer weiterhalf. Aber es löste ein Gefühl aus. Tief in mir. Hass. Wie die Stimme in meinem Kopf hasste ich auch dieses Gesicht.

      Eine Bewegung. Ein Schatten. Auf dem Teppich im Zimmer. Durch den Spalt zwischen Badezimmertür und Wand deutlich zu erkennen. Ich stieg zur Seite und riss die Tür auf. Ein Stich im Oberschenkel erinnerte mich an meine Verletzung, doch ich verdrängte den Schmerz und starrte auf die Eingangstür, den Campingtisch, das Bett.

      Nichts.

      Ich drehte den Knauf der Zimmertür. Abgeschlossen. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass der Schatten sich völlig lautlos bewegt und auch keine Zeit gehabt hatte, Türen zu öffnen, zu schließen und abzusperren. Abgesehen davon hätte ich etwas hören müssen. Schritte, einen Schlüssel im Schloss, das Klacken der Tür. Aber da war nichts. Hatte ich mich geirrt? Nein. Dieser Schatten war Tatsache. Wie ein Geist war er an der Badezimmertür vorbeigehuscht.

      Und da war noch mehr. Eine Melodie. In meinem Kopf. Mit dem Klang einer alten Spieldose. Ich kannte diese Töne. Aber ich hatte keinen Bezug zu einem Titel oder einer dazupassenden Szene. Ich konnte die Melodie summen, aber ich wusste nicht, wo ich sie gehört hatte. Ich wusste nur, dass sie ein Teil meiner verloren gegangenen Erinnerung war und als hätte ich Angst, sie wieder zu vergessen, fing ich an, sie zu pfeifen. Wiederholte sie, bis meine Lippen völlig ausgetrocknet waren und der Durst sich wieder in mein Bewusstsein drängte. Ich holte das Glas vom Nachtkästchen, wusch es sorgfältig aus und füllte es mit Wasser. Dann trank ich, als wäre es flüssiges Leben, das durch meine Kehle in den Körper floss. Ich konnte nicht aufhören. Wieder und wieder füllte ich das Glas, bis mein Blick auf die Jacke fiel. Vielmehr auf die Brieftasche, die in der Innenseite steckte. Ich stellte das Glas hastig auf den Waschbeckenrand und griff nach dem Portemonnaie.

      Das schwarze, abgegriffene Leder fühlte sich vertraut an. Im Geldfach steckten ein Fünfziger, zwei Zwanziger und ein paar Fünf- und Eindollarnoten. Das Fotofach war leer. Daneben entdeckte ich, wonach ich gesucht hatte. New York State - Enhanced Drivers Licence. Auf dem Bild war jener Mann abgebildet, der mich noch vor Minuten aus dem Spiegel angestarrt hatte. Er hieß Jack Reynolds. Ich hieß Jack Reynolds. Mein Herz klopfte, als hätte ich soeben eine Art von göttlicher Erscheinung gehabt. Ich hielt meine Identität in Händen. Mein Geburtstag. Der 18. September 1979. Ich überlegte, wie alt ich demnach sein musste, scheiterte aber daran, dass ich nicht wusste, in welchem Jahr ich mich befand. Meine Adresse. 538 Grand Street, New York City. Ich hatte eine Wohnung. Oder ein Haus? Egal. Was immer sich an dieser Adresse befinden würde – dort würde ich mehr über mich erfahren.

      Ich steckte den Führerschein in die Geldtasche zurück. Im Schlitz darunter steckte eine Kreditkarte. Mastercard. Demnach musste ich auch einen Job haben, ein Konto, Geld. Mehr als diese hundert Dollar.

      Ich zog die Jacke über und griff nach dem Türknauf, erinnerte mich aber im gleichen Moment daran, dass die Tür abgeschlossen war. Der Schlüssel. Wo befand sich dieser verfluchte Schlüssel?

      Hosen- und Jackentaschen waren leer. Ich humpelte zum Nachtkästchen. Nichts, ausgenommen dem Radio und der Bibel in der Schublade. Auch im Kästchen am anderen Bettrand befand sich kein Schlüssel. Ich suchte am Boden, im Badezimmer, deckte das Bett ab, hob die Matratzen vom Lattenrost. Nichts. In diesem Zimmer befand sich kein Schlüssel.

      »Scheiße«, murmelte ich und erschrak. Meine Stimme. Sie klang vertraut. Dennoch hatte ich das Gefühl, sie soeben das erste Mal gehört zu haben. Ich wiederholte das Wort wieder und wieder. Heiser und rau, tief und brummig hallte es in dem Zimmer dumpf nach. Wieder überkam mich dieses aufwühlende Gefühl. Ich hasste es, mich reden zu hören. So, wie ich mein Gesicht hasste.

      Die Tür sah nicht besonders stabil aus. Es wäre ein Leichtes gewesen, das Schloss aus der Verankerung zu treten – doch nur, wenn ich an der Außenseite gestanden wäre. Hier im Zimmer blieb nur der Weg durch das Fenster.

      Ich schob den Vorhang zur Seite. Der Hebel war abmontiert worden. Ich fand keine Möglichkeit, das Fenster zu öffnen. Zumindest nicht, ohne es zu zerstören.

      Die Scheibe zerbrach beim ersten Versuch und fiel in groben Splittern nach außen – gefolgt vom Camping-Tisch. Ich wickelte den Vorhang um meine Hand, boxte die Reste der Scheibe durch den Rahmen und schob den Stuhl unter das Fenster. Der Oberschenkel brannte, als ich auf die Sitzfläche stieg und das Bein auf das Fensterbrett stellte. Eiter rann aus der Wunde, die bei Tageslicht aussah, als hätten tatsächlich Ratten daran genagt. Sie war kreisrund, etwa zwei Zentimeter im Durchmesser, und erinnerte an einen Meteoritenkrater auf dem Mond. Gelbroter Schleim füllte sie aus, wobei die Haut am Kraterrand eine blaue Färbung aufwies.

      Der Plan, aus dem Fenster zu springen, änderte sich spontan, da die Schmerzen zu groß waren. Ich setzte mich daher auf das Fensterbrett, schwenkte zuerst das gesunde Bein aus dem Raum und hob das andere vorsichtig nach. Nach einem kurzen, schmerzhaften Sprung stand ich auf der Veranda vor einem rostroten Chevrolet. Ich humpelte zur Fahrertür und zog an der Türschnalle. Abgeschlossen. Auf dem Fahrersitz lag ein beschriebenes Blatt Papier. Die krakelige Handschrift war schwer lesbar, aber letztlich konnte ich die Buchstaben entziffern.

       Schlüssel sind bei der Rezeption abzuholen. R.

      Rezeption? Ich blickte mich um. Eine Schotterstraße zog sich in einer leichten Rechtskurve zu einem asphaltierten Parkplatz, gesäumt von etwa zwanzig einfachen, baugleichen Holzhütten mit Flachdach, jede in einem aufdringlichen Rot gestrichen. An den Türen prangten schwarze Zahlen. Auf dem Parkplatz, neben einer Bundesstraße, die schnurgerade an dem Motel vorbei zog, stand eine Baracke, grün gestrichen, mit einem großen, roten R an der Tür. Vermutlich handelte es sich dabei um die Rezeption.

      Das Motel war spärlich belegt. Nur vier Wagen, inklusive meinem, standen auf den geschotterten Parkflächen vor den Hütten. Die Vorhänge waren zugezogen und auch sonst war außer dem Knirschen der Kieselsteine unter meinen Schuhsohlen nichts zu hören. Doch je näher ich zur Rezeption kam, um so lauter wurde ein rhythmisches Dröhnen, das sich letztlich als Radiomusik herausstellte. Ich drückte die Holztür nach innen und trat ein.

      Die Rezeption war eine Kammer. Bretter und Pfosten lagerten seitlich der Eingangstür. Offenbar Reparaturmaterial für die Hütten, da auch drei Farbeimer daneben standen, an deren Rändern das aufdringliche Rot der Hütten in eingetrockneten Tränen zu erkennen war. Ein Schrank bildete das hintere Ende des Raumes. Davor befand sich ein kleiner Schreibtisch, auf dem zwischen einem Chaos von Magazinen und Papieren ein Computermonitor und ein Radio standen. Hinter dem Schreibtisch saß ein Mann mit kräftiger Statur und offensichtlich mexikanischer Herkunft. Er kaute mit offenem Mund und starrte gebannt

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