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Todesrot. Jannik Winter
Читать онлайн.Название Todesrot
Год выпуска 0
isbn 9783742724380
Автор произведения Jannik Winter
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Dabei war die Fabrik überhaupt nicht des Vaters Verdienst, der Großvater hatte den Grundstein gelegt. Oft hatte der von den Mühen berichtet, das Unternehmen wieder aufzubauen. Die Großmutter Theresa wusste es besser.
»Es war ein unabwendbarer Erfolg durch die damalige Versorgungslage. In den Jahren nach dem Krieg kauften die Leute alle Produkte. Sie wurden den Herstellern aus den Händen gerissen. Jeder, der über Startkapital und eine zerbombte Ruine verfügte, war König. Wettbewerb gab es nicht. Rauchende Schornsteine, Wasserdampf, Hammerschläge, Arbeiter zu Fuß oder mit den Fahrrädern, das reichte. Dein Vater konnte auf den Erfolgen aufbauen.«
Der Prozess seines Erwachens fand exakt in dem Augenblick dieser bildlichen Schilderung statt. Daraus wurde eine unbestimmte Neugier. ›Ich muss Details über ihn und die Frauen hier im Haus herausfinden. Ihr Verhältnis untereinander? Da geht etwas Wichtiges vor. Warum verschwindet Mutter nach dem Mittagessen regelmäßig im Lesezimmer?‹
Der Raum hieß so, weil ein Glasschrank voller Bücher eine Wand komplett ausfüllte. Aber sie las selten in einem der verstaubten Bände, sie malte. Anfangs hatte er fasziniert hinter ihr gestanden, doch dann musste er unbeweglich auf dem Stuhl hocken.
»Du sollst zuschauen. Fragen stören mich, auch dein Herumlaufen.«
Mit Farben aus mehr als zwanzig Töpfen entstanden Landschaften. Immer waren es Berge, Wälder und Seen. Auf den Bergspitzen lag oft ein Rest weißen Schnees, den der See widerspiegelte. Für ihn wurde die Mutter damit zur Künstlerin. Anfangs! In vielen öden Stunden sah er ihr bei der Tätigkeit zu.
»Unterlässt du bitte dein unanständiges Gähnen!«
Das einzig Interessante waren die unerklärlichen Geräusche im Hintergrund. Aber er durfte den Raum nicht verlassen, musste still auf dem Stuhl sitzen.
»Es ist für dich lehrreich zuzusehen.«
Dabei lächelte sie nicht ihn, sondern das halb fertige Gemälde vor sich an. Beim dritten Bild wurde er es leid.
»Immer nur Berge und Seen, wo bleiben denn die vielen Menschen, die es auf der Welt gibt?«
»Die Menschen? Weißt du, die sind unnütz auf der Erde. Sie stören die Natur.«
Aha, dachte er, noch eine Sache, die er sich merken sollte. Aber was die Mutter auf die Leinwand brachte, war nicht richtig.
»Ich werde auch malen! Dann nur Menschen.«
»Du bleibst sitzen und lernst von mir!«
Die langweilige Malstunde wurde zur Pflicht und zum Ritual. Seit einigen Monaten hasste er sie. An den Fingern zählte er die Merkwürdigkeiten auf. Daumen: die Regelmäßigkeit der Malerei. Zeigefinger: die Geräusche. Mittelfinger: das Verbot, den Raum zu verlassen.
Im Alter von neun Jahren fand er die Wahrheit heraus.
Es war einer der Mittage, an dem es im Musikzimmer besonders laut zuging. Die Mutter hielt den Pinsel unbeweglich in der Hand, hatte die Augen fest zugekniffen. Unbemerkt öffnete er die Tür und spähte in den Flur. Durch den Spalt konnte er es beobachten. Maria lag auf dem Bechstein-Flügel und hatte ihre nackten Beine hoch zur Decke gestreckt. Der Vater stand mit heruntergelassener Hose vor ihr und vollführte rhythmische Bewegungen. Das Keuchen beider war als verräterischer Laut im ganzen Haus zu vernehmen. Zum Takt seiner Zuckungen lieferten die Stahlsaiten des Flügels eine disharmonische Begleitmusik.
Damals kannte er weder das Wort noch die Tätigkeit, die so etwas hervorrief. Doch es musste wichtig sein, wenn die Mutter dabei ihre Augen so fest zudrückte.
In der nächsten Mittagspause startete er das Ritual, sich in Schränke zu verstecken, um möglichst viel zu erfahren. Es ging nicht um die sexuelle Komponente, die kam erst später. Ihn interessierte, wie der Vater es anstellte, Maria freiwillig diese üblen Sachen auf sich nehmen zu lassen. Eindeutig stieß sie ja heftige Schmerzlaute aus. Heute steht es für ihn glasklar fest, dass es der Keim eines Verlangens war, Dominanz ausüben zu können. Mit offenem Mund hatte er die Szenen beobachtet und den Vater bewundert. Damals wusste er nichts von Geilheit, stufte ihre Schreie als Winseln nach Gnade ein.
›Das ist Macht. Er darf das, er hat das Recht, mit ihr so umzugehen!‹ Von dieser Erkenntnis waren der Gaumen trocken und die Hände feucht geworden.
Später vermutete er, dass der Vater von seiner Anwesenheit im Schrank wusste und als Lehrstück durchgehen ließ.
Was er beobachtet hatte, schien ein wichtiger Vorgang zu sein. Es erzeugte Töne des Schmerzes und wurde von Musik begleitet. Das war Macht und Kunst zugleich! Es fühlte sich besser an als die öden Landschaften der Mutter.
›Das sollte ich malen und nicht die langweiligen Berge!‹
Ein letztes Zögern.
»Ich muss das machen!« Mit dem Satz nahm er das halb fertige Gemälde der Mutter von der Staffelei und ersetzte es durch eine jungfräuliche Leinwand. Sein Blick glitt über die zahlreichen Farbtöpfe. Was hatte er genau gesehen? Schwarz! Der Flügel war pechschwarz, damit konnte er anfangen. Maria? Ihre Haut war hell mit einem leichten Stich ins Orange. Die Farbe gab es nicht und das Rot sah auf dem weißen Hintergrund sicher besser aus.
Es wurde sein erstes Aktgemälde. Marias Mund war zum Schrei schwarz geöffnet. Die Beine hatte sie weit auseinander und zur Decke gestreckt. An das kleine Dreieck dazwischen erinnerte er sich undeutlich. Rot und Schwarz auf weißer Fläche, das war für ein Kunstwerk ausreichend!
Das Donnerwetter kam in der nächsten Mittagspause. Er fand es enttäuschend, dass sie kein Wort über die Schönheit des Gemäldes verlor. Die sprach sie überhaupt nicht an. Nur der Begriff »Verschandelung« stand im Raum, wobei es um die teure Leinwand ging. Er behielt seine Meinung für sich und degradierte die Landschaften der Mutter zum Kitsch. Er war der eigentliche Künstler in der Familie! Farben, Emotionen, Gewalt und Schreie, alles war auf dem Bild zusammengefasst. Nun hatte es die Mülltonne aufgenommen.
Die Tür zum Lesezimmer fand er am nächsten Tag verschlossen. Sie sah es als Strafe, er als Belohnung. Die Teilnahme am öden Ritual der Landschaftsmalerei fiel auch aus. So bildete er sich schon in frühester Jugend eine gefestigte Meinung über Kunst. Der Kitsch, den sie malte, war gut für die Tonne.
Die Zeit für mein Werk wird kommen. Den Vater will ich nicht malen, nur Frauen. Jede ist nur für ein einziges Bild gut, dachte er. Betrachten, bewundern und Erregung spüren, das war das Ziel. Danach war ihr Glanz erloschen. Ihr Platz war dort, wo das Aktgemälde das Ende gefunden hatte. Maria schied damit aus, sie lag ja bereits im Abfall.
»Ein wunderschönes Mädchen. Es muss mir gehören! Auf dem schwarzen Klavier, roter Körper, Arme, Beine, Angst! Das ist Kunst.«
Wie brachte man sie zum Schreien? Was war nötig, so etwas mit ihr machen zu dürfen? Mit den Gedanken war er damals bei den entscheidenden Fragen angelangt. Erstens, wie bekommt ein Mann das hin? Zweitens, brauchte er dazu besondere Eigenschaften? Was ist der Schlüssel?
Zur Klärung wollte er die Menschen genauer beobachten. Er musste herausfinden, warum sie sich so verhielten. Es wurde eine spannende Sache, die sein Leben interessant gestaltete. Es dauerte einige Jahre, bis er etwas über die Beziehungen im Haushalt herausgefunden hatte.
Im Alter von vierzehn wurde ihm bewusst, mit welchen Methoden der Vater diese Form der Abhängigkeit geschaffen hatte. Nicht nur Marias Mann, auch ihr Bruder arbeiteten in der Fabrik und ihre beiden Söhne machten eine Ausbildung in der Werkstatt. Maria war somit für das Wohl der gesamten Familie einschließlich der Verwandtschaft in Geiselhaft gehalten. Das war der Zeitpunkt, an dem ihm die Genialität seines Vaters bewusst wurde.
Es war auch die Zeit, in der er morgens mit einem Steifen im Bett aufwachte. Dabei hatte er Marias hochgedrückte Beine auf dem Piano vor Augen. Dazwischen sah er sich liegen.
Zu dem Wunsch nach Dominanz über