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Todesrot. Jannik Winter
Читать онлайн.Название Todesrot
Год выпуска 0
isbn 9783742724380
Автор произведения Jannik Winter
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Die Hände wäscht er im Fluss, bedächtig wie bei einer Zeremonie. Dabei lächelt er. »Rot, die einzige wahre Farbe.«
Er bückt sich, muss noch näher heran. Nahaufnahmen: erstarrte rote Bahnen von der Stirn bis in weit aufgerissene Augen. »Klick, Klick!« Die Kuppe seines Zeigefingers fährt über ihre vollen Lippen. »Die wirken dunkler als das Blut. So mag ich die Variationen von Rot. Ein geniales Bild. Und der Regisseur bin ich, ich alleine.«
Wie in der Perspektive großer Hollywoodproduktionen wandert sein Blick über die Szene. ›Meine zweite Inszenierung und es war kein Zufall, wie beim ersten Mal. Diesmal habe ich sie mir ausgesucht. Gestellt? Gekünstelt? Hmm, ihr Ausdruck? Nein, das ist authentisch. Dieses Erschrecken wird eine Schauspielerin niemals hinbekommen. Nur ein Genie wie ich vermag so ein Werk zu gestalten. Leise summt er die Melodie des Kinderliedes, das für den Akt des Dramas angemessen erscheint: »War so jung und morgenschön!« Den Vers hat sie verdient.
»Morgenschön, abendschön, niemehrschön.
Mit Worten kann auch gemalt werden.«
Küssen verboten! Ihren Mund muss er öffnen, bevor die einsetzende Leichenstarre das verhindert. Diese intime Handlung befriedigt in ähnlicher Weise wie ein Kuss. Vorsichtig schiebt er die Blüte hinein. Sie verschafft in Verbindung mit weißen Zähnen den makellosen Kontrast. Auf Details in der Kombination von Farben legt er Wert. Der Abschluss der Szene ist erreicht. Er ruft dem imaginären Filmteam zu: »Klappe die Erste: Röslein rot!«
»Klick, klick, klick!«
Auf dem Display erscheint das Bild, von dem er als Kind geträumt hatte. »Rot, meine Bestimmung.«
Soll er sich neben sie legen? Ein stiller Abschied?
Sein Blick gleitet zur Flussmitte.
»Strudel, Bewegung, niemals Stillstand.
Sie warten auf mich, es muss weitergehen!«
Drastisch
Hundert Augenpaare, erwartungsvoll auf mich gerichtet, pendeln noch zu stark. Stehe unbeweglich, brauche ihre Konzentration. Ein verhaltenes Husten in der hinteren Reihe wird durch ›Psst‹ aus drei Richtungen zum Schweigen gebracht.
Die Zuhörer stammen nur zum Teil aus unserem Fachbereich. Der Hörsaal platzt von Gasthörern aus den Nähten. Für ältere Semester ist es zum Kult geworden. Sie blicken in immer blasser werdende Gesichter der Schüler und Erstsemester.
»Sozial ist gut! Bravo, Sie haben die richtige Einstellung. Human, ethisch, tugendreich, moralisch! Vergessen Sie bitte den ganzen Quatsch. Auf Sie wird harte und unangenehme Arbeit zukommen. Ich darf verraten, mit wem Sie es zu tun haben. Es sind HIV-infizierte Junkies und entwurzelte Jugendbanden ohne Perspektiven. Vom Vater missbrauchten Mädchen müssen Sie die Idee ausreden, durch Prostitution Geld verdienen zu wollen. Aggressive Borderliner schleichen Ihnen nach und verprügeln Ihre Freunde.«
Um die Wirkung meiner Worte zu unterstreichen, sehe ich den Zuhörern direkt in ihre Augen.
»Bereits im Praktikum werden Sie das erste Drogenopfer kennenlernen. Hier haben wir den dreiundzwanzigjährigen Denis W. Er hat sich vor einer Stunde auf der Toilette des Heilpädagogischen Jugendheims den letzten Schuss gesetzt. Das fand in Ihrem Zentrum statt und Sie waren für seine Betreuung verantwortlich.«
Jetzt kommt der Moment, in dem einige Zuhörer leicht torkelnd den Saal verlassen werden. Meine Assistenten und ältere Studenten stehen am Ausgang bereit und behalten sie im Auge. Ein Kreislaufkollaps durch Schock ist nicht zu verharmlosen. Die Nahaufnahme zeigt den mit heruntergelassener Hose auf der Toilette sitzenden Denis. Einige Zuhörer im Saal halten sich ihre Hände vor das Gesicht.
Wie schlafend an die Wand gelehnt, die Nadel noch im Arm, scheint er auf den Betrachter zu warten. Aus dem Mund rinnt ein langer Faden Erbrochenes, dessen Spur sich auf dem Knie fortsetzt. Schwarze Augenbalken zur Anonymisierung des Toten verstärken den Eindruck des Bildes.
»Ihre Aufgabe ist es, ihn anzusprechen, um herauszufinden, ob er noch Reaktionen zeigt. Danach müssen Sie Atmung und Puls kontrollieren. Sie rufen die 112 und werden bis zum Eintreffen der Rettungssanitäter reanimierende Maßnahmen durchführen. Dazu sollten Sie vorsichtig die Spritze herausziehen. Sie legen Denis auf den Boden der Toilette und ziehen seine Hose hoch. Es ist keine angenehme Aufgabe mit den Fingern das Erbrochene aus dem Mundraum zu entfernen. Dreißig Kompressionen des Brustkorbs, danach zwei Atemstöße durch Mund-zu-Mund. Bei Verdacht auf HIV dürfen Sie auf Letzteres verzichten. Die Herzmassage setzen Sie bis zum Eintreffen der Sanitäter kontinuierlich fort. Das waren in diesem Fall fünfundsechzig Minuten.«
Ich erkenne schreckgeweitete Augen, offene Münder und Gesichter, die sich abwenden.
»Die Sozialarbeiterin konnte die lebensrettenden Maßnahmen nicht durchführen. Sie hatte geschockt und weinend neben Denis gehockt. Erst ein Mitbewohner entdeckte beide nach fast einer Stunde und wählte den Notruf. Die Zeit für einen sinnvollen Einsatz des Defibrillators war längst abgelaufen. Es blieb nur, die Polizei zu rufen. Die Mitarbeiterin wurde für ein Jahr psychologisch betreut. Sie gab ihren Beruf auf und arbeitet heute nur von zuhause! Ihre emotionale Reaktion war das Ergebnis mangelnder Selbstfürsorge. Zum professionellen Abstand werde ich in einem weiteren Fall noch kommen. Um Sie auf Ihre zukünftige Tätigkeit vorzubereiten, wird das Schwerpunkt eines meiner Seminare sein.«
In diesem Stil geht es weiter. Geschlagene Frauen, ausgerastete Jugendliche, Gewalt und Terror, Drogen und Prostitution. Ein Mädchen in der zweiten Reihe wankt aus dem Hörsaal. Sie hält sich die Hand vor den Mund. Das Bild eines toten Babys konnte sie nicht ertragen. Die siebzehnjährige Mutter war im Frauenhaus untergebracht, ihr Freund dort widerrechtlich eingedrungen. Sein erster Griff galt dem Baby, das er aus dem Fenster warf. Es hätte ihrer Beziehung im Wege gestanden.
»Einige von Ihnen werden in ähnlichen Einrichtungen arbeiten. Nach einem solchen Erlebnis sind die wütend auf sich selbst. Sie bedauern, diese Berufswahl getroffen zu haben.«
In den Bankreihen erkenne ich bestürzte und aschfahle Gesichter. Hände verkrampfen sich unter Tischen. Es ist nötig! Wer sich nach meinem ›Sozialschnuppertag‹ einschreibt, weiß, was auf ihn zukommt und kann es schaffen.
Einen beispielhaften Fall hebe ich bis zum Schluss auf.
»Es gibt auch Positives zu berichten. Das sind Heike und Paul. Paul ist Streetworker in Berlin und hat Heike aus der Prostitution befreien können. Vor drei Monaten haben sie geheiratet. Das gesamte Sozialzentrum war eingeladen. Sie haben Reis geworfen und geklatscht. Die beiden galten als das glücklichste Paar der Stadt.«
Ah- und Oh-Rufe sowie Beifall, als ich ein vom Fotografen aufgenommenes Hochzeitsfoto zeige. Im weißen Kleid mit langer Schleppe küsst sie ihn verliebt auf den Mund. Die Wirkung ist angekommen.
»Das ist Heike vier Wochen später. Paul hatte erfahren, dass sie nicht nur acht Freier, sondern auch ihn mit HIV und Hepatitis C infiziert haben musste. Heike hatte die Infektionen verdrängt und verheimlicht. Im Wutanfall schlug Paul ihr mit einem schweren Aschenbecher heftig auf den Kopf und in das Gesicht. An den Folgen ist sie am selben Tag verstorben.«
Etliche Zuhörer schreien und weinen, Pärchen halten sich in den Armen.
»Paul, ein engagierter Sozialarbeiter und Streetworker, war für einige Minuten ausgerastet. Dafür sitzt er drei Jahre lang wegen Totschlags im Affekt in der JVA. Job und Zukunft hat er verloren. Natürlich könnte argumentiert werden: ›Sie haben sich doch geliebt!‹ Nochmals möchte ich an die Stichworte Selbstfürsorge und Abstand erinnern. Beziehungen zu Schützlingen halte ich für einen beruflichen Regelverstoß. Die Statistiken sind eindeutig, neunzig Prozent enden tragisch! Sehe ich in Ihre Gesichter, erkenne ich, dass Sie es klüger anstellen. Sie sind stark und schaffen das. Ab morgen beginnen die Einschreibungen. Treffen Sie die richtige Entscheidung! Ich freue mich darauf, einige von Ihnen wiedersehen zu dürfen. Vielen Dank.«
Es bleibt ein eingespieltes Szenario.