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lebt immer noch in einer geschützten Umgebung. In seiner Familie herrscht kein Mangel. Die Unterstützung für alleinerziehende Mütter wird stets reduziert. Noch haben diese Familien genug zum Essen, aber sonst können sich die Frauen nichts leisten.

      Bei Josef läuft das Geschäft mit den Uhren gut. Noch gibt es einen grossen Nachholbedarf. In vielen Betrieben sind die guten Zeiten vorbei. Es kommt zu Entlassungen. Der passive Widerstand gegen die Franzosen ist seit 1923 offiziell beendet, doch er drückt nach wie vor auf die Produktivität und hat zur Folge, dass man international nicht konkurrenzfähig ist. Die direkte Auswirkung ist, dass es einen Überschuss an Arbeitern gibt und das drückt auf die Löhne. Natürlich sind es nicht die Arbeiter, welche bei Josef Uhren kaufen, aber trotzdem, die Käufer werden weniger, die Mittelklasse wird vorsichtiger.

      Sogar bei den Beamten wird gespart. Die letzten Lohnerhöhungen vielen spärlich oder ganz aus. Noch kann sich Franz nicht beklagen, seine Stellung im Stadthaus ist nicht umstritten. Ohne den Segen von Franz geht nichts. Das gibt ihm eine geschützte Position, erzeugte aber auch viele Neider.

      Im Vergleich zu 1923, zur Zeit der Hyperinflation, waren die Zeiten natürlich noch viel schlechter, nur, die Erleichterung welche eine stabile Währung kurzzeitig brachte, wird nun von der Realität eingeholt. Der Staat kann der Wirtschaft keine Impulse mehr verleihen, er kann nicht mehr Geld drucken wie er will. Franz muss dem Stadtrat ein ausgeglichenes Budget vorlegen, also kommt es zwangsläufig zu Streichung von Projekten und zu Kürzungen. Langsam wirken sich die Sparübungen auf viele Bereiche aus. Lehrer erhalten keine Lohnerhöhung mehr. Die Grösse der Schulklassen nimmt zu, so kann man auf einige Lehrkräfte ganz verzichten. Generell nimmt der Druck auf jeder Stufe zu.

      Bei Franz wirkt sich der Kaufkraftverlust nicht gravierend aus, er hat noch Reserven und könnte notfalls noch Aktien verkaufen, aber das versucht er um jeden Preis zu verhindern. Lieber verzichtet er im Schachklub auf ein Bier. Rosa wurde das Haushaltsgeld ebenfalls gekürzt. Sie kocht jetzt mehr Gemüse aus dem eigenen Garten und hinter dem Gartenhaus hat Franz einen Kaninchenstall aufgestellt, so gibt es jeden Monat einen günstigen Sonntagsbraten. Futter für die Kaninchen gibt der Garten genug her.

      Im Sommer schliessen die beiden Jungen das zweite Jahr am Gymnasium mit ausgezeichnet ab. Aus diesem Grund lädt Rosa die Goldbergs zu einem Essen ein. Die Auswahl des Menus stellt sie vor Probleme. Sie informiert sich und entschied sich, ein Kaninchen zu schlachten. Zusammen mit feinem Gemüse aus dem eigenen Garten, sollte es auch für Juden essbar sein.

      Während die Männer im Garten eine Zigarre rauchen, hilft Maria in der Küche. So können die Frauen sich ungestört über Frauenthemen unterhalten.

      «Wollt ihr eigentlich noch Kinder?», fragt Rosa.

      «Nein, dem Josef hat der Tod seiner ersten Frau so zugesetzt, dass er das Risiko nicht mehr eingehen will.»

      «Das kann ich gut verstehen, ich hatte ebenfalls eine schwere Geburt, deshalb haben wir uns entschieden, dass wir es mit Wilhelm belassen.»

      «Ja, in diesen schweren Zeiten ist es eine grosse Verantwortung, Kinder in diese Welt zu setzen. Aber in jüdischen Familien sind doch viele Kinder die Regel.»

      «Schon, aber da kommt mir entgegen, dass ich eine Konvertierte bin. Mir ist es recht so, ich war schon zu alt, als ich Josef kennen lernte und vorher hatte ich ja meine Schüler.»

      «Vermisst du die Kleinen nicht?»

      «Kein bisschen! Die Rolle als Geschäftsfrau sagt mir besser zu».

      «Kann ich mir gut vorstellen, ich muss mich jetzt, wo der Wilhelm meistens weg ist, um den Hund und die Kaninchen kümmern. Auch im Garten gibt es viel zu tun. Das füllt mich aus. Mehr brauche ich nicht.»

      Kaninchen ist ein gutes Stichwort, es ist Zeit den Braten aus dem Ofen zunehmen.

      «Kannst du die Männer und die Jungs rufen», gibt Rosa den Befehl, «die Jungs sollen sich die Hände waschen, ich will nicht, dass sie nach Hund riechen.»

      Maria geht nach draussen und gibt den Befehl weiter. Das mit dem Händewaschen hält sie für überflüssig, schliesslich sind die beiden Jungs alt genug und müssen nicht mehr bemuttert werde. Das Händewaschen ist für sie selbstverständlich.

      Am späteren Nachmittag verabschieden sich die Goldbergs. Rosa hat es geschafft. Ihr Franz ist mit ihr zufrieden, sie war eine gute Gastgeberin.

      «Erstaunlich», stellt Franz fest, «mit Sepp kann man wie mit einem deutschen reden, er weiss recht gut Bescheid, was in der Welt läuft.»

      Im September bereitet sich das Quartier auf das Quartierfest, die Kerb vor. Die Kerb ist jedes Jahr der Höhepunkt im Quartierleben. Jeder Verein leistet seinen Beitrag. Die Gymnasiasten des Quartiers haben entschieden, ein kurzes Theaterstück aufzuführen. Wilhelm muss auf Drängen des Vaters mitspielen. Der Druck von Seiten des Vaters wäre nicht nötig, jeder im Quartier weiss, was man von ihm erwartet.

      Am ersten Treffen der Gymnasiasten sind zehn Jungen und lediglich vier Mädels anwesend. Ein Lehrer hat die Leitung übernommen und schlägt drei Stücke vor. Entscheidenden Einfluss auf die Auswahl haben die vier Mädels. Sie entscheiden sich geschlossen für einen Liebesschwank. Die vier teilten sich die Rollen unter sich auf, erstaunlicherweise konnten sie sich schnell einigen. Nur zwischen zwei Rollen brauchte es einen Losentscheid. Als die weiblichen Rollen vergeben sind, dürfen die Mädels ihren Liebhaber aussuchen.

      Für die Jungs ist das natürlich sehr spannend. Mit Herzklopfen verfolgten sie die Prozedur. Die Gabi entscheidet sich für Willi als ihr Partner. Gabi hat die Rolle der Rivalin im Stück, ist also nicht die Hauptperson. Willi ist am Ende des Stücks, so quasi der Trostpreis. Ihm ist das Recht, so hat er nur kurze Auftritte und muss entsprechen weniger lernen.

      Dass die Gabi Müller ihn ausgesucht hatte, war für ihn eine positive Überraschung. Die Gabi gefällt ihm schon lange, nur getraut er sich nicht, sie anzusprechen. Er freut sich schon die ganze Woche immer auf Mittwochabend, wenn sie zusammen proben. Noch wird der Text nur gelesen. Die letzte Zeile macht Willi jedes Mal nervös, die beiden küssen sich! steht da.

      Nach einigen Probewochen beginnt man, die Handlung auf einer kleinen Bühne zu proben. Die Kussszene wird meistens nur angedeutet, aber einige Male berührte Gabi seinen Arm. Jedes Mal lief Willi ein Schauer durch seinen Körper.

      Gabi ist die Tochter eines Bahnarbeiters. Zur Zeit des Bahnstreiks hatte sie es nicht leicht. Das Geld reichte zu nichts. Gabi musste immer im gleichen Rock zur Schule gehen und Fleisch gab es nur am Sonntag und manchmal noch am Montag, wenn es am Sonntag Reste gab. Sie ist aber nicht die einzige. Auch wenn ihr Rock nicht der neusten Mode entsprach, findet Willi dass sie sehr gut aussah.

      Im Lauf der Proben lernten sie sich immer besser kennen. Mittlerweile kann er mit ihr reden wie mit einem Kollegen ohne gleich rot anzulaufen. Sie scheint Willi zu mögen, was ihm zusätzlich Bammel für die bevorstehende Kussszene einbrockte.

      «So», erklärte der Lehrer, «ab heute spielen wir richtig, wie bei der Aufführung.»

      «Was war den das?», fragte der Lehrer, «das soll ein Kuss sein? Bitte nochmals, aber mit etwas mehr Gefühl!»

      Willi wurde ganz rot im Gesicht, zum Glück ist das Licht etwas duster. Beim zweiten Versuch übernimmt Gabi die Initiative und zieht Willi zärtlich, aber bestimmt an sich. Er fühlte wie ihre Brust gegen seine drückte, ein unglaublich glücklicher Moment. Nun löste sich auch bei ihm die Anspannung und er wird etwas lockerer.

      Die Theatervorstellung wird ein Erfolg. Nachdem der Vorhang geschlossen wurde, schaut er Gabi glücklich in die Augen, sie strahlt. Nur langsam lösen sie ihre Umarmung.

      «Darf ich dich zur Kerb begleiten», fragt Willi mit klopfendem Herzen.

      Ohne zu antworten nimmt sie ihn beim Arm und führt ihn nach draussen. Sie schlendern gemeinsam durch die vielen Besucher der Kerb. Er spendierte ihr ein Lebkuchenherz, zu mehr reichte sein Taschengeld nicht, denn er spart seit Wochen für ein Fahrrad, das er kaufen will.

      Gegen zehn Uhr muss Gabi nach Hause, sonst kriegt sie Ärger mit ihren Eltern.

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