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nicht aufgefallen war. Die Zäune, Häuser und Bäume glitten gleichmäßig an seinem Auge vorbei, aber er realisierte erst jetzt, dass sie fuhren. Er stellte sich vor, wie er eine Leine in der Hand hielt, an der sein Leben hing. Er versuchte, sie immer wieder loszulassen, doch es gelang ihm nicht. Er hatte Angst, was er alles loslassen würde und was bliebe.

      Er erwachte wieder, als ihm die Sonne ins Gesicht schien und eine Schaffnerin ihm auf die Schulter tippte. Er holte seine Fahrkarte hervor und zeigte sie. Der Platz neben ihm war leer. Frank Landweil war verwirrt, er fragte die Kontrolleurin, wo der Herr hin sei, der neben ihm gesessen hatte. Sie lächelte und entgegnete, dass der Platz die ganze Zeit leer gewesen sei und der halbe Zug nicht belegt war.

      Die Verwirrtheit zeichnete ihre unstrukturierten Emotionen in sein Gesicht, das er der Welt hinter der Scheibe zuwandte. Was geschah gerade mit seinem Leben? Er stand auf und lief in das Zugabteil, in dem das Bordbistro war. Für einen unverschämt hohen Preis kaufte er einen Kaffee und ein Croissant. Er hatte auch hier nahezu freie Platzwahl und setzte sich wieder ans Fenster. Landweil versuchte, an der Umgebung zu erkennen, wo er war. Seit geraumer Zeit hatte es schon keine Durchsagen mehr gegeben, wann und wo der nächste Halt kommen würde oder wann sie Bern erreichten. Gerade als er die Zugbegleiterin fragen wollte, wo sie sich befanden, störten zwei sich laut unterhaltende Männer sein Vorhaben. Als sie ihn erblickten rief einer rüber: „Scheiße, Franky bist du das?!“

      10

      Eine Welt voller abgeschirmter Menschen hatte den Zug gut zur Hälfte bevölkert. Abgeschirmt, weil so gut wie jeder Stöpsel, meist weiß, im Ohr hatte. Die Altersunterschiede der Reisenden waren durch die Größe der Kopfhörer ersichtlich. Je größer, desto jünger der oder die Beschallte. Randolf Metzger fand seinen Platz und konnte ganz ohne eigene Soundmaschine Musik hören. Wie eine Botschaft drang der alte Hit der Popgruppe Crowded House „You always take the weather, the weather with you!“ an sein Ohr. Als er sich eine bequeme Sitzposition suchte, überlegte er, ob dies eine Botschaft an ihn sei. Seine müden Gedanken kreisten um die letzten Jahre, Monate, dann Wochen, um schließlich bei dem gestrigen Abend zu landen. Mit dem Abstand einer fast ganzen Nacht war er richtig zufrieden, man hätte es fast Glück nennen können. Er brauchte für die tieferen Erkenntnisse immer etwas Zeit. Ereignisse, Gespräche, Menschen, die er traf oder seine eigenen Sätze, die er gesprochen hatte, wirkten meist nach - heute überwiegend positiv. An wichtigen und dann langen Abenden nicht betrunken zu sein, hatte absolute Vorteile. Der Sinn des Popsongs galt für ihn umso mehr, da er für sich feststellte, dass, egal wo er war, die Begleitumstände immer ähnlich waren. Die Situationen wiederholten sich wie das täglich grüßende Murmeltier. Sehnte er sich etwa nach dramaturgischer Abwechslung? Der junge Mann neben ihm war eingeschlafen und die Musik dröhnte weiter. Er wechselte den Platz. Außerdem liebte er Fensterplätze und jetzt konnte er ungestört nach draußen schauen. Es begeisterte ihn wie schon als kleiner Junge, die Landschaft vorbeirasen zu sehen und abwechselnd den Fokus von Nah auf Fern zu stellen. Die Naheinstellung war in Bewegung immer unscharf, die Distanz schaffte Klarheit. Ein schönes Spiel, das die Sinne schult. Er hatte noch einige Stunden Fahrt vor sich und beschloss den Augen ein wenig Ruhe zu gönnen und war direkt eingeschlafen.

      Er hörte wieder das gleichmäßige Knirschen unter seinen Sohlen und der freie Atem mit dem immer gleichen Blick nach oben. Dieser Himmel und die Ruhe bei begleitender natürlicher Geräuschkulisse ließen ihn tief und fest schlafen.

      Und als ob es Gesetz wäre, wurde er immer aus der schönsten Traumphase gerissen. „Fahrausweise bitte!“, stach es in sein Ohr. Er griff neben sich und erschrak, seine Tasche war nicht sofort zu spüren. Hatte man ihn beklaut während er schlief? Sein erster Gedanke galt nicht seiner Fahrkarte, sondern seinen beiden Lieblingsmessern, die er in einer festen Schatulle in seiner Sporttasche transportierte. Lange hatte er mit Messern herumexperimentiert und sich gegen den Hype gewährt, sündhaft teure japanische Modelle zu nutzen. Doch musste er sich irgendwann eingestehen, dass ein aus Damaststahl gefertigtes Messer den Genuss stark erhöhte, den er bei der Bereitung der Speisen empfand. Der schonende Schnitt verringert den Austritt ätherischer Öle und damit der Geschmacksstoffe und die Augen tränen nicht so sehr beim Zwiebelschneiden. Zudem hatte man meist noch ein Gesprächsthema mehr für ambitionierte Hobbyköche. Jetzt war der Zugschaffner bei ihm angekommen und blickte ihn fragend an. Er hob ratlos die Schultern und wollte gerade seiner Empörung Luft verschaffen, als er in der gegenüberliegenden Ablage seine Tasche entdeckte. Nach der Fahrscheinüberprüfung lohnte die Verlängerung seines Schönheitsschlafes nicht mehr, da er bald aussteigen musste.

      Wie lange hatte er seine eigene Wohnung nicht mehr gesehen. Er besaß keine Zimmerpflanzen und brauchte sich deshalb keine Sorgen um deren Gesundheit machen und die Post holte eine Nachbarin für ihn aus dem Kasten. Auf ihn würde niemand am Bahnhof warten, aber er vermisste das nicht besonders, auch wenn er spontan daran dachte, Deborah anzurufen, oder zumindest zu testen, ob die Nummer, die sie ihm, und der Name, den sie sich gegeben hatte, irgendeiner Wahrheit nahekamen. Metzger war mit sich im Reinen als er auf dem Weg zur Zugspitze durch das Boardbistro ging. Mann war er froh, dass er nicht alte Bekannte traf, die ihn quer durch den halben Zug mit „Scheiße, Franky alter Junge!“ oder ähnlichem Peinlichkeiten aus der guten Stimmung rissen.

      11

      Frank Landweil erschrak, als er seinen Namen hörte. „Franky“ nannten ihn nur Freunde aus seiner Schul- oder Studienzeit. Er hatte bis auf zwei, mit denen er in einem sporadischen E-Mail-Kontakt stand, keine Bekannten mehr aus diesen Lebensabschnitten. Zumindest keine, die aus seinem direkten Studienumfeld stammten. Mit gutem Grund. Die beiden Männer standen am Ende des Wagons und er erkannte nicht, wer ihn da rief. Er hätte am liebsten ein einfaches „Nein, Sie müssen mich verwechseln!“ entgegnet, aber dafür was es schon zu spät. Einer der beiden hatte sich in Bewegung gesetzt und kam auf ihn zu.

      „Na klar! Franky Hanky Landweil, das bist doch Du!“, rief der Fremde, der ihm langsam bekannter vorkam.

      „Julius Steltzer?“, fragte Landweil den großgeratenen mit einem jugendlichen, etwas peinlich aussehenden Kapuzenpullover bekleideten Mann.

      „Ja sicher, ich bin Julez. Wir waren im gleichen Leistungskurs gewesen damals. Mensch, das ist ja ewig her. Was machst du so? Warum bist du so schick unterwegs?“

      Landweil war vom gesamten Auftritt Julius Steltzers beschämt. Schlimmer noch, er war angewidert. Ein Mann Mitte 30, der sich selbst noch mit „Julez“ vorstellte und in einem Kapuzenpullover durch das Land fuhr, war für ihn das Sinnbild einer gescheiterten Persönlichkeit. Von dem Kommentar, dass er so schick sei, mal ganz abgesehen.

      „Nach dem Abitur bin ich direkt an die Universität und habe BWL und Staatswissenschaften studiert, dann wurde ich abgeworben. Ich bin jetzt beim BND. Du verstehst, dass ich Dir nicht viel mehr dazu sagen kann. Was machst du?“, fragte er und war interessiert, ob „Julez“ eher arbeitslos oder hipper Lehrer war. Als Quereinsteiger natürlich.

      „Ahh der Landweil, immer noch der alte Streber! Ich bin erstmal ein bisschen durch die Welt gereist – Thailand, Vietnam, Kambodscha, die ganze Ecke da. Wollte erstmal zu mir finden und dann schauen, was ich mache. Hab dann angefangen Komplementärmedizin zu studieren, aber wieder abgebrochen. Gerade bin ich an einem jungen Start-Up beteiligt. Wir wollen Becher aus recyclebaren Rohstoffen herstellen. Alles so auf dem ökologisch bewussten Weg, Du verstehst?“

      Landweil verstand und nickte mit dem anerkennendsten Gesicht, das er schaffte aufzulegen. Julius Steltzer verabschiedete sich dankbarerweise gleich darauf mit den üblichen Sprüchen, dass man in Kontakt bleiben sollte und lief in den nächsten Wagon. Seinen Partner ließ er unvorgestellt.

      Die Begegnung mit Julius Steltzer brachte Frank Landweil dazu, dass er sich innerlich begann zu echauffieren. Wie konnte man mit 19 Jahren sich erstmal selber finden müssen? Welche Hippie-Eltern erzählen ihren Kindern diesen Schwachsinn? Und dann Komplementärmedizin? Natürlich abgebrochen, aber das ist ja auch nicht so wichtig, wenn man sich selbst finden muss – gehört wahrscheinlich zum Prozess dazu. Ein Start-Up mit recyclebaren Bechern? Das war kein bisschen neu. In ihm baute sich eine Wut auf, dass er irgendwann

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