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mit einem seiner besseren Maßanzüge in das Nachtleben zu stürzen, schien ihm selbst in seiner manischen Verfassung unangebracht. Von der Bichlerstraße aus waren es fünfzehn Minuten zu Fuß bis zu seiner für ihn allein viel zu großen Drei-Zimmer-Altbauwohnung in der Zeughausstraße. Im Treppenhaus traf er seine Nachbarin Marie Degen. Marie war Mitte 30, Dauersingle und leicht übergewichtig, aber hübsch. Plötzlich verspürte er tief in sich den Drang, ihr ein Kompliment zu machen. „Marie warst du im Urlaub? Du siehst so erholt und jung aus!“, säuselte er ihr halb im Vorbeigehen und schließlich auf der Treppe stehend zu – Treffer versenkt. Sie strahlte im ganzen Gesicht und gab zurück, dass er immer so höflich sei und wie jemand wie er eigentlich Single sein konnte. „Die Frauen müssten sich doch reihenweise auf ihn stürzen.“ Die ehrliche Antwort darauf wäre gewesen, dass jemand wie er Single ist, weil er zu viel Spaß daran hatte an Wochenenden den immer gleichen Typ Studentinnen aufzureißen und nicht in der Lage war, eine Beziehung zu führen, die länger als zwei Wochen hielt. Er entgegnete jedoch nur, dass die Richtige einfach noch nicht dabei gewesen sei und versenkte damit den zweiten Treffer. Die Hoffnung in Marie Degen weckend, dass sie diese Richtige doch sein könnte.

      Als er seine Wohnung betrat, fühlte er sich plötzlich wie am Morgen, als er diese verlassen hatte. Die Schwere der Erkenntnis, dass sich nichts an der Tatsache geändert hatte, dass er Jahre seines Lebens für seine Karriere verschwendet hatte, streckte ihn kurz nach dem Überschreiten der Eingangstür nieder. Er legte sich auf sein Bett, um nach fünf Minuten aufzuspringen, ins Bad zu rennen und sich in die Toilette zu übergeben. Eine Zeit lang betrachtete er die blaue Suppe mit den Spaghettiüberresten vom Mittagessen darin. Als er es schaffte sich aufzurichten, klingelte es an der Tür. Ihm fiel der kleine Flirt mit Marie im Treppenhaus ein und er öffnete. Sie hatte eine Flasche Wein in der einen und eine DVD in der anderen Hand. Notting Hill, sie war ein wandelndes Klischee. Genauso gut hätte sie in Unterwäsche dastehen können mit einer Packung Kondome, so eindeutig waren ihre Absichten. Als sie in sein bleiches Gesicht blickte, schien sie irritiert, seine Augen verheult vom Brechen. Er wiegelte mit einer Lüge ab, dass er gerade von einem Todesfall eines entfernten Verwandten erfahren habe und nicht in der Stimmung sei für Wein. Er wollte zunächst Sex sagen, aber entschied sich für die Metapher. Sie reagierte verständnisvoll und drückte ihm ihr Beileid aus.

      Dann legte er sich auf sein Bett, schlief schnell ein und begann wild durcheinander zu träumen. Er sah sich selbst aus der Vogelperspektive wie er auf einen fliegenden Wal blickte, der ihm mit menschenähnlichen Händen den Mittelfinger zeigte. In der nächsten Sequenz konnte er seine Augen nicht ganz öffnen und lief in Zeitlupe durch ein Labyrinth aus riesigen Gemälden von zu engen Jeans.

      4

      Ein langgezogenes Pfeifen, dann ein nervöses Schnattern und wieder ein Pfeifen ließen ihn zum wiederholten Male den Kopf in den Nacken legen und den Himmel nach den Greifvögeln absuchen. Dieser war stahlblau und keine Wolke oder gar Kondensstreifen eines Flugzeuges störten diesen reinen und erhabenen Anblick. Eine große innere Ruhe durchzog seinen Körper. Der Kies des Pfades knirschte in schöner Regelmäßigkeit unter seinen Sohlen, der Atem ging ruhig und nur diese majestätischen Vögel, die ihn nun schon seit einiger Zeit begleiteten, verursachten kleine Unterbrechungen auf seinem Weg. Wie lange er schon ging und die Gleichmäßigkeit der Schritte, des Atmens und der Gedanken genoss, konnte er nicht mehr sagen, es war einfach herrlich befreiend.

      Ein kräftiger Stoß an seine Schulter ließ ihn herumfahren, die Faust geballt und schon in Richtung des vermeintlichen Angreifers beschleunigt, erreichte noch rechtzeitig ein akustischer Reiz sein Gehirn und verhinderte eine blutige Nase, Streit und all das unnötige Zeug. „Randy, bist Du verrückt, hast Du geträumt oder hast Du irgendwas genommen? Du stehst hier mit offenem Mund am Fenster und glotzt, als ob Dir jemand Deine erste Legoeisenbahn weggenommen hat! Man fragt nach dem Maestro. Du weißt schon.“ Aus einem seiner liebsten Tagträume gerissen, straffte er seinen Körper, setzte das Ich-habe-alles-im-Griff-Grinsen auf und ging in das Esszimmer der durchaus geschmackvollen Villa.

      Randy meinten ihn Einige nennen zu müssen, weil er auch zeitweise in L. A. gekocht hatte – wenn man seinen Erzählungen glaubte - und wiederum Andere daraus schlossen, dass er dort in Promikreisen unterwegs gewesen war. Er konnte seinen Spitznamen ebenso wenig leiden wie seinen Richtigen, aber ihm war noch kein Wunschname eingefallen, um sich eine besserklingende Vornamensverpackung zuzulegen. Bei den Gerüchten seines Umgangs in L.A. hatte er selbst etwas nachgeholfen und daher wenig gegen die mäandernden Ausschmückungen. Es hob den Preis und eben darum ging es – unter anderem. Was jetzt erwartet wurde, war die Geschichte hinter den einzelnen Gängen, die soeben in den Mägen der Gäste verschwunden waren. Je nach Laune und den ersten Reaktionen verschaffte er den Gästen durch seine Erzählungen weitere imaginäre Geschmackserfahrungen und Wohlbefinden oder auch Unbehagen, sollte er die Entstehungsgeschichte oder die Herkunft der Zutaten in Gegenden verlegen, die diese Klientel ungern bei Tag betreten würde oder allein vor lauter Mitleid meiden würde. Die nackte Wahrheit taugte selten für die eine oder andere Variante, also musste er jeweils sehr, sehr schnell improvisieren. Und wer will bei dem Preis schon die Wahrheit wissen?

      Er betrat den geschmackvoll eingerichteten Raum und die Gäste seines Auftraggebers wurden zu seinem Publikum. Der übliche, meist peinlich vorgetragene Dank der Gastgeber an die Küche, die gesamte Crew und schlussendlich an ihn selbst, ließ ihm Zeit sein Publikum zu taxieren. Die Papierform kannte er schon durch die Lobpreisungen seiner Auftraggeber, jetzt galt es diese mit der Realität - seiner Realität - abzugleichen. Wer war der übliche Zotenreißer, wo saß die schon angetrunkene Gattin, der man nicht zu offensiv zulächeln sollte, wer verstand wirklich etwas vom Kochen und hinter wem lauerte der nächste Auftrag. Also, wie immer langsam einsteigen, die Geschichte und die Zutaten mussten irgendwie synchronisiert werden und es durfte alles sein, nur nicht annähernd gewöhnlich. Das war die Herausforderung.

      Er war gerade dabei, die Entstehung des Rezeptes in eine abenteuerliche, ausgeschmückte Räuberpistole zu verpacken, als er ein Gesicht wiedererkannte. Diese außerordentlich hübsche junge Frau, leicht verdeckt von einem ebenfalls gut aussehenden, aber knapp zehn Jahre älteren Mann mit Clark Kent-Brille, war die gleiche, die zumindest zur Hälfte für seine verspätete Anreise verantwortlich war. Hatte er ihr seinen richtigen Beruf oder nennen wir es Beschäftigung genannt oder hatte er die Regisseuren-Nummer oder eventuell gar nichts erzählt? Es war ein schöner, sehr lustiger Abend und deshalb hatte er ja auch dort verschlafen. Er musste pokern und vermied lediglich die lange Vorrede, wie schwierig es ist, in Gütersloh diese Wurzel oder jene Kraut oder den wahnsinnig frischen Sankt Petersfisch zu finden. Zutaten, die man innerhalb von vier Stunden in gerade einmal drei unterschiedlichen Läden besorgt, taugen nicht zur Legendenbildung. Er hoffte, dass sie den vorletzten Abend und die darauffolgende Nacht ebenfalls genossen hatte und ihm jetzt die Show nicht verdarb.

      5

      Die Stadt war in eine Tristesse gehüllt. Wie eine graue Schicht aus undurchdringbarem Nebel, der über allem lag, waren die Gebäude farblos, glichen sich wie ein Ei dem anderen. Die frühe Uhrzeit, das langsame Erwachen, der leichte Regen – es war eine Hollywoodkulisse für den finalen Suizid, den leisen Paukenschlag zum Schluss. Zwei verirrte Lichter wanderten die Zeughausstraße hoch. Klischeeerfüllend war es ein Citroen D2, dessen Lichter sie auf den nassen Asphalt warfen. In einer Straße von verzierten Altbauten war die Welt für eine kurze Zeit in die 50er Jahre zurückversetzt. Aus einem Fenster im dritten Stock der Nummer 38 wurde die Szenerie heimlich beobachtet.

      Frank Landweil stand nun schon geraume Zeit mit einem Kaffee in der Hand vor dem Küchenfenster und blickte auf die Straße hinab. Er war um fünf Uhr wach geworden und fühlte sich unangebracht ausgeschlafen. Es brauchte nicht lange, bis er sich an den merkwürdigen vergangenen Tag erinnerte. Er musste fast neun Stunden geschlafen haben. Ihm fiel nicht ein, wann er das letzte Mal so lange im Bett gelegen hatte. Dabei wurde er von wilden Träumen geplagt, die sich nach dem Erwachen für wenige Augenblicke mit der Realität vermischten. So kam es auch, dass er den neuen Frank Landweil zunächst in diese Traumwelt verbannte. Als er sich auf sein Bett setzte und den unsanft abgelegten Anzug auf dem Sessel in der Ecke sah, wurde ihm bewusst, dass er ihn zurückholen musste. Er versuchte,

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