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kehrte in das Gerichtsgebäude zurück, zog den Überzieher aus und ging nach oben. Aber schon im ersten Korridor stieß er auf Fanarin. Er hielt ihn auf und sagte, daß er ein Anliegen an ihn hätte. Fanarin kannte ihn von Ansehen und dem Namen nach, und sagte, daß er ihm mit Vergnügen zu Diensten stehe.

      »Ich bin zwar müde . . . aber wenn es nicht lange dauert . . . sagen Sie mir Ihre Sache — Bitte, gehen wir hier herein.«

      Und Fanarin führte den Fürsten in irgend ein Zimmer, wahrscheinlich das Kabinett eines Richters. Sie setzten sich an den Tisch.

      »Nun, was haben Sie?«

      »Vor allen Dingen möchte ich Sie bitten«, sagte Nechljudow, »daß niemand etwas davon erfährt, daß ich mich für diese Sache interessiere . . . «

      »Das versteht sich von selbst. Also . . . «

      »Ich war heute Geschworener, und wir haben eine Frau zur Zwangsarbeit verurteilt, — eine Unschuldige . . . Das quält mich.«

      Nechljudow errötete, für sich selbst unerwartet, und blieb stecken. Fanarin warf auf ihn einen forschenden Blick, und senke dann wieder die Augen, um ihm zuzuhören.

      »Nun . . . «, sagte er blos.

      »Wir haben eine Unschuldige verurteilt und ich möchte nun das Urteil kassieren lassen, an eine höhere Instanz appellieren . . . «

      »An den Senat«, korrigierte ihn Fanarin.

      »Und ich bitte Sie also, das zu übernehmen.«

      Nechljudow wollte möglichst schnell das Schwerste erledigen und sagte daher sofort:

      »Das Honorar . . . Die Kosten dieses Prozesses übernehme ich, wie hoch sie auch sein mögen.« Und dabei errötete er wieder.

      »Nun, das werden wir mit Ihnen vereinbaren«, antwortete der Advokat, über die Unerfahrenheit des Fürsten nachsichtig lächelnd.

      »Worin besteht denn die Sache?«

      Nechljudow erzählte.

      »Gut, morgen lasse ich mir die Akten geben und werde dieselben durchsehen. Und übermorgen, nein, Donnerstag, fahren Sie bei mir vor, so um sechs Uhr nachmittags, dann erhalten Sie meine Antwort. Nicht wahr? Also gehen wir jetzt, ich muß hier noch einige Erkundigungen einziehen.«

      Nechljudow verabschiedete sich und ging hinaus.

      Das Gespräch mit dem Advokaten und der Umstand, daß er bereits Maßregeln zur Verteidigung der Maslowa ergriffen hatte, beruhigten ihn noch mehr. Er trat ins Freie. Das Wetter war schön, und er sog die Frühlingsluft freudig ein. Die Droschkenkutscher boten ihm ihre Dienste an, er ging jedoch zu Fuß. Und sofort erfüllte ihn ein’ ganzer Schwarm von Gedanken und Erinnerungen an Katjuscha und das an ihr begangene Verbrechen. Ihm wurde wieder trübe zu Mut, und alles erschien ihm finster.

      »Nein, das will ich mir später überlegen«, sprach er zu sich selbst. »Jetzt aber muß man sich im Gegenteil von den schweren Eindrücken zerstreuen.«

      Er dachte an das Mittagessen bei Kortschagins und sah nach der Uhr. Es war noch nicht spät, und er konnte noch zum Diner da sein. Ein Tramwaywagen fuhr klingelnd an ihm vorüber. Er lief dem Wagen nach und sprang hinein. Auf dem Platze sprang er wieder ab, nahm eine gute Droschke und hielt zehn Minuten später an der Auffahrt des großen Kortschaginschen Hauses.

      Sechsundzwanzigstes Kapitel.

      Ich bitte, Ew. Durchlaucht! Die Herrschaften erwarten . . . «, sagte der freundliche dicke Portier des fürstlichen Hauses, indem er die sich geräuschlos auf englischen Angeln bewegende Thür des Vestibuls öffnete. »Die Herrschaften speisen, nur Ew. Durchlaucht werden gebeten . . .

      Der Portier trat an die Treppe und gab ein Glockenzeichen nach oben.

      »Ist jemand da? fragte Nechljudow während er ablegte.

      »Herr Kolossow und Michail Sergejewitsch, sonst nur die Unseligen«, antwortete der Portier.

      Auf der Treppe zeigte sich ein bildschöner Lakai im Frack und weißen Handschuhen.

      »Ew. Durchlaucht werden gebeten . . . « sagte er.

      Nechljudow stieg die Treppe hinauf und ging durch den bekannten prächtigen und geräumigen Saal ins Speisezimmer. Am Tisch im Speisezimmer saß die ganze Familie, mit Ausnahme der Mutter, der Fürstin Sofja Wassiljewna, die niemals ihr Kabinett verließ. Oben am Tische saß der alte Kortschagin, links neben ihm der Arzt: an der anderen Seite der Freund des Hausherrn Iwan Iwanowitsch Kolossow, Gouvernements adelsmarschall a. D. und Direktor einer Bank, ein Mann von liberaler Gesinnung. Weiter links saßen Miß Reder, die Gouvernante der kleinen Schwester Missys und das vierjährige Mädchen selbst, ihnen gegenüber auf der rechten Seite Petja, der einzige Sohn Kortschagins, ein Tertianer, wegen dessen Klassenexamen die ganze Familie in der Stadt blieb, und ein Student, sein Repetitor. Links folgte dann Katerina Alexejewna, ein vierzigjähriges slavophilisch angehauchtes Fräulein, und ihr gegenüber auf der rechten Seite Michail Sergejewitsch oder einfach Mischa Telegin, Missys Vetter. Unten am Tische saß Missy selbst und neben ihr war ein unangerührtes Gedeck.

      »Ah, das ist schön. Setzen Sie sich, wir sind erst beim Fisch«, sagte, angestrengt und vorsichtig mit den falschen Zähnen kauend, der alte Kortschagin, während er die blutunterlaufenen Augen mit den kaum sichtbaren Lidern zu Nechljudow erhob.

      »Stepan«, wandte er sich mit vollem Munde, indem er mit den Augen auf das leere Gedeck wies, an den dicken pompösen Maître d’hotel.

      Obgleich Nechljudow den alten Kortschagin gut kannte und ihn häufig auch bei Tische gesehen hatte, so berührten ihn heute doch ganz besonders unangenehm dieses rote Gesicht mit den sinnlichen Gourmandslippen über der hinter die Weste gesteckten Serviette, der feiste Hals und die ganze wohl gemästete militärische Generalsfigur des Fürsten.

      Nechljudow erinnerte sich unwillkürlich dessen, was er von der Grausamkeit dieses Menschen wußte, der früher als Statthalter die Leute Gott weiß wozu — denn er war reich und angesehen und brauchte sich nicht hinaufzudienen — hatte peitschen und sogar hängen lassen.

      »Den Augenblick wird serviert, Ew. Durchlaucht«, sagte Stepan, während er aus dem mit silbernen Vasen besetzten Buffett einen großen Vorlegelöffel holte und dem schönen Lakai mit dem Backenbart einen Wink gab. Der Lakai begann sofort das neben Missy befindliche Gedeck mit der kunstvoll gehaltenen gestärkten und wappengeschmückten Serviette zu ordnen.

      Nechljudow ging um den ganzen Tisch herum und drückte allen die Hände. Alle außer dem alten Kortschagin und den Damen erhoben sich, wenn er an sie herantrat. Und diese Wanderung um den Tisch und das Händedrücken mit allen Anwesenden, mit deren Mehrzahl er nie gesprochen hatte, erschien ihm heute besonders unangenehm und lächerlich.

      Er entschuldigte sich wegen der Verspätung und wollte sich auf den leeren Platz am Ende des Tisches, zwischen Missy und Katerina Alexejewna, niederlassen. Aber der alte Kortschagin verlangte, daß er, wenn er auch keinen Schnaps trinke, doch zuerst von der auf einem besonderen Tisch servierten Sakuska essen solle. Auf dem Tisch standen Hummern, Kaviar, einige Sorten Käse, Hering und anderes. Nechljudow hatte nicht geglaubt, so hungrig zu sein, aber als er angefangen hatte, Brot mit Käse zu essen, konnte er nicht aufhören und aß gierig.

      »Nun, haben Sie mal wieder die Grundlagen untergraben?« sagte Kolossow, den Ausdruck eines konservativen Blattes, das gegen die Geschworenengerichte kämpfte, ironisierend. »Die Schuldigen freigesprochen und die Unschuldigen verurteilt? Nicht?«

      »Grundlagen untergraben . . . Grundlagen untergraben . . . « wiederholte lachend der Fürst, der zu dem Verstand und zu der Gelehrsamkeit seines liberalen Kameraden und Freundes ein unbegrenztes Vertrauen hegte.

      Nechljudow riskierte unhöflich zu sein und antwortete Kolossow nichts. Er setzte sich zu der unterdes servierten dampfenden Suppe und fuhr fort zu kauen.

      »So

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