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erzählte unterdes lebhaft und laut den Inhalt des Artikels gegen das Geschworenengericht, der ihn empört hatte. Ihm stimmte Telegin, der Neffe des Fürsten, bei und gab den In halt eines anderen Artikels desselben Blattes zum Besten.

      Missy war wie immer sehr »destinguée« und gut, unauffällig gut gekleidet.

      »Sie sind wahrscheinlich furchtbar müde und hungrig?« wandte sie sich an Nechljudow, als er ausgekaut hatte.

      »Nein, nicht besonders. Und Sie? Waren Sie in der Gemäldeausstellung?« fragte er.

      »Nein, wir haben es aufgeschoben. Wir waren aber zum Lawn-Tennis bei Salomatows. Mr. Crooks spielt wunderbar!«

      Nechljudow war hergekommen, um sich zu zerstreuen, und immer pflegte es ihm in diesem Hause wohl zu sein, nicht nur wegen des guten Tones, der dem Luxus hier eigen war und der auf seine Sinne angenehm wirkte, sondern auch besonders infolge einer gewissen Atmosphäre schmeichelnder Liebenswürdigkeit, die ihn unmerklich umfloß.

      Heute aber — war das nicht sonderbar? — erschien ihm alles in diesem Hause widerwärtig, alles, angefangen von dem Portier, der breiten Treppe, den Blumen, den Lakaien, der Tafeldekoration und bis zu Missy selbst, die ihm heute unsympathisch und unnatürlich erschien. Unangenehm waren ihm auch dieser selbstbewußte, banalliberale Ton Kolossows, unangenehm die stierartige, selbstbewußte, sinnliche Figur des alten Fürsten, unangenehm die französischen Phrasen der Slavophilin Katerina Alexejewna, unangenehm das genierte Gesicht der Gouvernante und des Repetitors, und ganz besonders unangenehm war ihm das Fürwort »ihn«, das ihm gegenüber angewandt worden war . . .

      Nechljudow hatte immer zwischen zweierlei Stellungnahme zu Missy geschwankt. Bald hatte er, gleichsam die Augen zukneifend, oder wie bei Mondschein, in ihr alles Schöne gesehen und dann war sie ihm frisch, schön, klug und natürlich erschienen. Und dann plötzlich wieder hatte er, wie bei grellem Sonnenlichte, alles das, was ihr fehlte, gesehen, einfach sehen müssen.

      Heute war für ihn ein solcher Tag. Er sah jedes Fältchen auf ihrem Gesicht, er wußte und sah, wie ihr Haar aufgekämmt war, er sah die Spitzigkeit der Ellenbogen, und er bemerkte namentlich den breiten Nagel ihres Daumens, der an den gleichen Nagel beim Vater erinnerte.

      »Ein langweiliges Spiel!« sagte Kolossow vom Lawn-Tennis. »Da war doch das Ballspiel unserer Kindheit viel lustiger?«

      »Nein, Sie kennen das nicht. Es ist furchtbar hinreißend . . . « entgegnete Missy, indem sie das Wort »furchtbar«, wie es Nechljudow schien ganz besonders unnatürlich aussprach.

      Und es begann ein Streit, in den auch Telegin und Katerina Alexejewna eingriffen. Nur die Gouvernante, der Repetitor und die Kinder schwiegen und langweilten sich augenscheinlich.

      »Immer müssen Sie streiten!« sagte laut lachend der alte Kortschagin. Und die Serviette aus der Weste hervorziehend, scharrte er mit dem Stuhl, den der Lakai sogleich auffing und stand vom Tische auf. Nach ihm erhoben sich auch alle übrigen und traten an das Tischchen heran, wo die mit warmem aromatischen Wasser gefüllten Spülschälchen standen. Das niemand besonders interessierende Gespräch wurde während des Mundspülens fortgesetzt.

      »Nicht wahr?« wandte sich Missy an Nechljudow, um ihn zur Bestätigung ihrer Ansicht darüber aufzufordern, daß man bei nichts anderem den Charakter des Menschen so deutlich erkennen könne, als beim Spiel. Sie sah auf seinem Gesicht jenen konzentrierten und wie ihr schien verurteilenden Ausdruck, den sie an ihm fürchtete, und sie wollte erfahren, wodurch dieser Ausdruck hervorgerufen worden war.

      »Ich weiß wirklich nicht . . . Ich habe nie darüber nachgedacht . . . antwortete Nechljudow.

      »Gehen wir zu maman?« fragte Missy.

      »Ja, ja«, sagte er, eine Cigarette hervorholend, in einem Tone, der deutlich zeigte, daß er eigentlich nicht gehen möchte.

      Sie sah ihn schweigend und fragend an, und er schämte sich. »In der That, zu Leuten hin zugehen, um sie zu langweilen . . . « dachte er von sich selbst. Und mit dem Willen, liebenswürdig zu sein, sagte er, daß er mit Vergnügen gehen werde, wenn die Fürstin empfange.

      »Ja, ja, maman wird sich sehr freuen. Rauchen können Sie auch dort. Iwan Iwanowitsch ist auch da . . . «

      Die Hausfrau, die Fürstin Sofja Wassiljewna, war eine liegende Dame. Sie lag in Gegenwart der Gäste bereits das achte Jahr in Spitzen und Bändern, mitten unter Samt, Vergoldung, Elfenbein, Bronze, Lack und Blumen, fuhr nicht mehr aus und empfing nur, wie sie zu sagen pflegte, »ihre Freunde«, das heißt alle die, die sich ihrer Meinung nach irgendwie vor dem Haufen auszeichneten. Nechljudow war in die Zahl dieser Freunde aufgenommen worden, weil er erstens für einen gescheiten jungen Mann galt, weil zweitens seine Mutter eine nahe Freundin der Familie gewesen war, und weil es drittens gut gewesen wäre, wenn er Missy geheiratet hätte.

      Das Zimmer der Fürstin Sofja Wassiljewna befand sich hinter dem großen und kleinen Salon. Im großen Salon blieb Missy, die Nechljudow voran gegangen war, entschlossen stehen und sah ihn, sich auf die Lehne eines vergoldeten Stühlchens stützend, an.

      Missy hatte große Lust, zu heiraten, und Nechljudow war eine gute Partie. Außerdem gefiel er ihr, und sie hatte sich an den Gedanken gewöhnt, daß er der Ihrige werden müßte. Nicht sie sollte die Seinige, sondern er der Ihrige werden. Und sie kam ihrem Ziel näher mit jener unbewußten, aber ausdauernden Schlauheit, wie sie bei Geistes kranken vorkommt.

      Sie redete ihn jetzt an, um ihn zu einer Erklärung zu veranlassen.

      »Ich sehe, daß Ihnen irgend etwas passiert ist . . . Was fehlt Ihnen?« sagte sie.

      Er dachte an seine Begegnung im Gericht, er rötete und wurde finster.

      »Ja, es ist etwas passiert . . . «, sagte er in der Absicht, aufrichtig zu sein. »Ein seltsames, ungewöhnliches und wichtiges Ereignis.«

      »Was war es denn? Können Sie mir nicht sagen, was es war?«

      »Nein, jetzt nicht. Gestatten Sie mir, es Ihnen zu verschweigen. Es ist etwas geschehen, das ich noch nicht Zeit gehabt habe, zu über denken«, sagte er und errötete noch stärker.

      »Und Sie werden es mir nicht sagen?« Eine Muskel ihres Gesichts erzitterte und die Prinzeß rückte mit dem Stuhl, an dem sie sich hielt.

      »Nein, ich kann es nicht . . . « antwortete er. Und er fühlte, daß die Antwort, die er ihr gegeben, auch eine Antwort für ihn selbst gewesen war, ein Zugeständnis, daß sich mit ihm wirklich etwas außerordentlich Wichtiges begeben hätte.

      »So wollen wir denn gehen.«

      Sie schüttelte den Kopf, als ob sie die unnötigen Gedanken verjagen wollte, und ging vorwärts mit rascheren Schritten als gewöhnlich.

      Es schien ihm, daß sie den Mund auf eine unnatürliche Weise zusammenpreßte, um die Thränen zurückzuhalten. Er schämte sich und es that ihm weh, daß er sie gekränkt hatte. Aber er wußte, daß die geringste Schwäche ihn zu Grunde richten, das heißt binden würde. Dieses aber fürchtete er heute vor allem. So folgte er ihr denn schweigend zum Kabinett der Fürstin.

      Siebenundzwanzigstes Kapitel.

      Die Fürstin Sofja Wassiljewna hatte ihr Mittagessen beendet, ein sehr feines und nahrhaftes Diner, das sie stets allein zu sich zu nehmen pflegte, damit sie niemand bei dieser unpoetischen Funktion sähe. Neben ihrer Couchette stand das Kaffeetischchen, und sie rauchte eine Pachitos.

      Die Fürstin Sofja Wassiljewna war eine magere, hohe, sich noch immer jung machende Brünette mit langen Zähnen und großen schwarzen Augen.

      Man sprach Übles über ihr Verhältnis zu dem Doktor. Nechljudow hatte früher nie daran gedacht. Heute aber geschah, daß er sich dessen nicht nur erinnerte, sondern auch ein Gefühl von unbezwinglichem Ekel bekam, als er neben ihrer Couchette den Arzt mit dem pomadisierten, glänzenden, geteilten Bart erblickte.

      Neben Sofja Wassiljewna

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