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den Kopf. »Alles sah so aus wie immer. Nur eben mit dem Unterschied, dass Nadine nicht da war.«

      »Hatten Sie den Eindruck, dass Nadine ihre Wohnung für immer oder nur kurzzeitig verlassen hat?«

      Diesmal dachte Mona länger nach, bevor sie die Frage beantwortete, als müsste sie sich erst noch einmal alles vergegenwärtigen, was sie in der Wohnung gesehen hatte. »Für mich sah es so aus, als wollte Nadine nur kurz weg und bald wiederkommen. Ich habe auch keinen Abschiedsbrief gefunden.«

      »Haben Sie in die Schränke geschaut, um zu überprüfen, ob Nadine ein paar Sachen gepackt und mitgenommen hat? Vielleicht wollte sie sich nur eine Auszeit nehmen, um einen klaren Kopf zu bekommen. Um in aller Ruhe eine Entscheidung zu treffen, wie sie auf die Diagnose reagieren soll. Schließlich besteht noch immer die Chance, dem Tumor mit einer Kombination aus Chemotherapie und Bestrahlung beizukommen.«

      Mona schüttelte den Kopf. »Daran habe ich gar nicht gedacht.«

      Anja konnte förmlich dabei zusehen, wie die Frau allmählich neue Hoffnung schöpfte, dass es für ihre Tochter doch noch nicht zu spät war. Als sie sich wenig später voneinander verabschiedeten, war Mona Weinhart nicht mehr so niedergeschlagen und hoffnungslos wie zu dem Zeitpunkt, als Anja an ihrer Tür geklingelt hatte. Doch das war nur ein Teilaspekt ihrer täglichen Arbeit. Das Wichtigste und Schwierigste stand ihr noch bevor. Die eigentliche Suche nach einem Motiv für Nadines Verschwinden und ihrem derzeitigen Aufenthaltsort. Und sollte diese nicht alsbald erste Erfolge zeitigen, würde Mona Weinharts Hoffnung ebenso schnell schrumpfen wie ein löchriger Luftballon.

      Bevor sie das Reihenhaus verließ, versprach sie der Mutter, ihr umgehend Bescheid zu geben, sobald es Neuigkeiten gab. Sie reichte ihr eine Visitenkarte mit der Nummer ihrer Dienststelle und bat sie, anzurufen, falls Nadine auftauchte oder sich meldete.

      VI

      Danach fuhr Anja zu Nadines Wohnung, die sich in einem dreistöckigen Mietshaus südlich des Klinikums Großhadern befand. Sie fand einen Parkplatz vor dem Haus und sah sich um. Nadines Wagen war ein betagter blauer VW Polo, der so aussah, als müsste der TÜV-Prüfer beim nächsten Termin blind sein, um ihm die begehrte Plakette zu erteilen. Er stand nur drei Stellplätze von Anjas weißem MINI Cooper entfernt.

      Anja ging hin und versuchte vergeblich, eine der Türen oder die Heckklappe zu öffnen. Sie beugte sich hinunter und warf einen Blick ins Innere. Drinnen sah es schlimmer aus als in ihrem eigenen Fahrzeug, doch das war noch kein Verbrechen. Außerdem waren nirgends Blutflecken oder sonst etwas Verdächtiges zu entdecken. Sie hoffte, dass sie in der Wohnung einen Ersatzschlüssel fand, damit sie die Heckklappe öffnen und einen Blick in den Kofferraum werfen konnte.

      Als sie sich umdrehte und zum Haus sah, entdeckte sie hinter einem Fenster im ersten Stock eine alte Frau, die sie argwöhnisch beobachtete. Sie vermutete, dass es sich um Nadines unmittelbare Wohnungsnachbarin handelte, eine 93-Jährige namens Genoveva Spitzeder. Mona Weinhart hatte bereits mit ihr gesprochen. Von ihr hatte sie vom Untersuchungstermin ihrer Tochter erfahren. Ohne diese Information stünde Anja jetzt nicht hier. Sie hatte den Stein erst ins Rollen gebracht und dafür gesorgt, dass die Vermisstenanzeige an die Vermisstenstelle weitergeleitet wurde. Anja winkte und lächelte. Sie konnte den Argwohn der Frau damit allerdings nicht ausräumen. Eigentlich wollte sie nach der Wohnungsdurchsuchung nur mit Nachbarn sprechen, mit denen Nadines Mutter noch nicht geredet hatte. Doch jetzt würde sie auch bei Genoveva Spitzeder klingeln. Und sei es nur, um ihr zu erklären, wer sie war.

      Sie holte die Schlüssel heraus, die Mona Weinhart ihr gegeben hatte, und ging zur Haustür. An dem Ring befanden sich drei Schlüssel. Die beiden größeren, die mit Schlüsselkennringen unterschiedlicher Farbe markiert waren, gehörten zur Haus- und zur Wohnungstür. Der dritte war für den Briefkasten. Sie öffnete zuerst den Kasten und leerte ihn. Neben den üblichen Werbeprospekten und Postwurfsendungen gab es vier Briefe. Anja wollte sie allerdings erst in der Wohnung lesen. Sie öffnete die Haustür und trat in den Hausflur. Es gab keinen Aufzug, deshalb nahm sie die Treppe in den ersten Stock. Sie ging zur linken Wohnungstür und steckte den rot markierten Schlüssel ins Schloss. Dabei konnte sie förmlich den Blick der alten Frau spüren, die sie durch den Türspion voller Argwohn beobachten musste. Aber sie ließ sich davon nicht beirren. Sie schloss auf, trat rasch ein und machte sofort die Tür hinter sich zu.

      Sobald sie in der Wohnung war, zog sie Einweghandschuhe an. Erst dann tastete sie nach dem Schalter und machte Licht. Sie blieb für ein paar Momente regungslos stehen und hielt dabei die Luft an, um aufmerksam zu lauschen. Doch in der Wohnung war es absolut still. Nicht einmal das Ticken einer Uhr konnte sie hören. Sie war sofort davon überzeugt, dass sich außer ihr niemand hier drinnen aufhielt.

      Sie steckte den Schlüsselring ein. Dann machte sie einen Rundgang durch die Wohnung, um sich einen ersten Eindruck zu verschaffen. Es gab nur zwei Zimmer, eine schmale Küche und ein winziges Bad. Anja musste Nadines Mutter insgeheim recht geben. Alles sah extrem ordentlich und aufgeräumt aus. Nirgends gab es das geringste Anzeichen für einen Kampf oder ein Verbrechen. Wäre es anders, hätte Anja umgehend die Kollegen von der Spurensicherung und der Mordkommission informiert. Doch nichts an diesem Ort deutete darauf hin, dass Nadine die Wohnung nicht freiwillig oder fluchtartig verlassen hatte.

      Nachdem sie sich einen Überblick verschafft hatte, durchsuchte Anja die Wohnung gewissenhafter. Zunächst öffnete sie alle Schränke und sonstigen Behältnisse, die aufgrund ihrer Größe geeignet waren, um in ihnen einen menschlichen Körper oder Teile davon zu verstecken. Zu ihrer Erleichterung fand sie nichts dergleichen. Allerdings hatte sie das auch nicht unbedingt erwartet. Wenn Nadines Leichnam hier irgendwo verborgen gewesen wäre, hätte sie ihn bereits beim Betreten der Wohnung riechen müssen. Denn eine große Kühltruhe, die luftdicht schloss, gab es nicht.

      Immerhin stellte sie bei der Überprüfung des Kleiderschranks im Schlafzimmer fest, dass Nadine augenscheinlich weder einen Koffer gepackt, noch Kleidung zum Wechseln mitgenommen hatte. Es sah also nicht danach aus, als hätte sie vorgehabt, für längere Zeit zu vereisen. Außerdem stand ihr Auto vor dem Haus.

      Anja hatte gehofft, ein Schreiben oder zumindest eine Notiz von Nadine zu finden. Etwas, das Nadines Mutter in ihrer Aufregung übersehen hatte und Aufschluss darüber geben könnte, wohin Nadine verschwunden war und was sie vorhatte. In dieser Hinsicht wurde sie allerdings enttäuscht. Sie fand auch kein Tagebuch, das für einen Ermittler der Vermisstenstelle eine der ergiebigsten Informationsquellen war. Dafür entdeckte sie ein Adressbuch, einen Laptop und eine Reihe aktueller Dokumente und Briefe. Sie würde alles mitnehmen und im Büro auswerten.

      Auf dem Anrufbeantworter befanden sich mehrere Nachrichten. Die erste, vom Vormittag des vorgestrigen Tages, stammte von einer Kollegin aus dem Klinikum Großhadern. Sie erkundigte sich besorgt nach Nadine, weil diese nicht zur Arbeit gekommen war. Anja notierte sich den Vornamen der Frau und die Nummer, die angezeigt wurde. Anschließend folgten Nachrichten von Nadines Mutter und ihrer besten Freundin Anne. Die beiden hatten mehrmals angerufen. Allerdings hatten sie nach dem ersten Mal nicht erneut aufs Band gesprochen.

      Der Kühlschrank war für einen Singlehaushalt gut gefüllt. Die angebrochene Milch und der Käse in Scheiben waren aber nur noch bis übermorgen haltbar.

      Im Bad entdeckte Anja auf der Ablage des Waschbeckens die offene Packung eines verschreibungspflichtigen Schmerzmittels. Nadine hatte es vermutlich gegen die von der Geschwulst in ihrem Kopf verursachten Schmerzen genommen. Es sah ganz danach aus, als hätte sie unmittelbar vor ihrem Verschwinden noch eine Tablette genommen. Außerdem fehlte eine der Blisterverpackungen. Anja notierte sich den Namen des Analgetikums und die Anzahl der Tabletten, die noch vorhanden waren.

      Sie holte einen Beweismittelbeutel aus der Innentasche ihrer Blousonjacke und nahm Nadines Haarbürste. Mehrere weißblonde Haare hatten sich in den Borsten verfangen. Anja hoffte, dass darunter nicht nur ausgefallene Haare ohne Haarwurzel waren. Denn aus einem einzigen ausgerissenen Haar mitsamt Haarwurzel ließ sich die komplette DNA der Vermissten herauslesen. Sicherheitshalber steckte sie Nadines Zahnbürste in einen anderen Beweismittelbeutel. Anschließend fischte sie mehrere benutzte Ohrenstäbchen aus dem halbvollen Kosmetikeimer unter dem Waschbecken. Damit hatte sie genug Material für einen DNA-Vergleich, falls eine unbekannte

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