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Dennoch hatte sie keine Probleme, zu verstehen, was der Neurologe ihr erzählte.

      Demnach hatte er soeben die Ergebnisse der MRT-Untersuchung aus der radiologischen Praxis erhalten. Und die Ergebnisse waren in der Tat besorgniserregend.

      »Bei Nadine wurde eine Geschwulst im Gehirn festgestellt. Sie sitzt an einer schwer zugänglichen Stelle und ist mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht operabel. Allerdings besteht die Möglichkeit, eine Kombination aus Bestrahlung und Chemotherapie einzusetzen, um dem Tumor damit zu Leibe zu rücken. Gleichwohl sind auch hierbei die Chancen auf eine Heilung bei realistischer Einschätzung bedauerlicherweise nicht sehr hoch.«

      Mona schloss die Augen, die nicht nur wegen der Müdigkeit schmerzten. Sie hatte von Anfang an geahnt, dass ihrer Tochter Schlimmes widerfahren war. Und sobald die Nachbarin von dem Untersuchungstermin erzählt hatte, war ihr klar gewesen, dass dabei etwas Besorgniserregendes herausgekommen sein musste. Besorgniserregend genug, dass Nadine das Ergebnis sowohl vor ihrer Mutter als auch vor ihrer besten Freundin verheimlicht hatte.

      Der Arzt am anderen Ende der Leitung ergriff erneut das Wort, als Mona auf das, was er gesagt hatte, nicht reagierte. Er äußerte die Vermutung, Nadine sei möglicherweise wegen der niederschmetternden Diagnose verschwunden. »Nach Erhalt des Untersuchungsergebnisses habe ich umgehend den zuständigen Radiologen angerufen. Von ihm erfuhr ich, dass Nadine zutiefst schockiert auf die Diagnose reagiert und heftig geweint haben soll. Vermutlich stand sie unter einem schweren Schock, als sie die radiologische Praxis verließ.«

      Mona erwiderte auch darauf nichts. Sie fühlte sich momentan nicht in der Lage, etwas zu sagen. Nicht nachdem ihre größte Befürchtung durch das, was sie soeben erfahren hatte, immer deutlichere Gestalt annahm. Ihr größter Albtraum schien wahr geworden zu sein. Ihr einziges Kind, der letzte geliebte Mensch, der ihr nach dem Tod ihres Mannes geblieben war, war todkrank. Und niemand auf dieser Welt, nicht einmal sie, konnte ihm helfen.

      Der Arzt schien zu spüren, dass ihr nicht länger nach Reden zumute war. »Ich werde den Untersuchungsbericht an Ihren Hausarzt weiterleiten. Und ich hoffe sehr, dass Ihre Tochter schon bald wieder wohlbehalten auftaucht. Sie sollte sich anschließend auf jeden Fall umgehend mit mir in Verbindung setzen, damit wir einen Termin vereinbaren und die Therapie besprechen können.« Danach verabschiedete er sich.

      Nachdem er aufgelegt und die Verbindung beendet hatte, blieb Mona noch eine Weile regungslos im Flur stehen, den Hörer weiterhin am Ohr und den monotonen Wählton ignorierend. Sie war tief in ihren Gedanken versunken.

      Sie dachte an das letzte Telefonat, das sie mit ihrer Tochter geführt hatte. Nadine hatte ihr erklärt, dass es ihr gutginge und das Schmerzmittel die Schmerzen linderte. Mona hatte sofort gespürt, dass Nadine sie belog. Sie hatte es jedoch dabei belassen. Schließlich hatte sie nicht ahnen können, wie schlimm es wirklich um ihre Tochter stand. Woher auch? Außerdem hatte sie darauf vertraut, dass Nadine ihr demnächst alles erzählen würde. Genau so, wie sie es auch in der Vergangenheit immer getan hatte.

      Jetzt, im Nachhinein, machte sie sich heftige Vorwürfe, nicht sofort nachgefragt zu haben, warum Nadine sie belog und wie es wirklich um sie stand. Aber jetzt war es dafür zu spät!

      Tränen liefen ihr übers Gesicht, während sie wie eine Statue regungslos im Flur stand. Denn nach allem, was sie nun wusste, gab es nur eine einzige logische Erklärung, warum Nadine so überraschend und spurlos aus ihrer gewohnten Umgebung verschwunden war. Angesichts des inoperablen Tumors in ihrem Gehirn und der geringen Heilungschancen musste Nadine beschlossen haben, ihrem Leben selbst ein Ende zu setzen!

      IV

      Sobald ihre Tränen versiegt waren, erinnerte sich Mona an die Worte des Polizeibeamten bei ihrem gestrigen Telefonat. Er hatte davon gesprochen, dass die dritte Voraussetzung, die Gefahr für Leib und Leben der vermissten Person, beispielsweise durch eine suizidale Absicht, in Nadines Fall nicht gegeben wäre. Doch die Information des Neurologen veränderte diese Einschätzung grundlegend. Deshalb musste jetzt auch viel intensiver nach Nadine gefahndet werden. Sofern es nicht – Gott bewahre! – zu spät war und sie schon viel zu viel Zeit vertrödelt hatten. Aber daran wollte Mona lieber nicht denken.

      Sie legte auf und nahm den Zettel, auf dem sie die Durchwahlnummer des Polizeibeamten notiert hatte, von der Pinnwand. Daran heftete sie normalerweise nur ihren Einkaufszettel, die Postkarten von Bekannten oder Rechnungen, die bezahlt werden mussten.

      Polizeiobermeister Tim Fischer meldete sich nach dem zweiten Klingeln, als hätte er auf ihren Anruf gewartet. Allerdings war es vermutlich eher so, dass er gegenwärtig an seinem Schreibtisch saß und der Telefonapparat in Reichweite war.

      Sie hatte damit gerechnet, dass er genervt reagieren würde, weil sie ihn schon wieder anrief und belästigte. Doch das Gegenteil war der Fall. Er schien sich zu freuen, von ihr zu hören. Oder zumindest gelang es ihm, bei ihr diesen Eindruck zu erwecken.

      »Ist Ihre Tochter wieder aufgetaucht?« Seine sympathische Stimme klang erwartungsvoll.

      Das konnte Mona leider nur verneinen. Auch wenn es ihr ebenso wie ihm lieber gewesen wäre, sie hätte bessere Neuigkeiten.

      »Wir haben sie ebenfalls nicht gefunden.« Mona konnte aus seiner Stimme deutlich die Enttäuschung heraushören. »Den Funkstreifen ist keine Person aufgefallen, auf die Nadines Beschreibung gepasst hätte. Und meine Anrufe bei den Krankenhäusern und Rettungsleitstellen waren ebenfalls erfolglos. Niemand, auf den die Personenbeschreibung zutrifft, wurde in den letzten 48 Stunden gefunden oder irgendwo eingeliefert.«

      Nachdem sie beide für ein paar Sekunden bedrückt geschwiegen hatten, fragte er: »Haben Sie mich aus einem speziellen Grund angerufen? Oder wollten Sie nur nachfragen, ob es Neuigkeiten gibt?«

      Da erzählte ihm Mona von der niederschmetternden Diagnose nach der Untersuchung. Sie schloss mit der Befürchtung, Nadine könne vorhaben, sich das Leben zu nehmen, um dem Tumor zuvorzukommen.

      »Ich stimme Ihnen zu. Diese Information verändert die Sachlage natürlich grundlegend. Wir müssen jetzt sehr wohl von einer Gefahr für das Leben oder zumindest die körperliche Unversehrtheit Ihrer Tochter ausgehen. Deshalb werde ich den Fall umgehend an die Spezialisten der Vermisstenstelle bei der Kripo weiterleiten. Die Kollegen dort sind für solche Fälle ausgebildet. Sie haben die notwendige Erfahrung und wissen genau, wie man am besten nach vermissten Personen sucht. Ich werde sofort alles Erforderliche in die Wege leiten und die Vermisstenanzeige per Kurier an das Kommissariat 14 schicken. Dabei werde ich auf die besondere Dringlichkeit des Falls hinweisen. Dann kann der zuständige Ermittler sofort alle notwendigen Fahndungsmaßnahmen einleiten.«

      Mona befürchtete insgeheim jedoch, dass sämtliche Maßnahmen zu spät kamen. Nadine war schon immer sehr zielstrebig gewesen und hatte wichtige Aufgaben nie auf die lange Bank geschoben, sondern sofort erledigt. Dennoch war sie zutiefst dankbar, dass der Polizist ihre Ängste ernst nahm und die erforderlichen Schritte unternahm, um ihre Tochter zu finden.

      »In Kürze wird sich ein Ermittler der Vermisstenstelle mit Ihnen in Verbindung setzen«, sagte der Beamte. »Und geben Sie bitte auf keinen Fall die Hoffnung auf, Ihre Tochter lebend und wohlbehalten wiederzusehen.« Dann verabschiedete er sich, um augenblicklich in die Tat umzusetzen, was er ihr zuvor versprochen hatte.

      Obwohl sich an der Situation zunächst einmal nichts geändert hatte, fühlte sich Mona nach dem Telefonat trotzdem viel optimistischer. Und obwohl sie eigentlich zum Einkaufen hätte gehen müssen, weil der Kühlschrank fast leer war, blieb sie zu Hause, um den nächsten Anruf nicht zu verpassen. Allerdings wartete sie nicht länger auf einen Anruf ihrer Tochter, sondern stattdessen auf den eines Ermittlers der Vermisstenstelle.

      V

      Der Polizist hielt Wort. Bereits eine knappe Stunde später landete die Vermisstenanzeige auf Anja Spangenbergs Schreibtisch.

      Sie legte den Altfall zur Seite, den sie bearbeitet hatte und las zunächst das Begleitschreiben des Polizeiobermeisters von der Polizeiinspektion 41 in Laim. In diesem gab er das letzte Telefonat mit der Anzeigenerstatterin in Stichpunkten wieder. Außerdem wies er auf die besondere Dringlichkeit des Falles aufgrund der Suizidgefahr hin.

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