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war zu schlau gewesen und hatte nicht den geringsten Fehler gemacht; das tröstete sie jedoch nicht wirklich. Sie hatte schlicht und einfach ihren Job nicht gut genug gemacht. Sie hätte tiefer graben und gründlicher ermitteln müssen, um wenigstens irgendetwas herauszufinden.

      Sie lenkte ihren Wagen automatisch durch den Verkehr. Dabei ging sie in Gedanken noch einmal akribisch Punkt für Punkt durch, was seit Nadine Weinharts Verschwinden geschehen und in die Wege geleitet worden war. Vielleicht fiel ihr ja dann ein, wo sie einen Fehler gemacht oder welche notwendige Maßnahme sie irrtümlicherweise unterlassen hatte. Und falls sie nichts entdeckte, sondern im Gegenteil zur Überzeugung kam, dass sie alles richtig gemacht hatte, dann musste sie sich auch nichts vorwerfen.

      KAPITEL 2

      I

      Am Tag nach dem letzten Telefonat mit ihrer Tochter bekam Mona Weinhart am späten Vormittag einen Anruf aus dem Klinikum Großhadern. Eine Kollegin von Nadine erkundigte sich nach ihrer Tochter. Diese war in der Früh nicht zur Arbeit erschienen und auch telefonisch nicht zu erreichen.

      Als sie auflegte, war es 11:22 Uhr.

      Das wusste Mona deshalb so genau, weil sie in diesem Augenblick auf die Uhr sah. Und außerdem war es exakt der Moment, an dem die 61-Jährige begann, sich ernsthafte Sorgen um ihre Tochter zu machen. Denn ein derartiges Verhalten war absolut untypisch für Nadine. Wenn es einen vernünftigen Grund gegeben hätte, nicht zur Arbeit zu erscheinen, und wenn Nadine die Möglichkeit gehabt hätte, jemandem darüber zu informieren, dann hätte sie das auch getan. Da sie es allerdings versäumt hatte, musste ihr etwas zugestoßen sein. Das war nur logisch. Und davon war die Mutter überzeugt.

      Sie dachte natürlich sofort an die schlimmen Kopfschmerzen und die Übelkeit, unter denen Nadine in den letzten Wochen permanent gelitten hatte. Zuletzt hatte sie ihre Mutter beruhigt und behauptet, die Schmerztabletten, die ihr der Arzt verschrieben hatte, würden helfen. Doch Mona Weinhart kannte ihre Tochter gut genug, um zu wissen, dass sie ihr nicht die ganze Wahrheit erzählt hatte. Deshalb hatte sie sofort das schreckliche Bild vor Augen, wie ihre Tochter hilflos oder – Gott bewahre! – sogar tot in ihrer Wohnung lag.

      Mona war kein sehr gläubiger Mensch. Franz, ihr verstorbener Ehemann, war überzeugter Atheist gewesen. Daher hatte Religion in ihrer Familie oder bei Nadines Erziehung nie eine Rolle gespielt. Aber Mona war in einem winzigen niederbayerischen Dorf aufgewachsen. Dort war ihr der katholische Glaube von klein auf eingetrichtert worden und war nicht auszurotten. Er hob vor allem in Notsituationen sein dornengekröntes Haupt, sodass Mona gelegentlich im Stillen ein Bittgebet sprach. Das tat sie auch jetzt. Sie bat Gott inständig darum, dafür zu sorgen, dass es ihrem einzigen Kind gutgehen und es sich baldmöglichst bei ihr melden möge.

      Gottvertrauen war zwar schön und gut, allerdings nicht genug. Entschieden besser war es, sie sah selbst nach dem Rechten.

      Deshalb nahm die den Schlüssel, den sie für Notfälle in Verwahrung hatte – Und wenn das kein Notfall ist, was dann? –, und fuhr mit der U-Bahn in die Nähe von Nadines Wohnung im Stadtteil Hadern unweit der Klinik. Den Rest des Weges ging sie zu Fuß.

      Seit einer leichten Herzattacke, die sie in einem Anfall von Galgenhumor manchmal als letzte freundliche Warnung des Sensenmannes bezeichnete, bemühte sie sich, gesünder zu leben. Dazu gehörte, dass sie im Gegensatz zu früher auf übermäßigen Kaffeekonsum verzichtete. Dafür ging sie öfter an die frische Luft und unternahm ausgedehnte Spaziergänge, statt ständig nur in der Wohnung zu hocken und Kreuzworträtsel zu lösen oder fernzusehen. Deshalb war sie für ihr Alter noch erstaunlich fit und vergleichsweise schlank. Nur ihr kurz geschnittenes Haar, das früher hellblond gewesen war, war längst schneeweiß geworden. Nadine hatte ihr geraten, es zu färben. Doch Mona hatte sich geweigert. Sie war der Meinung, dass man zu seinem Alter stehen sollte.

      Nach wenigen Minuten Fußmarsch erreichte sie das dreistöckige Gebäude, in dem Nadine wohnte. Mona wappnete sich innerlich und war auf alles gefasst, als sie die Wohnung betrat. Sogar – Gott behüte! – darauf, die Leiche ihres einzigen Kindes zu finden. Aber die Wohnung war verlassen. Und Mona fand auch nicht das geringste Anzeichen dafür, dass Nadine sich in einer Notlage befinden könnte. Alles sah ordentlich und aufgeräumt aus. Es erweckte den Eindruck, als würde Nadine jeden Moment zur Tür hereinkommen, um ihre Mutter überrascht fragen, warum sie den Notfallschlüssel benutzt hatte, um in die Wohnung zu gelangen.

      Vielleicht gibt es ja doch eine harmlose Erklärung für Nadines Abwesenheit. Und sie hat nur nicht daran gedacht, jemanden darüber zu informieren, sagte sich Mona, während sie im Wohnungsflur stand und überlegte, was sie jetzt tun sollte. Der Gedanke war nicht nur tröstlich, sondern sogar in der Lage, das Bild der toten Tochter aus ihrem Kopf zu verdrängen. Gern hätte sie daran geglaubt, wäre nach Hause zurückgekehrt und hätte dort darauf gewartet, dass Nadine sich bei ihr meldete und dafür entschuldigte, dass sie es bislang nicht getan hatte. Dann müsste sie sich nicht länger diese furchtbaren Sorgen um ihre Tochter machen.

      Sie schüttelte jedoch den Kopf. Nein, so einfach konnte die Sache nicht sein! Nadine war immer zuverlässig. Wenn sie daher nicht zur Arbeit erschien und auch niemandem Bescheid gab, musste ihr zwangsläufig etwas zugestoßen sein.

      Mona legte die Hand auf ihr Herz, das schon seit dem Telefonat mit Nadines Arbeitskollegin schneller als üblich schlug. Sie dachte zuerst an ihren eigenen Infarkt vor zwei Jahren, der glimpflich verlaufen war. Dann an den ihres Mannes, der so heftig ausgefallen war, dass er ihn von einer Sekunde zur anderen das Leben gekostet hatte. Sie verdrängte diese Überlegungen allerdings sofort wieder. Sorgen um ihr eigenes Wohlergehen konnte sie sich immer noch machen, sobald sie wusste, dass es Nadine gutging. Doch solange das nicht der Fall war, durfte sie keine Rücksicht auf sich selbst nehmen, sondern sich wie jede liebende Mutter nur Gedanken um ihre Tochter machen.

      Sie überlegte, was sie in einer Situation wie dieser tun konnte. Ihr erster Gedanke war natürlich, die Polizei darüber zu informieren und Nadine als vermisst zu melden. Aber dann erinnerte sie sich an einen Krimi, den sie unlängst gesehen hatte. War es ein Tatort oder eine Folge von »Der Alte«? Ach, egal!. Darin war von einer 24-Stunden-Regel gesprochen worden. Demnach konnten Erwachsene erst als vermisst gemeldet werden, wenn sie mehr als 24 Stunden verschwunden waren. Doch das war hier nicht der Fall. Sie selbst hatte vor weniger als 24 Stunden mit Nadine telefoniert.

      Was dann?

      Sie hörte Schritte im Treppenhaus. Dadurch kam sie auf die Idee, die Nachbarn zu befragen, ob jemand Nadine am heutigen Tag gesehen hatte. Rasch verließ sie die Wohnung. Im Treppenhaus traf sie auf einen Mann. Er war mindestens zehn Jahre älter als sie und wohnte ein Stockwerk über ihrer Tochter. Aber er hatte Nadine schon seit Tagen nicht gesehen.

      Enttäuscht klingelte Mona bei der unmittelbaren Wohnungsnachbarin in derselben Etage. Die Frau, die ihr öffnete, sah uralt und tatterig aus. Mona hatte wenig Hoffnung, von ihr etwas Vernünftiges zu erfahren. Sie wurde jedoch angenehm überrascht. Genoveva Spitzeder, wie die Dame laut Türschild hieß, hatte trotz ihres hohen Alters einen hellwachen Verstand.

      »Kommen Sie doch bitte herein und trinken eine Tasse Kaffee mit mir«, sagte die alte Frau herzlich. Sie war anderthalb Köpfe kleiner als Mona, die mit ihren 1,68 schon nicht besonders groß war. Außerdem war sie extrem schlank und zierlich. Mit ihren stahlgrauen Haaren, die an ihrem Hinterkopf zu einem Dutt verknotet waren, und den runden Brillengläsern wirkte sie wie eine Miniatur-Großmutter aus dem Bilderbuch. »Ich hab Käsekuchen da.«

      Mona war normalerweise ein Fan von Käsekuchen. Sie konnte schlecht nein sagen, wenn ihr einer angeboten wurde. Doch in diesem Fall musste sie zu ihrem Bedauern standhaft bleiben. Sie hatte keine Zeit für einen ausgedehnten Kaffeeklatsch, wie er der alten Dame vermutlich vorschwebte. Und sie ahnte, dass sie nicht so schnell davonkommen würde, wenn sie die Einladung annahm. »Nein danke«, lehnte sie das Angebot höflich, aber entschieden ab.

      Frau Spitzeder gab nicht so schnell auf. »Es macht mir überhaupt keine Mühe«, sagte sie, als hätte Mona etwas anderes behauptet. »Ich bin zwar schon dreiundneunzig Jahre alt, führe meinen Haushalt aber noch immer allein.«

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