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auch nur verhungern lassen. Wichtiger ist es zunächst jedoch, dass wir sie zweifelsfrei identifizieren. Und wie du selbst sehen kannst, ist das aufgrund ihres Zustands trotz der Tätowierung, des Muttermals und der anderen Merkmale nicht so einfach. Deshalb möchte ich dich bitten, einen genaueren Blick auf die Leiche zu werfen. Du hast ein Foto der Vermissten in deiner Akte und kannst sie daher eher identifizieren als wir.«

      Anja nickte. Sie seufzte tief und richtete ihren Blick wieder auf die Leiche. Die leichte Übelkeit, die der ekelerregende Geruch an diesem Ort hervorrief, wurde stärker. Sie hatte allerdings nicht das Gefühl, als müsste sie sich übergeben.

      Da sie bis auf die Knochen abgemagert war, sah die Frau um Jahrzehnte älter aus, als sie es vermutlich war. Wahrscheinlich hätte sie in diesem Zustand nicht einmal ihre eigene Mutter wiedererkannt.

      Widerstrebend trat Anja näher heran, bis sie direkt neben dem Seziertisch stand und einen besseren Blick auf das Gesicht der Toten hatte. Es war zum Glück nicht verzerrt, wie es oftmals bei einem qualvollen Todeskampf der Fall war. Stattdessen war es glatt und vergleichsweise entspannt, als wäre sie sanft entschlafen. Die Augen waren geschlossen, sodass Anja ihre Augenfarbe nicht erkennen konnte. Doch die Haarfarbe stimmte mit der Vermisstenmeldung überein; es handelte sich um ein auffallendes natürliches Weißblond. Die Haare waren länger, als es Anja beschrieben worden war. Aber da seit dem Verschwinden der Frau drei Monate vergangen waren, waren sie in dieser Zeit natürlich gewachsen.

      »Und?«, fragte Krieger ungeduldig. »Ist unser knochiges Dornröschen nun deine Vermisste oder nicht?«

      Anja sah ihn wütend an, woraufhin er schuldbewusst die Augen abwandte. Er trat unwillkürlich einen Schritt zurück, als befürchtete er, sie würde ihn auch noch schlagen. Dazu hatte sie in diesem Augenblick sogar gute Lust. Doch dann richtete sie ihren Blick wieder auf das Gesicht der Leiche. Dabei konzentrierte sie sich vor allem auf markante, unveränderliche Merkmale. Den Rest blendete sie einfach aus. Dann verglich sie das, was sie sah, gedanklich mit dem Bild, das ihr Nadine Weinharts Mutter gegeben hatte, als Anja sie wenige Tage nach dem Verschwinden ihrer Tochter aufgesucht hatte.

      Das Foto, das ein paar Wochen vor ihrem Tod aufgenommen worden war, zeigte Nadine als lebenslustige 33-Jährige. Es war entstanden, bevor die quälenden Kopfschmerzen und die Übelkeit eingesetzt hatten. Sie hatte in die Kamera gelächelt und nichts davon geahnt, was die Zukunft ihr Schreckliches bringen würde. Vor allem nicht, dass sie schon bald an diesem furchtbaren Ort landen würde.

      Nadine war nicht dick gewesen, aber auch nicht besonders schlank. Doch falls es sich bei der toten Frau auf dem Seziertisch tatsächlich um Nadine Weinhart handelte, hätte der Unterschied kaum größer sein können.

      Die eingefallenen abgezehrten Gesichtszüge veränderten ihr Aussehen grundlegend. Dennoch konnte Anja nach und nach Übereinstimmungen mit dem Foto erkennen, das sie im Gedächtnis hatte. Vor allem die etwas zu breite Nase, die schmalen Lippen und das spitze Kinn. Auch die kleinen Ohren und die dichten Augenbrauen hatten sich nicht verändert. Zusammengenommen festigten sie in Anja die Überzeugung, dass sie tatsächlich Nadine Weinharts Leiche vor sich hatte.

      Nach einer Weile seufzte sie schwer und nickte. »Ich fürchte, sie ist es wirklich.«

      »Bingo!« Krieger hob die Faust, als hätte er einen wichtigen Sieg errungen.

      »Ich checke nur noch schnell die Tätowierung« Anja ging zum Fußende des Seziertisches. »Nur um auf Nummer sicher zu gehen.«

      Das Muttermal in der rechten Achselhöhle musste sie nicht überprüfen. Schließlich hatte Englmair ihr schon bestätigt, dass es vorhanden war. Sie kannte nämlich weder seine genaue Form noch seine Größe. Außerdem hätte sie den Leichnam dazu anfassen müssen, und das wollte sie um alles in der Welt vermeiden. Davon ganz abgesehen trug sie keine Handschuhe und hätte auf der Leiche Spuren hinterlassen.

      Sie ging in die Knie, bis sie das Tattoo direkt oberhalb des linken äußeren Fußknöchels besser sehen konnte. Es handelte sich um einen roten Marienkäfer in der Größe eines Zwei-Euro-Stücks. Er war plastisch dargestellt und warf einen dunklen Schatten auf die Haut; deshalb wirkte er extrem lebensecht. Das Tattoo wurde aufgrund der Magerkeit der Leiche etwas verzerrt. Dennoch erkannte Anja es sofort wieder. Sie hatte ein Foto davon gesehen. Nadine hatte es nach dem Besuch beim Tätowierer mit dem Handy gemacht und ihrer besten Freundin geschickt.

      Anja richtete sich auf. Sie sah Englmair an und nickte mit ernster Miene. »Ich habe keinen Zweifel, dass es sich bei der Toten um die vermisste Nadine Weinhart handelt.« Damit war es offiziell.

      »Gut, das reicht uns für den Augenblick«, sagte er. »Hundertprozentige Gewissheit bekommen wir ohnehin erst nach dem Abgleich der Fingerabdrücke, des Zahnstadiums und der DNA. Aber jetzt können wir unsere Ermittlungen wenigstens auf eine konkrete Person konzentrieren.«

      »Erzählt ihr mir jetzt endlich, wo sie gefunden wurde?«

      »Wieso willst du das überhaupt wissen?«, fragte Krieger. »Sei froh, dass der Fall für dich erledigt ist und du die Akte vom Tisch hast. Apropos Akte! Wäre schön, wenn du uns die Vermisstenakte noch heute ins Büro bringen könntest.«

      »Es interessiert mich einfach, was mit ihr geschehen ist«, sagte Anja. »Immerhin habe ich mich in den letzten drei Monaten intensiv mit ihrem Fall beschäftigt. Außerdem ging mir ihr Schicksal nahe. Aber das kann ein gefühlloser Klotz wie du natürlich nicht verstehen.«

      »Ich bin nicht gefühllos«, widersprach er und machte ein empörtes Gesicht. »Komm schon, Peter! Sag ihr, dass ich nicht gefühllos bin!«

      »Anton ist nicht gefühllos«, sagte Englmair gehorsam. Nach einer kurzen Pause fügte er einschränkend hinzu: »Zumindest nicht ganz. Er ist aber auch nicht besonders gefühlvoll oder mitfühlend.«

      »Jetzt fällst du mir auch noch in den Rücken.« Krieger verzog missmutig das Gesicht und verschränkte die Unterarme vor der Brust, als wäre er tödlich beleidigt. Man konnte jedoch sehen, dass er es nur vorgab und nicht böse auf seinen Kollegen war, denn seine Augen funkelten belustigt.

      »Dann eben gefühlsarm«, korrigierte sich Anja.

      Krieger bewegte den Kopf abwägend hin und her, als könnte er mit dieser Charakterisierung leben.

      Anja wusste nicht viel über das Privatleben der beiden. Allerdings hätten sie auch da nicht unterschiedlicher sein können. Krieger war ein eiserner Verfechter der Ehe und mittlerweile schon zum dritten Mal verheiratet. Englmair hingegen hielt nicht viel von einem Trauschein, lebte allerdings seit mehr als zwei Jahrzehnten mit ein und derselben Frau zusammen. Er war kinderlos, während Krieger mit seinen ersten beiden Ehefrauen drei Kinder gezeugt hatte. Also war er vermutlich tatsächlich nicht völlig gefühllos, sondern gebärdete sich im Dienst nur so. Vermutlich war das nichts anderes als ein Schutzmechanismus. Manche Polizisten benötigten einen solchen, den sie wie eine Panzerung trugen, um weiterhin ihre Arbeit erledigen zu können und nicht resigniert das Handtuch zu werfen.

      »Also, wo wurde Nadine gefunden?«

      »Am Wurmeck«, sagte Krieger und fügte zweifelnd hinzu: »Wenn du weißt, wo das ist?«

      »Natürlich weiß ich das«, antwortete Anja gereizt. Sie war ein Münchner Kindl. So hieß nicht nur die offizielle Wappenfigur der bayerischen Landeshauptstadt, ein Mönch mit goldgeränderter schwarzer Kutte und roten Schuhen. So wurde auch jeder genannt, der in München geboren war.

      »Als Wurmeck wird der südwestliche neugotische Eckturm des Neuen Rathauses bezeichnet, da sich dort die Kupferfigur eines Drachen oder Lindwurms emporwindet« sagte Anja, als rezitierte sie aus einem Reiseführer. »Darüber befinden sich drei Steinreliefs, die die Sage vom Münchener Lindwurm veranschaulichen. Demnach soll im Jahre 1517 in der Stadtmitte ein Lindwurm aus der Erde gekrochen sein und die Pest verbreitet haben. Er wurde von mutigen Männern mit einem Kanonenschuss besiegt. Dennoch trauten sich die Bürger nicht mehr aus ihren Häusern. Bis erstmals die Schäffler, wie die Fassküfer oder Fasshersteller in Bayern auch genannt wurden, durch die Straßen tanzten. Sie wollten die Bevölkerung damit beruhigen und dazu bringen, wieder am öffentlichen Leben teilzunehmen. Daran soll bis heute

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