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im Büro war, wollte sie jemanden von der Spurensicherung damit beauftragen, hierherzukommen und Fingerabdrücke zu nehmen. Sie beschriftete die Beweismitteltüten sorgfältig und legte sie dann zu den anderen Dingen, die sie mitnehmen wollte.

      Doch sie verließ die Wohnung noch nicht gleich, sondern machte einen weiteren Rundgang. Dieses Mal sah sie sich allerdings mit anderen Augen um. Sie bemühte sich, einen Eindruck von Nadine Weinharts Persönlichkeit zu gewinnen. Schließlich kannte sie die Frau nicht. Dennoch musste sie versuchen, sich so gut wie möglich in sie hineinzuversetzen, um eine Ahnung davon zu bekommen, wohin sie verschwunden war und was sie vorhatte. Gleichzeitig musste sie sich bemühen, die nötige Distanz zu wahren, damit ihr der Fall nicht zu nahe ging. Eine Gratwanderung, die nicht immer hundertprozentig gelang.

      Anja überflog die Titel der Bücher und Videofilme im Wohnzimmerregal. Dann sah sie sich die gerahmten Fotos an, die in der Wohnung herumstanden oder an den Wänden hingen. Sie zeigten Nadine allein oder mit Verwandten, Freunden und Kollegen. Dabei machte sie sich Gedanken über das Motiv für das Verschwinden der anderen Frau.

      Angesichts der schrecklichen Diagnose, die Nadine erhalten hatte, schien es auf den ersten Blick eindeutig zu sein. Sie war verschwunden, weil sie die Absicht hatte, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Allerdings war es gefährlich, sich zu früh und zu einseitig auf eine auf den ersten Blick zutreffende Version zu fixieren. Bei einer Fehleinschätzung liefen die Ermittlungen möglicherweise von Anfang an in die falsche Richtung oder sogar ins Leere. Und das konnte dazu führen, dass die Informationsauswahl nur einseitig und in eine Richtung stattfand.

      Um das zu verhindern, überprüfte Anja gedanklich alle fünf Standardversionen für das Verschwinden eines Menschen. Neben der ersten, der Freitodabsicht, gehörte dazu zweitens das freiwillige Verlassen des gewohnten Lebenskreises wegen einer Konfliktsituation im Lebensbereich oder der Flucht vor Verantwortung. Drittens eine hilflose Lage, ein Unfall oder ein natürlicher Tod. Viertens eine Neigung zum Vagabundieren, Streunen oder Ausreißen. Und fünftens die Möglichkeit, dass die vermisste Person Opfer einer Straftat geworden war.

      Die vierte Alternative konnte Anja von vornherein ausschließen. Eine Neigung zum Vagabundieren wäre bei ihrem Gespräch mit Nadines Mutter zweifellos zur Sprache gekommen. Möglicherweise wäre sie wegen früherer Vorfälle sogar aktenkundig gewesen. Es gab jedoch nicht den geringsten Hinweis, dass Nadine vorher schon einmal verschwunden war.

      Ebenfalls nicht sehr wahrscheinlich war, dass Nadine ihren Lebenskreis aus eigenem Entschluss verlassen hatte und ihren derzeitigen Aufenthaltsort verbarg, um ihre Ruhe zu haben. Allerdings hätte Anja das gegenüber der Mutter niemals zugegeben. Sie wollte ihr nicht die letzte Hoffnung rauben, ihre Tochter lebend wiederzusehen. Gegen diese Version sprach vor allem, dass Nadine allem Anschein nach keine Wechselkleidung mitgenommen hatte und bis auf eine einzige Blisterverpackung die wichtigen Schmerztabletten zu Hause gelassen hatte. Anja würde im Laufe des Tages aber noch überprüfen müssen, ob Nadine unmittelbar vor ihrem Verschwinden größere Geldbeträge abgehoben hatte. Das könnte wiederum darauf schließen lassen, dass sie ihr Verschwinden geplant und vorbereitet hatte. Außerdem musste sie checken, ob es seit ihrem Verschwinden Transaktionen auf ihren Konten gegeben hatte.

      Von den übrigen Versionen ließ sich zu Anjas Bedauern keine weitere so leicht ausschließen. Dadurch wurde die Konzentration auf ein bestimmtes Motiv für Nadines Verschwinden momentan noch unmöglich gemacht.

      Der überraschende Schicksalsschlag in Form der vermutlich unheilbaren Krankheit sprach zwar dafür, dass die Vermisste verschwunden war, um Suizid zu begehen, doch es fehlten andere eindeutige Hinweise. Das konnten beispielsweise ein Abschiedsbrief, entsprechende Äußerungen gegenüber Dritten oder bereitgelegte Dokumente wie ein Testament sein.

      Und da die Wohnung auf Anja so wirkte, als hätte Nadine sie nur kurzzeitig verlassen und bald zurückkommen wollen, durfte sie auch die Möglichkeit nicht außer Acht lassen, dass Nadine einen Unfall erlitten hatte. Vielleicht hatte sie bei einem Spaziergang durch den Wald, um in Ruhe über alles nachzudenken, einen Schwächeanfall erlitten und war bewusstlos zusammengebrochen. Und nun lag sie dort hilflos oder war bereits eines natürlichen Todes gestorben.

      Oder sie war doch das Opfer einer Straftat geworden. Denn ihr Verschwinden widersprach nach Aussage der Mutter eindeutig ihrer Persönlichkeitsstruktur. Außerdem hätte sie eine verzögerte Rückkehr, pflichtbewusst, wie sie war, umgehend gemeldet. Dagegen sprach wiederum der Zustand der Wohnung, in der erkennbar weder ein Kampf stattgefunden hatte, noch eine Straftat begangen worden war. Dennoch durfte Anja diese Möglichkeit nicht allein deswegen ausschließen. Vor allem, da sie sofort die Kollegen von der Mordkommission benachrichtigen musste, sollten sich im Laufe ihrer Ermittlungen Hinweise ergeben, die in diese Richtung wiesen.

      Das Ergebnis ihrer Überlegungen war, dass sie sich in diesem Stadium ihrer Ermittlungen noch nicht auf ein Motiv für Nadines Verschwinden festlegen konnte. Sie musste daher weiterhin in alle Richtungen ermitteln und für alles offen sein, um nicht versehentlich in einer Sackgasse zu landen.

      Sobald sie diesen Gedankengang abgeschlossen hatte, beendete sie auch die Durchsuchung der Wohnung. Sie hatte alles gründlich abgesucht und überprüft. An diesem Ort würde sie keine weiteren Erkenntnisse gewinnen.

      Allerdings wollte sie noch einen kurzen Blick in Nadines Kellerabteil werfen. Schon unmittelbar nach Betreten der Wohnung war ihr im Flur ein Schlüsselbrett aufgefallen, das neben der Garderobe an der Wand hing. An den Haken hingen nur drei Schlüssel. Anja ging daher davon aus, dass Nadine ihre Haus-, Wohnungs- und Autoschlüssel mitgenommen hatte. Von den drei verbliebenen Schlüsseln schien einer ein Ersatzschlüssel für die Wohnung zu sein, der zweite zu einem Fahrradschloss und der dritte zu einem Vorhängeschloss zu gehören. Diesen nahm sie an sich, verließ die Wohnung und ging in den Keller des Hauses. Durch Türen auf beiden Seiten ging es zu den Kellerabteilen. Es handelte sich um Verschläge, deren Türen und Trennwände aus unbehandelten Holzlatten bestanden. Anja probierte den Schlüssel an einem Vorhängeschloss nach dem anderen, bis er endlich passte. Doch die Durchsuchung des Abteils erbrachte nichts Neues. Es enthielt nur ein Damenfahrrad, ausrangierte Kleinmöbel, mehrere Umzugskarton und eine Skiausrüstung. Aber wenigstens hatte Anja ihrer Pflicht zur gründlichen Untersuchung der Wohnanschrift der Vermissten Genüge getan und würde sich hinterher keine Vorwürfe machen müssen.

      Sie versiegelte den Kellerraum und kehrte in die Wohnung zurück. Dort packte sie alles, was sie mitnehmen wollte, in eine Plastiktüte aus dem Küchenschrank. Dann verließ sie die Wohnung, versah die Wohnungstür ebenfalls mit einem Polizeisiegel und brachte die Tüte zum Auto.

      Danach klingelte sie bei der Wohnungsnachbarin und zeigte der alten Frau ihren Dienstausweis. Deren misstrauische Miene machte daraufhin einem freundlichen Lächeln Platz. Frau Spitzeder lud Anja ein, in die Wohnung zu kommen und mit ihr Kaffee zu trinken und Käsekuchen zu essen. Doch dafür hatte sie keine Zeit. Deshalb lehnte sie das Angebot freundlich, aber bestimmt ab. Sie stellte der alten Dame ein paar Fragen über Nadine und den Tag ihres Verschwindens. Doch mehr als das, was sie bereits von Nadines Mutter erfahren hatte, kam dabei nicht heraus. Daher schlug sie eine weitere Einladung aus und verabschiedete sich rasch. Sie klingelte an den Türen der anderen Hausbewohner, hatte dort allerdings weniger Glück. Um die Leute vor Ort anzutreffen, musste sie zu einer anderen Tageszeit noch einmal vorbeikommen.

      Da sie in der Wohnung keinen Ersatzschlüssel für Nadines Wagen gefunden hatte, musste sie die Durchsuchung des Kofferraums den Kollegen von der Kriminaltechnik überlassen.

      Sie setzte sich in ihr Auto und fuhr los. Allerdings wollte sie nicht sofort zurück ins Büro, sondern vorher noch mit Nadines bester Freundin und den Kollegen im Klinikum sprechen.

      VII

      Da das Klinikum näher lag, lenkte sie den Wagen zunächst dorthin. Sie fuhr zum Haupteingang des Komplexes und parkte auf einem der Kurzzeitparkplätze. Dann ging sie zum Empfang, wies sich aus und erkundigte sich nach der Abteilung, in der Nadine arbeitete. Die freundliche Empfangsdame gab Nadines Namen in den Computer ein und teilte Anja mit, dass sie in der Privatstation im Direktionstrakt des Klinikgebäudes arbeite. Sie beschrieb der Polizistin den Weg, worauf Anja sich bedankte und verabschiedete.

      Anja folgte der

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