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Russische Kindheit bis 1917. Arkadi Petrowitsch Gaidar
Читать онлайн.Название Russische Kindheit bis 1917
Год выпуска 0
isbn 9783754937839
Автор произведения Arkadi Petrowitsch Gaidar
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
“Ach, was willst du denn? Lass mich jetzt in Ruh…” Mutter winkte ab. Aber als sie mein betrübtes Gesicht sah, überlegte sie einen Augenblick, holte ein Schlüsselbund und sagte: “Was soll ich dir viel erzählen? Komm, schließ mal die Kammer auf… In der großen Kiste liegt oben so allerhand Plunder, darunter müssen noch Bücher von Vater sein, eine ganze Menge. Da musst du mal nachsehen… wenn er nicht alle verschenkt hat, findest du da auch was über 1905.” Rasch nahm ich die Schlüssel und stand schon vor der Tür. “Machst du aber ein Glas Marmelade auf anstatt der Bücherkiste oder gehst wieder an die Sahne wie beim letzten Mal, dann kriegst du eine Revolution, dass dir Hören und Sehen vergeht”, rief sie hinter mir her. Die nächsten Tage hindurch hatte ich genug zu lesen. Ich weiß noch, von einem der ersten beiden Bücher las ich nur drei Seiten. Es war mir zufällig in die Hand gekommen und hieß “Die Philosophie des Elends”. Ich begriff kein Wort davon, es war viel zu schwer für mich. Dafür verstand ich aber ein anderes Buch sehr gut. Das las ich in einem Zuge aus und dann gleich noch mal. Es waren die Erzählungen von Stepnjak-Krawtschinski. Darin stand genau das Gegenteil. Die Menschen, die von der Polizei verhaftet wurden, sie waren diesmal die Helden. Die Polizisten aber waren unsympathisch, man konnte sie nur verachten. Von Revolutionären war die Rede. Sie hatten ihre geheimen Organisationen, ihre Druckereien, und sie bereiteten den Aufstand vor gegen die Gutsbesitzer, gegen die reichen Kaufleute und gegen die Generale. Die Polizei bekämpfte diese Revolutionäre und verhaftete sie. Die Revolutionäre gingen in den Kerker oder wurden hingerichtet. Wer aber am Leben blieb, setzte ihr Werk fort. Dieses Buch packte mich, weil ich damals noch nichts von Revolutionären wusste. Und ich ärgerte mich, dass unser Arsamas eine so elende Stadt war, in der man nichts von Revolutionären hörte. Dafür aber hatten wir Einbrecher; bei Tuschkows zum Beispiel war die gesamte Wäsche vom Boden gestohlen worden. Dann gab es noch Zigeuner bei uns, sie waren Pferdediebe. Einen richtigen Räuber hatten wir sogar, er hieß Wanka Seljodkin und hatte den Steuerkontrolleur totgeschlagen. Doch Revolutionäre, die gab es bei uns nicht.
5. Kapitel
Selten kam mal ein Brief von Vater. Er schrieb wenig und immer nur das gleiche: “Bin gesund und munter. Wir hocken im Schützengraben, und keiner weiß, wann das alles mal vorbei ist.” Ich war enttäuscht von seinen Briefen. Was stand eigentlich darin? Ein Soldat an der Front könnte doch von interessanten Dingen berichten, von einem Gefecht, einem Angriff oder von irgendwelchen Heldentaten. Las man aber Vaters Briefe, dann glaubte man, an der Front wäre die Langweile noch schlimmer als an den trüben Herbsttagen bei uns in Arsamas. Warum schrieben nur die anderen von Schlachten und Heldentaten? Da war zum Beispiel der Fähnrich Tupikow, ein Bruder von Mitka. Er schrieb jede Woche einen Brief und schickte auch Fotos mit. Auf einem Bild stand er neben einem Geschütz, auf einem anderen neben einem Maschinengewehr, oder er saß zu Pferde mit dem blanken Säbel in der Hand. Auf einem Bild schaute er aus einem Flugzeug heraus. Mein Vater aber ließ sich nicht einmal im Graben, geschweige denn im Flugzeug fotografieren.
*
Eines Tages, gegen Abend, klopfte es an unsere Wohnungstür. Draußen stand ein Soldat und fragte nach meiner Mutter. Er hatte ein Holzbein und ging auf Krücken. Mutter war nicht zu Hause, musste aber bald zurückkommen. Der Soldat sagte, er sei ein Kamerad von Vater aus demselben Regiment. Er stamme aus einem Dorf bei uns im Kreise und gehe jetzt für immer nach Hause … Vater ließe uns grüßen und habe ihm auch einen Brief mitgegeben. Er setzte sich auf einen Stuhl und lehnte die Krücken an den Ofen. Dann holte er aus seiner Brusttasche einen Brief hervor. Der war voller Fettflecken. Ich wunderte mich, wie dick der Brief war. Noch nie hatte Vater so einen dicken Brief geschickt. Wahrscheinlich waren diesmal Fotografien darin. “Sie sind mit ihm im selben Regiment gewesen?” fragte ich und schaute neugierig dem Soldaten in sein hageres und – wie mir schien – finsteres Gesicht, auf seinen grauen, zerdrückten Mantel mit dem Georgskreuz und auf den groben Stelzfuß an seinem linken Bein. “Im selben Regiment, in derselben Kompanie und im selben Zug, auch im Graben waren wir immer zusammen, Seite an Seite… Du bist wohl sein Junge, was?” “Ja.”
“Aha, der Boris also. Ich weiß. Hab ich von deinem Vater gehört. Hier ist auch ein Paket für dich. Aber dein Vater hat gesagt, du musst es verstecken, darfst nicht drangehen, bis er wiederkommt.” Der Soldat griff in seine lederne Tasche – sie war aus einem Stiefelschaft gemacht. Bei jeder seiner Bewegungen verbreitete sich im Zimmer eine Wolke starken Jodoformgeruchs. Er nahm ein Päckchen heraus und gab es mir. Es war in einen Lappen gewickelt und fest verschnürt, ein kleines Päckchen nur, aber schwer. Ich wollte es schon aufmachen, doch da meinte er: “Warte nur! Nicht so eilig, siehst es noch früh genug.” “Na, wie geht‘s denn so bei euch an der Front? Was machen die Kämpfe, und wie ist die Stimmung bei unseren Soldaten?” fragte ich gelassen und wie selbstverständlich. Der Soldat sah mich mit zusammengekniffenen Augen an. Unter seinem etwas spöttischen Blick verlor ich meine Ruhe, meine Frage erschien mir irgendwie geschwollen und unehrlich. “Sieh mal an!” Der Soldat lächelte. “Wie die Stimmung ist? Das kannst du dir doch denken, mein Lieber, wie im Schützengraben die Stimmung ist… gedrückt ist sie, miserabel.” Er zog seinen Tabaksbeutel heraus und drehte sich schweigend eine Zigarette. Dann blies er eine Wolke beißenden Machorkarauchs ins Zimmer und schaute an mir vorbei auf das Fenster, das rot war von der untergehenden Sonne. “Es hängt uns alles längst zum Hals heraus, und kein Mensch weiß, wie lang das noch dauert”, fügte er hinzu.
Die Mutter kam. Als sie den Soldaten sah, blieb sie stehen und hielt sich am Türgriff fest. “Ist was … passiert?” fragte sie leise. Ihre Lippen waren ganz bleich. “Was ist mit Alexej?” “Vater hat einen Brief geschickt!” rief ich laut. “Einen ganz dicken … da sind bestimmt Fotos drin. Und für mich hat er auch ein Geschenk mitgegeben.” “Lebt er, ist er gesund?” fragte Mutter und warf ihr Tuch ab. “Als ich reinkam und den grauen Mantel sah, kriegte ich Herzklopfen. Da ist bestimmt mit Vater was passiert – dachte ich.” “Bis jetzt nicht”, antwortete der Soldat. “Er lässt vielmals grüßen … und ich soll das Päckchen abgeben. Er wollte es nicht mit der Post schicken … auf die Post kann man sich heute nicht verlassen.” Meine Mutter riss den Umschlag auf. Bilder waren nicht drin, nur fettige, vollgeschriebene. An einem klebte ein wenig Erde mit einem vertrockneten Grashalm. Ich öffnete das Päckchen – eine Mauserpistole war darin mit einem Reservemagazin. “Was hat er sich nur dabei gedacht!” Mutter war ärgerlich. “Das ist doch kein Spielzeug!” “Ist das denn schlimm?” antwortete der Soldat. “Dein Junge ist doch nicht dumm, wie? Er ist bald so groß wie ich. Jetzt soll er sie noch verstecken. Eine gute Pistole ist das. Alexej hat sie in einem deutschen Graben gefunden. So was kann man immer mal brauchen.” Ich berührte den kalten Griff der Waffe, wickelte sie vorsichtig ein und legte sie in einen Kasten.
Der Soldat trank mit uns Tee; sieben Glas trank er aus und erzählte die ganze Zeit von Vater und vom Krieg. Ich trank nur ein halbes Glas, Mutter aber rührte ihre Tasse nicht einmal an. Zwischen ihren Arzneisachen fand sie ein Fläschchen mit Alkohol und schenkte dem Soldaten davon ein. Er blinzelte nur und goss etwas Wasser hinzu. Langsam trank er aus, seufzte und schüttelte sich. “Hat ja alles keinen Sinn mehr”, sagte er und schob das Glas zur Seite. “Zu Hause die Wirtschaft ist ruiniert, schreiben sie. Aber wie hätte ich helfen sollen? Haben selbst schon monatelang nichts