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Russische Kindheit bis 1917. Arkadi Petrowitsch Gaidar
Читать онлайн.Название Russische Kindheit bis 1917
Год выпуска 0
isbn 9783754937839
Автор произведения Arkadi Petrowitsch Gaidar
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
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Ich ging zu Fedka. Er war ganz meiner Meinung. “Klar, das sind Bestien. Die haben den Dampfer Lusitania versenkt mit all seinen friedlichen Passagieren, aber wir, wir haben nichts versenkt. Unser Zar und der englische Zar sind vornehme, edle Menschen. Und der französische Präsident auch. Ihr Wilhelm aber, das ist ein ganz gemeiner Hund!” “Du, Fedka”, fragte ich, “warum heißt denn der französische Zar ‚Präsident‘?” Fedka dachte nach. ‚Weiß ich nicht”, entgegnete er. “Ihr Präsident ist überhaupt kein Zar, hab ich gehört… das ist ebenso.” “Warum ist das so?” “Mein Gott, das kann ich auch nicht sagen. Ich hab mal so‘n Buch gelesen, weißt du, von Dumas. Das ist spannend, lauter Abenteuer. Und in diesem Buch steht, die Franzosen hätten ihren Zaren umgebracht. Seitdem haben sie keinen Zaren mehr, sondern einen Präsidenten.” “Wie können sie denn ihren Zaren umgebracht haben?” Ich war empört. “Du lügst, Fedka, oder du bringst was durcheinander.” “Lieber Gott, doch, sie haben ihn umgebracht und seine Frau dazu. Sie haben sie vor Gericht gestellt und zum Tode verurteilt.” ‚Jetzt hast du aber ganz bestimmt gelogen! Wie kann man denn einen Zaren vor Gericht stellen? Der Richter bei uns, der Iwan Fjodorowitsch zum Beispiel, der kann Diebe verurteilen. Oder da hat neulich einer bei der Pluschtschicha den Zaun kaputtgemacht – den hat er auch verurteilt. Und als Mitka, der Landstreicher, bei den Mönchen einen Kasten mit den Heiligen Hostien geklaut hat – da hat er auch den verurteilt. Aber den Zaren verurteilen, das darf er ja gar nicht. Der Zar, der steht doch über uns allen.”
Fedka ärgerte sich und erwiderte: “Du brauchst es ja nicht zu glauben … Der Saschka Goloweschkin liest gerade das Buch; wenn er es aus hat, kannst du es kriegen. Bei den Franzosen war das ja auch ein ganz anderes Gericht als bei Iwan Fjodorowitsch. Da hat sich das ganze Volk versammelt, und das Volk hat dann den Zaren verurteilt und hingerichtet…” Fedka war in Erregung geraten. “Ich weiß auch, wie sie das gemacht haben. Sie haben ihn nicht aufgehängt, sie haben da so eine Maschine. Guillotine heißt die. Die wird hochgezogen, und dann – zack – ist der Kopf ab.” …Und dem Zaren haben sie auch den Kopf abgehauen?” “Ja, dem Zaren und der Zarin und noch einigen anderen. Soll ich dir das Buch mitbringen? Das ist spannend, sag ich dir … Da kommt ein Mönch drin vor … so ein ganz schlauer, dicker Mönch, der tut so, als wär er fromm, aber in Wirklichkeit ist er ganz anders. Tränen hab ich gelacht, als ich das las.”
*
Eines Tages hieß es, am Bahnhof wären österreichische Kriegsgefangene angekommen. Gleich nach der Schule liefen Fedka und ich dorthin. Der Bahnhof lag weit draußen vor der Stadt. Unser Weg ging am Kirchhof vorbei, führte durch ein Wäldchen, bog dann auf die Landstraße hinaus und lief schließlich noch durch eine lange, gewundene Schlucht hindurch. “Was meinst du, Fedka”, fragte ich, “ob sie die Gefangenen wohl gefesselt haben?” “Weiß ich nicht, vielleicht sind sie gefesselt. Sonst könnten sie ja weglaufen. Aber gefesselt kommen sie nicht weit. Du weißt doch, wenn die Gefangenen ins Gefängnis gehen, kriegen sie kaum die Füße hoch.” “Ja, aber die hat man auch richtig verhaftet, das sind ja Diebe; aber die Kriegsgefangenen haben doch nichts gestohlen.” Fedka runzelte die Stirn. “Glaubst du denn, ins Gefängnis kommt nur, wer gestohlen oder einen totgeschlagen hat? Da sitzen Leute drin aus allen möglichen Gründen.” “Aus was für Gründen denn sonst noch?”
“Na, zum Beispiel, wenn einer … Weshalb haben sie wohl den Lehrer aus der Gewerbeschule eingesperrt? Das weißt du nicht? Dann halt auch lieber den Mund.” Es ärgerte mich immer, dass Fedka stets mehr wusste als ich. Wonach man ihn auch fragte – nur nicht nach den Schularbeiten –, etwas wusste er immer. Ganz bestimmt hatte er das von seinem Vater. Der war Briefträger, und wenn so ein Briefträger von Haus zu Haus geht, erfährt er immer etwas Neues. Den Gewerbeschullehrer – bei uns Schülern hieß er “Dohle” – mochten alle Kinder gern. Zu Beginn des Krieges war er in unsere Stadt gekommen und hatte außerhalb eine kleine Wohnung gemietet. Ich war schon mehrere Male bei ihm gewesen. Er hatte Kinder auch sehr gern und zeigte ihnen auf seiner Hobelbank, wie man Vogelkäfige, Kästchen und Fallen baut. Im Sommer zog er mit einer Gruppe Kinder in den Wald oder zum Fischfang. Er war ein schwarzhaariger, magerer Mensch und wippte beim Gehen wie ein Vogel. Ganz unerwartet wurde er verhaftet. Warum? Das wussten wir nicht. Die einen erzählten, er wäre ein Spion und habe den Deutschen durchs Telefon alle Geheimnisse über unsere Truppenverschiebungen durchgegeben. Es fanden sich auch solche, die behaupteten, der Lehrer sei früher ein Räuber gewesen und habe auf den Landstraßen die Leute ausgeplündert, und das sei jetzt erst herausgekommen. Aber ich konnte das alles nicht glauben. Einmal ging von hier aus überhaupt keine Telefonleitung bis zur Grenze, und was für militärische Geheimnisse oder welche Angaben über Truppenbewegungen hätte er schon aus Arsamas melden können? Bei uns gab es überhaupt nur sehr wenige Soldaten: ein Kommando von sieben Mann mit einem Offiziersburschen und dann noch auf dem Bahnhof vier Bäcker von der Truppenverpflegungsstelle. Sie waren nur dem Namen nach Soldaten, in Wirklichkeit aber ganz gewöhnliche Brötchenbäcker. Eine Truppenverschiebung hatte es in Arsamas nur ein einziges Mal gegeben; das war, als ein Offizier namens Balaguschin aus seiner Wohnung im Hause von Pyrjatin in das Haus von Basjugin umzog. Sonst war so etwas bei uns nie vorgekommen.
*
Inzwischen waren Fedka und ich an der Schlucht angekommen. Ich konnte es vor Neugierde nicht länger aushalten und fragte Fedka: “Du, sag mal, Fed, warum haben sie den Lehrer denn nun wirklich verhaftet? Das mit dem Spion und mit dem Räuber, das stimmt doch nicht, wie?” “Nein, das stimmt auch nicht”, antwortete er. Er ging etwas langsamer und sah sich vorsichtig um, als wären wir nicht auf freiem Feld, sondern unter vielen Menschen. “Den haben sie wegen Politik verhaftet.” Ich konnte Fedka nicht genauer fragen, was für Politik es war, wegen der man den Lehrer verhaftet hatte, denn hinter der Wegbiegung hörte man schon den schweren Tritt einer Marschkolonne, die auf uns zu kam. Es waren an die hundert Gefangene. Sie gingen nicht in Fesseln und wurden auch nur von sechs Soldaten begleitet. Die müden, düsteren Gesichter der Österreicher verschmolzen mit ihren grauen Mänteln und zerdrückten Mützen. Sie marschierten im Gleichschritt, schweigend, in dicht aufgeschlossenen Gliedern. So sehen sie also aus, dachten wir und ließen die Kolonne an uns vorbeimarschieren. Das waren sie, diese Österreicher und Deutschen, vor deren Gräueltaten die ganze Welt sich fürchtete. Sie machten alle ein finsteres Gesicht. Es gefiel ihnen wohl nicht in der Gefangenschaft. Ja, das kommt davon! Als die Kolonne vorbei war, drohte Fedka mit der Faust hinterher: “Das Giftgas habt ihr auch erfunden, ihr verfluchten Deutschen!” Etwas bedrückt kehrten wir nach Hause zurück. Weshalb, weiß ich nicht. Vielleicht, weil die müden, grauen Gefangenen auf uns nicht den Eindruck machten, den wir erwartet hatten. Ohne ihre Uniformmäntel hätte man sie für Flüchtlinge halten können. Die gleichen hageren, erschöpften Gesichter, die gleiche Müdigkeit und jene stumpfe Teilnahmslosigkeit an allem, was um sie herum vorging.
4. Kapitel
Die Sommerferien hatten begonnen. Fedka und ich schmiedeten alle möglichen Pläne. Es gab viel zu tun. Zuallererst musste ein Floss gebaut werden. Das wollten wir auf dem Teich hinter unserem Garten schwimmen lassen, wollten uns dann zum Herrn der Meere erklären und schließlich gegen die vereinigte Flotte von Pantjuschkin und Simakow, die die Zugänge zu ihren Gärten auf dem anderen Ufer beschützte, eine Seeschlacht führen. Unsere Flotte war bis jetzt noch klein und bestand nur aus einem Gartentor, das wir ins Wasser gelassen hatten. Auch an Kampfstärke kam sie längst nicht an den Gegner heran. Der hatte aus dem Flügel eines alten Hoftores einen schweren Kreuzer gemacht und einen hölzernen Viehtrog zum Torpedoboot umgebaut. So ungleich waren die Kräfte verteilt. Wir beschlossen daher, ein Riesenschlachtschiff nach dem neuesten Stand der Technik zu bauen. Als Baumaterial wollten wir die Balken unseres verfallenen Badehauses benutzen. Damit meine Mutter nicht schimpfte, versprach ich ihr, unser Schlachtschiff so zu bauen, dass sie jederzeit ihre Wäsche darin spülen könnte. Der Feind auf dem anderen Ufer hatte bemerkt, dass wir unsere Flotte vergrößern wollten. Das beunruhigte ihn, und so machte er sich auch an die Arbeit. Aber unsere Kundschafter meldeten, dass er uns nichts Ernsthaftes entgegenstellen könnte, da es ihm an Baumaterial fehlte. Er hatte zwar versucht, vom Hof einige Bretter zu stehlen, mit denen die Scheunenwand verschalt werden sollte; doch der