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davon abwenden.

      Ab und zu that er einen Schritt und kam näher heran.

      Hätte er aufgehorcht, so wäre aus dem Saale nebenan ein verworrenes Gesumme an sein Ohr gedrungen; aber er hörte nicht hin.

      Endlich, ohne zu wissen wie, stand er vor der Thür, griff krampfhaft nach der Klinke und öffnete die Thür.

      Er befand sich in dem Sitzungssaal.

      IX. Ein Ort, wo man sich eine Überzeugung bildet

      Madeleine trat vor, machte mechanisch die Thür hinter sich zu und blieb stehen, um in dem Saale Umschau zu halten.

      Es war ein großer schwach erleuchteter, bald mit Lärm erfüllter, bald stiller Raum, wo die Gerechtigkeit in ärmlicher und schauriger Majestät mitten unter dem Volke prangte.

      An dem einen Ende des Saales, wo er selber stand, zerstreute Richter im abgetragenen Amtskleid, mit dem Abknabbern ihrer Nägel oder mit Schlafen beschäftigt; an dem anderen Ende zerlumpter Pöbel; Advokaten in allen möglichen Stellungen; Soldaten mit ehrlichen und groben Gesichtern dazu; altes fleckiges Getäfel; ein schmutziger Plafond; einige mit gelb gewordener, grüner Sersche überzogene Tische; schmuddlige Thüren; mit Nägeln in dem Getäfel befestigte Lampen, die mehr Rauch, als Helligkeit verbreiteten; auf den Tischen Talglichter in kupfernen Leuchtern; Mangel an Licht, an Zierrath, an Heiterkeit, und darüber waltete die strenge Erhabenheit des von Menschen geschaffenen Gesetzes und der von Gott gewollten Gerechtigkeit.

      Niemand beachtete ihn. Alle Augen waren auf einen Punkt gerichtet, eine, an eine kleine Pforte gelehnte Bank, linker Hand von dem Stuhl des Vorsitzenden. Aus dieser Bank, die von mehreren Talglichtern beleuchtet war, saß ein Mann zwischen Gendarmen.

      Dieser Mann war »Er.«

      Madeleine sah ihn, ohne daß er ihn zu suchen brauchte. Seine Augen richteten sich von selbst dahin, als hätten sie gewußt, wo er saß.

      Madeleine glaubte sich selber zu sehen, gealtert, allerdings nicht dasselbe Gesicht, aber dieselbe Haltung und dieselbe Erscheinung, dasselbe starre Haar, derselbe scheue und wilde Ausdruck der Augen, derselbe Kittel; kurz so, wie er damals in Digne umherirrte, mit haßerfülltem Herzen.

      Ihn schauderte bei dem Gedanken, daß er wieder so werden könne.

      Der Mensch sah aus, als sei er mindestens sechzig Jahre alt. Zudem roh, stumpf, verschüchtert.

      Als Madeleine eintrat, waren Alle ausgewichen, ihm Platz zu machen. Der Präsident hatte sich umgewendet, und da er errieth, daß der Ankömmling der Herr Bürgermeister von Montreuil-sur-Mer sei, sich verneigt. Der Staatsanwalt, den öfters Amtsgeschäfte mit ihm zusammenführten, erkannte ihn und verneigte sich gleichfalls. Er beachtete das kaum. War er doch gleichsam von Traumnebeln umsponnen und mit dem Schauspiel vor ihm beschäftigt.

      Richter, Gerichtsschreiber, Gendarmen, grausame Zuschauer, das hatte er schon einmal gesehen, ehemals, vor siebenundzwanzig Jahren. Diese Schrecknisse fand er jetzt wieder; sie waren da vor ihm, sie existirten. Nicht eine Arbeit seines Gedächtnisses hatte sie da hingezaubert, es waren wirkliche Gendarmen und Richter, wirkliche Zuschauer, Menschen aus Fleisch und Blut. Damit lebte seine ganze gräßliche Vergangenheit wieder auf; der alte Abgrund gähnte ihm entgegen.

      Er schrak zurück, drückte die Augen zu und rief in seinem innersten Herzen: »Nun und nimmermehr!«

      Und die Tragik seines Geschicks, die alle seine Gedanken bis zum Wahnsinn verwirrte, fügte es, daß ein anderes Ich von ihm da vor ihm saß! Den Mann auf der Anklagebank nannten Alle Jean Valjean!

      Vor seinen Augen führte sein Phantom ein ungeheuerliches Schauspiel auf, das den schrecklichsten Augenblick seines Lebens darstellte.

      Alles war hier wieder vertreten, dasselbe Gepränge, dieselbe nächtliche Stunde, fast dieselben Gesichter. Nur daß über dem Präsidenten ein Kruzifix hing, was zur Zeit seiner Verurtheilung nicht der Brauch war. Als sein Urtheil gefällt wurde, war Gott nicht da.

      Entsetzt über den Gedanken, daß man ihn sehen könnte, sank er auf einen Stuhl nieder, der hinter ihm stand, und machte sich einen Haufen auf einander geschichteter Cartons, die auf dem Tisch der Richter lagen, zu Nutze, um sein Gesicht zu verstecken. Er konnte jetzt sehen, ohne gesehen zu werden. Allmählich erholte er sich von seinem Schrecken, bekam wieder Fühlung mit der Wirklichkeit und wurde ruhiger, so daß er der Verhandlung folgen konnte.

      Unter den Geschwornen erblickte er Bamatabeis.

      Er sah sich auch nach Javert um, konnte ihn aber nicht entdecken, weil ihm der Tisch des Gerichtsschreibers die Bank, auf der die Zeugen saßen, verdeckte. Zudem war, wie schon erwähnt, der Saal mangelhaft erleuchtet.

      Als Madeleine hereinkam, war der Rechtsbeistand des Angeklagten gerade mit seiner Rede fertig geworden. Die allgemeine Aufmerksamkeit war aufs äußerste gespannt. Seit drei Stunden häufte sich eine erschreckliche Anzahl von Beweismomenten auf dem Haupte jenes unbekannten Menschen, jenes verkommenen, entweder überaus stumpfsinnigen oder überaus pfiffigen Patrons. Der Mann war, wie wir schon gesagt haben, ein Strolch, den man auf einem Felde aufgegriffen hatte, als er aus einem benachbarten Garten einen Ast voll reifer Aepfel davon trug. Wer war dieser Mensch? Erhebungen waren angestellt, Zeugen waren vernommen worden; die Aussagen stimmten überein, die ganzen Erörterungen hatten Klarheit geschafft. Die Anklagebehörde sagte: »Wir haben hier nicht blos einen Apfeldieb vor uns, sondern einen Räuber, einen bannbrüchigen, rückfälligen Verbrecher, einen ehemaligen Zuchthausinsassen, ein überaus gefährliches Subjekt, einen Uebelthäter Namens Jean Valjean. auf den die Gerechtigkeit seit langer Zeit fahndet, und der vor acht Jahren, als er eben aus dem Zuchthaus entlassen war, auf öffentlicher Landstraße einen kleinen Savoyarden Namens Gervais mit bewaffneter Hand beraubt hat, ein § 383 des Strafgesetzbuches vorgesehenes Verbrechen, für das er sich späterhin zu verantworten haben wird, wenn erst die Frage nach der Identität des Angeklagten gelöst ist. Er hat sich eines neuen Diebstahls schuldig gemacht. Also handelt es sich hier um einen Rückfall. Verurteilen Sie ihn wegen des letzten Vergehens; der ältere Fall möge später abgeurtheilt werden. – Diese Anklagen, diesen Zeugenaussagen gegenüber nahm der Angeklagte eine verdutzte Miene an, machte Gebärden, die Nein bedeuten sollten, oder er blickte zur Decke empor. Das Sprechen wurde ihm schwer, seine Antworten bekundeten Verlegenheit, aber von Kopf bis zu Fuß war sein ganzes Wesen eine einzige Ableugnung. Er saß wie ein Blödsinniger unter all diesen Feinden, die mit ausgesuchter Schlauheit Armeen von Gründen gegen ihn ins Feld führten, und wie ein Fremder in der Gesellschaft, die über ihn herfallen wollte. Dabei drohte ihm die äußerste Gefahr, die Wahrscheinlichkeit erklärte sich mehr und mehr gegen ihn, und Alle erwarteten mit mehr Spannung, als er selber, ein schreckliches Urtheil. Stand ihm doch möglicher Weise nicht etwa blos das Zuchthaus, sondern sogar die Todesstrafe bevor, wenn die Identitätsfrage gegen ihn entschieden wurde, und wenn der Fall Gervais mit einer Verurtheilung endete. Welcher Art in aller Welt war der Stumpfsinn dieses Menschen? Schwachsinn oder Pfiffigkeit? Begriff er die Sache zu gut oder gar nicht? Alles Fragen, die von dem Publikum und, allem Anschein nach, auch von den Geschwornen verschieden beantwortet wurden. Dieser Prozeß hatte nicht nur etwas Furchtbares, sondern auch Räthselhaftes; die Entwicklung des Dramas war nicht blos eine grausige, sondern auch eine unklare.

      Der Vertheidiger des Angeklagten hatte also schon seine Rede gehalten, eine Rede in jenem feierlichen und pompösen Stil, dessen sich ehemals alle Advokaten bedienten und der heutzutage nur noch bei den Staatsanwälten beliebt ist. – Der Vertheidiger also hatte sich über den Apfeldiebstahl des Weiteren ausgelassen, einen simplen Gegenstand, zu dessen Erörterung elegante Floskeln nicht paßten; aber Bénigne Bossuet selber hat einst, mitten in einer hochfeierlichen Leichenrede, eine Anspielung auf ein vulgäres Huhn machen müssen und mit Pomp die schwierige Aufgabe gelöst. Der Verteidiger hatte gezeigt, daß der Diebstahl nicht materiell bewiesen war. Sein Klient, den er als Vertheidiger mit gutem Bedacht Champmathieu nannte, war von Niemand bei dem angeblichen Einbruch in den Garten gesehen worden. Man hatte den Zweig in seinem Besitz gefunden, aber er behauptete, der Zweig habe an der Erde gelegen, und er habe ihn einfach aufgehoben. Wo sei ein Beweis für das Gegentheil? Gewiß war der Zweig von einem Diebe, der

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