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Les Misérables / Die Elenden. Victor Hugo
Читать онлайн.Название Les Misérables / Die Elenden
Год выпуска 0
isbn 9783754173206
Автор произведения Victor Hugo
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Keine Beschreibung könnte die wohlwollende und verzweifelte Schwermuth wiedergeben, die aus dem Ton seiner Worte hervorklang.
Jetzt wandte er sich an die drei Sträflinge:
»Nun, ich kenne Euch! Brevet, erinnern Sie Sich ...« Er hielt zögernd einen Augenblick inne und fuhr dann fort: »Erinnerst Du Dich noch an Deine Tricothosenträger mit dem Damenbrettmuster?«
Brevet fuhr verwundert zusammen und sah ihn vom Kopf bis zu den Füßen voller Schrecken an. Madeleine aber fuhr fort:
»Chenildieu, mit dem Beinamen Leugnegott, Deine rechte Schulter trägt tiefe Brandmale, weil Du Dich eines Tages auf eine Kohlenpfanne gelegt hast, um die drei Brandmarkungsbuchstaben auszubrennen, aber es gelang Dir nicht, und man kann sie noch immer deutlich erkenne. Antworte, ist das wahr?«
»Ja wohl!« bestätigte Chenildieu.
Madeleine wendete sich jetzt an Cochepaille:
»Cochepaille, dicht bei der Aderlaßstelle Deines linken Armes ist ein mit Schießpulver blau eingebranntes Datum, der 1. März 1815, der Tag, wo Kaiser Napoleon in Cannes landete. Krempele Deinen Aermel auf.«
Cochepaille legte seinen Arm blos, auf den sofort Alle ihre Augen richteten, und ein Gendarm leuchtete mit einer Lampe. Das Datum stand in der That da.
Der unglückliche Mann wandte sich jetzt zu dem Publikum und den Richtern, mit einem zugleich triumphirenden und verzweiflungsvollen Lächeln, das Allen das Herz, zerschnitt.
»Sie sehen also, ich bin Jean Valjean.«
In dem Saale waren jetzt weder Richter, noch Ankläger, noch Gendarmen. Keiner dachte an die Pflicht, die er zu erfüllen hatte; der Staatsanwalt hatte vergessen, daß er da war, Strafanträge zu stellen; der Vorsitzende, daß er die Verhandlung leiten sollte; der Rechtsbeistand, daß er eine Verteidigung übernommen hatte. Merkwürdig, keine Frage wurde gethan, keine Behörde griff ein. Es ist dem Erhabenen eigen, daß es alle Herzen gefangen nimmt. Keiner vielleicht gab sich Rechenschaft von seinen Empfindungen; Keiner sicherlich wurde sich bewußt, daß vor seinem geistigen Auge ein hehres Licht strahlte; aber innerlich geblendet fühlten sich Alle.
Es war nicht zu bezweifeln, daß man Jean Valjean vor sich hatte. Das sprang sonnenklar in die Augen. Daß der Mann da sich gezeigt hatte, das brachte Klarheit in die ganze Sache, über der eben noch das dichteste Dunkel geschwebt. Ohne daß es einer weiteren Erklärung bedurft hätte, blitzte in dem Hirn der Zuhörer das Verständnis des Vorgangs auf, der sich vor ihren Augen abgespielt hatte, für die einfache, herrliche Thatsache, daß ein Mann sich dem Gericht auslieferte, damit nicht ein Anderer an seiner Stelle verurtheilt werde. Diesem klaren Sachverhalt gegenüber hatten Einzelheiten und Zweifel nichts mehr zu bedeuten.
Dieser Eindruck verging schnell, aber in dem Augenblick war er unwiderstehlich.
»Ich will die Sitzung nicht länger stören,« fuhr jetzt Jean Valjean fort. »Ich gehe, da Niemand mich verhaftet. Ich habe mehrere Angelegenheiten zu erledigen. Der Herr Staatsanwalt weiß, wer ich bin und wo ich hingehe; er kann mich festnehmen lassen, wenn er will.«
Damit ging er auf die Ausgangsthür zu. Keiner erhob seine Stimme, Keiner streckte den Arm aus, ihn aufzuhalten. Alle machten ihm Platz. Es lag etwas Göttliches in seiner Erscheinung, etwas, wovor die Menge scheu und ehrfurchtsvoll zurückweicht. Er entfernte sich langsam. Wer ihm die Thür aufmachte, hat man nie erfahren; aber er fand sie offen, als er bis dahin gekommen war. Hier wendete er sich noch ein Mal um und sagte:
»Herr Staatsanwalt, ich stehe Ihnen zur Verfügung.«
Und zu den Zuhörern:
»Sie Alle, die hier zugegen sind, Sie finden, daß ich Mitleid verdiene, nicht wahr? Du lieber Himmel, wenn ich bedenke, was ich beinahe gethan hätte, so halte ich mich jetzt für beneidenswerth. Indessen wäre es mir lieber gewesen, daß alles dies nicht geschehen wäre.«
Er ging hinaus und es fand sich wieder ein Unbekannter, der die Thür hinter ihm zumachte. Wer Großes und Herrliches vollbringt, ist dienstwilligen Beistandes immer sicher.
Noch ehe eine Stunde verstrichen war, sprachen die Geschworenen Champmathieu von allen Anklagen frei und er wurde auch sofort in Freiheit gesetzt. Sein Erstaunen war nun noch größer; er glaubte, alle Welt sei verdreht geworden und wußte nicht recht, ob er wache oder träume.
I. In was für einem Spiegel Madeleine sein Haar ansieht
Der Morgen graute. Fantine hatte die Nacht über gefiebert und nicht geschlafen, aber doch umgaukelt von heitern Zukunftsbildern; gegen Morgen schlief sie endlich ein. Schwester Simplicia, die bei ihr gewacht hatte, benutzte die Gelegenheit, um einen neuen Trank zu bereiten. Die Wackre befand sich seit einigen Minuten im Laboratorium und beugte sich sehr tief über ihre Arzneien und Fläschchen, weil sie wegen der Dunkelheit nicht deutlich sehen konnte. Plötzlich wandte sie den Kopf seitwärts und stieß einen leisen Schrei aus. Madeleine stand vor ihr. Er war ganz still hereingekommen.
»Sie, Herr Bürgermeister!«
Er fragte leise:
»Wie geht es der Armen?«
»Augenblicklich nicht schlecht. Aber sie hat uns nicht wenig Sorge gemacht!«
Sie setzte ihm auseinander, was vorgegangen war. Fantine sei am Tage zuvor sehr krank gewesen; jetzt aber ginge es besser, weil sie glaubte, der Herr Bürgermeister sei gegangen, ihr Kind aus Montfermeil zu holen. Die Schwester getraute sich nicht, den Herrn Bürgermeister zu fragen; aber sie sah ihm an, daß er nicht dorther kam.
»Das ist recht,« bemerkte er. »Sie haben gut daran gethan, sie nicht eines andern zu belehren.«
»Ja, aber jetzt, wo sie den Herrn Bürgermeister ohne ihr Kind sehen wird, – was fangen wir da an?«
Er sann einen Augenblick nach.
»Gott wird uns etwas eingeben.«
»Man könnte aber doch nicht lügen,« erwiederte halblaut die Schwester.
Mittlerweile war es in dem Zimmer heller geworden, und das Tageslicht fiel gerade auf Madeleines Gesicht. Da hob zufälliger Weise die Schwester ihre Augen auf.
»Um Gottes Willen, Herr Bürgermeister! Was ist mit Ihnen vorgegangen, daß Ihr Haar ganz weiß geworden ist?«
»Weiß?« wiederholte er.
Schwester Simplicia hatte keinen eigenen Spiegel. Sie entnahm daher einen dem Besteck des Arztes, und überreichte ihn Madeleine. Dieser betrachtete sich darin und sagte:
»Sieh da!«
Aber so gleichgültig und leichthin, als denke er an etwas Andres.
Die Schwester ahnte, daß etwas Furchtbares vorgefallen sein mußte, und ein kalter Schauer überlief sie.
»Kann ich jetzt zu ihr?« fragte er nun.
»Werden der Herr Bürgermeister nicht das Kind zurückholen lassen?« forschte die Schwester furchtsam.
»Ja freilich, aber dazu gehören mindestens zwei bis drei Tage.«
»Wenn