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des Angeklagten und die Vernehmung der Zeugen beendigt; aber die Rede des Vertheidigers und des Staatsanwalts mußte noch gehört werden; vor Mitternacht konnte die Sache nicht vorbei sein. Der Kerl wurde ganz gewiß verurtheilt; denn der Staatsanwalt war ein schneidiger Mann, dem die Angeklagten nicht so leicht entschlüpften. Ein gescheidter Mann, der dichtete!

      Madeleine fragte den Gerichtsboten, der vor der Eingangsthür des Schwurgerichtssaales stand:

      »Wird die Thür bald aufgemacht?«

      »Sie wird überhaupt nicht aufgemacht werden.«

      »Wie! Sie wird nicht aufgemacht, wenn die Verhandlung beginnt? Sie ist doch jetzt unterbrochen?«

      »Die Verhandlung hat schon wieder angefangen, aber die Thür wird nicht wieder aufgemacht.«

      »Warum?«

      »Weil der Saal schon überfüllt ist.«

      »Was? Kein Platz mehr?«

      »Kein einziger. Die Thür ist zu. Es darf Niemand mehr hinein.«

      Nach einer Pause fügte er hinzu: »Zwei oder drei Plätze hinter dem Herrn Vorsitzenden sind wohl noch frei, aber die vergiebt der Herr Vorsitzende nur an hohe Beamte.«

      Mit diesen Worten drehte ihm der Gerichtsbote den Rücken zu.

      Madeleine ging mit gesenktem Haupte davon, durch das Vorzimmer hindurch und die Treppe hinunter mit langsamen Schritten, als zaudere er. Offenbar pflog er Rath mit sich selber. Der heftige Kampf, der seit dem Tage vorher in seinem Innern tobte, war noch nicht zu Ende und nahm in jedem Augenblick nur eine neue Form an. Als er auf dem Treppenabsatz angelangt war, lehnte er sich an das Geländer und kreuzte die Arme über die Brust. Plötzlich knöpfte er seinen Rock auf, zog sein Portefeuille hervor, entnahm ihm einen Bleistift, riß ein Blatt ab und schrieb bei dem Licht der Laterne: Madeleine, Bürgermeister von Montreuil-sur-Mer. Dann stieg er eilig die Treppe wieder hinauf, drängte sich durch das Publikum an den Gerichtsboten heran und sagte mit gebieterischem Ton: »Ueberbringen Sie diesen Zettel dem Herrn Vorsitzenden.«

      Der Gerichtsbote nahm den Zettel in Empfang, warf einen Blick darauf und gehorchte.

      VIII. Eine Vergünstigung

      Der Bürgermeister war, ohne daß er eine rechte Ahnung davon hatte, eine Art Berühmtheit. Nachdem die ganze Gegend um Boulogne seines Lobes voll geworden, verbreitete sich der Ruf seiner Tüchtigkeit und Herzensgüte auch über die drei oder vier angrenzenden Departements. Abgesehen von dem großen Verdienst, daß er in dem Hauptorte seiner Gegend die Glasindustrie in Flor gebracht hatte, gab es unter den hunderteinundvierzig Kommunen des Arrondissements Montreuil-sur-Mer nicht eine, die ihm nicht irgend eine Wohlthat verdankte. So hatte er seiner Zeit mit seinem Kredit und seinem Kapital die Tüllfabrik in Boulogne, die Flachsspinnerei zu Frévent und die hydraulische Leinwandfabrik in Boubers-sur-Canche gehalten. Ueberall sprach man den Namen des Herrn Madeleine mit Hochachtung aus. Arras und Douais beneideten das glückliche kleine Montreuil-sur-Mer um seinen Bürgermeister.

      Der Gerichtsrath, der während dieser Sitzungsperiode in Arras den Vorsitz führte, kannte wie jeder Andere den Namen des so hoch und so allgemein verehrten Mannes. Als daher der Gerichtsbote leise die Thür öffnete, sich von hinten über den Stuhl des Vorsitzenden beugte und ihm den erwähnten Zettel überreichte, mit den Worten: »Der Herr wünscht der Sitzung beiwohnen zu dürfen«, nickte der Vorsitzende lebhaft und mit einem Ausdruck der Hochachtung, ergriff eine Feder, schrieb einige Worte auf den Zettel und übergab ihn dem Gerichtsboten mit der Weisung: »Ersuchen Sie den Herrn Bürgermeister näher zu treten.«

      Der Unglückliche, dessen Geschichte wir erzählen, war mittlerweile an derselben Stelle und in derselben Haltung stehen geblieben. Da wurde er aus seinen Gedanken durch eine Stimme geweckt, die zu ihm sagte: »Wollen der Herr Bürgermeister mir die Ehre erweisen und mir folgen?« Es war derselbe Gerichtsbote, der ihm kurz zuvor den Rücken zugedreht und der sich jetzt bis zur Erde verneigte, indem er ihm den Zettel überreichte. Madeleine faltete ihn auseinander und las bei dem Schein der Lampe, in deren Nähe er gerade stand, die Worte: »Der Vorsitzende des Schwurgerichts heißt den Herrn Bürgermeister mit ergebender Hochachtung willkommen.«

      Er zerknitterte das Papier in seiner Hand, als enthielten diese Worte für ihn einen herben, unangenehmen Sinn.

      Dann folgte er dem Gerichtsboten.

      Ein paar Minuten nachher stand er allein in einem von zwei Kerzen erleuchteten, mit Tafelwerk verkleideten Kabinett von strengem Aussehen. Noch klangen ihm die Worte des Gerichtsboten in den Ohren: »Der Herr Bürgermeister befinden Sich im Berathungszimmer. Sie brauchen blos die Thür da aufzuklinken, so befinden Sie Sich in dem Sitzungssaal hinter dem Stuhl des Herrn Vorsitzenden.« Mit diesen Worten vermischte sich noch eine unklare Erinnerung an enge Treppen und dunkele Korridore, durch die er so eben hindurchgekommen.

      Der Gerichtsbote hatte ihn also allein gelassen, und der Augenblick der Entscheidung war gekommen. Er bemühte sich jetzt seine Gedanken zu sammeln, aber vergeblich. Denn gerade, wenn man sie am nöthigsten braucht, um sie mit der Wirklichkeit zu verknüpfen, reißen die Fäden der Ideen im Gehirn. Madeleine befand sich jetzt an dem Ort selber, wo die Richter berathen und verurtheilen. Er sah sich mit stumpfer Gemüthsruhe in diesem stillen und fürchterlichen Zimmer um, wo so viele Existenzen vernichtet worden waren, wo bald sein Name ausgesprochen werden, in dem sein Geschick an einen Wendepunkt gelangen sollte. Er sah die Wände, sah sich selber an und staunte, daß er hier stand.

      Er hatte seit vierundzwanzig Stunden nichts genossen, und war auf den holprigen Wegen empfindlich gerüttelt worden; aber er fühlte jetzt keinen Hunger, keine Müdigkeit, überhaupt nichts.

      An der Wand hing in einem schwarzen Rahmen und unter Glas ein alter Brief von Jean Nicolas Pache, Bürgermeister von Paris und Minister, wohl irrthümlich vom 9. Juni des Jahres 2 datirt, worin Pache der Commune das Verzeichniß der bei ihm in Haft gehaltnen Minister und Abgeordneten übersandte. Diesen Brief studierte Madeleine, und wer ihn dabei hätte beobachten können, würde leicht auf den Gedanken gekommen sein, er müsse ihn sehr interessiren, denn Madeleine verwandte kein Auge davon und las ihn zwei bis drei Mal durch. Gleichwohl verstand er nicht, was er las. Er dachte in dem Augenblick an Fantine und Cosette.

      In diese Gedanken versunken wandte er sich von dem Briefe ab, und sein Blick fiel auf die Thür, die ihn von dem Sitzungssaal trennte. Er hatte sie so gut wie vergessen. Bei diesem Anblick wurden seine Augen allmählich starr und nahmen einen Ausdruck der Bestürzung – des Entsetzens an. Angstschweiß trat zwischen seinen Haaren hervor und rieselte über seine Schläfen herab.

      Einen Augenblick machte er mit Entschiedenheit jene Gebärde, die da bedeutet: Bin ich denn dazu gezwungen? Dann wandte er sich rasch um, sah die Thür, zu der er hereingekommen, ging darauf zu und eilte hinaus. Jetzt war er nicht mehr in dem Schreckenszimmer, sondern draußen, in einem langen schmalen Korridor mit Treppenstufen und Schaltern, wo Laternen ein trübes Licht verbreiteten, demselben, wo er eben hergekommen war. Er athmete auf, lauschte. Kein Geräusch vorn noch hinten. Nun rannte er, als hätte er Verfolger hinter sich.

      Als er um mehrere Ecken herumgebogen war, horchte er wieder. Immer noch dieselbe Stille und dasselbe düstere Halbdunkel. Er war außer Athem und schwankte, so daß er sich an die Wand anlehnen mußte. Die Steine waren kalt, der Schweiß auf seiner Stirn eisig, und er richtete sich wieder auf, indem ihn schauderte.

      Hier stand er nun, bebend vor Kälte und wohl noch aus einem andern Grunde, und sann nach.

      Die ganze Nacht, den ganzen Tag über hatte er so gesonnen, und jetzt hörte er in seinem Innern nur noch eine Stimme, die zu ihm sprach: »Es muß sein!«

      So verfloß eine Viertelstunde. Endlich senkte er den Kopf auf die Brust, seufzte qualvoll, ließ die Arme hängen und kehrte um, langsam und überwältigt von seinem Schmerz. Es war, als hätte ihn ein Verfolger auf der Flucht eingeholt und bringe ihn jetzt zurück.

      Er ging also nach dem Berathungszimmer zurück. Das Erste, worauf sein Blick fiel, war die glänzende Klinke, die ihm wie ein Unglücksstein in die Augen leuchtete. Er sah

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