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Monstratorem. Anja Gust
Читать онлайн.Название Monstratorem
Год выпуска 0
isbn 9783753185286
Автор произведения Anja Gust
Жанр Языкознание
Серия Die Geschichte der Sina Brodersen
Издательство Bookwire
Für die Dauer von einigen Minuten stand ihr Körper unter höchster Anspannung. Ihr schien, als würde sie von einer unsichtbaren Hand berührt, vor allem an Stellen, an denen sie sehr empfindlich war. Ihr Herz begann zu rasen und vor ihren Augen tanzten bunte Ringe. Eine Art Übelkeit brachte sie fast zum Erbrechen. Mit beiden Händen gegen die Wand gestützt, neigte sie sich vornüber und schöpfte tiefen Atem. Dann endlich wurde es besser. Diesmal würde sie nicht minutenlang unter eiskaltem Wasser stehen wie beim letzten Mal.
Erleichtert drehte sie den Wasserhahn zu, stieg aus der Dusche und rubbelte mit einem Handtuch ihre kurzen Haare trocken. Ihr Körper war in einen frotteeweichen Bademantel eingehüllt. Danach musterte sie sich kritisch im Badezimmerspiegel.
‚Morgen werde ich euch blond färben, vielleicht mit ein paar grasgrünen Strähnen drin‘, verordnete sie sich, wie so manches, was ihr ebenso schnell einkam, wie es wieder verschwand. Obgleich sie figürlich gut geraten war und ihre braunen Augen durchaus warmherzig wirkten, ja in manchen Momenten sogar erstaunlich ausdrucksvoll werden konnten, fand sie sich nicht sonderlich attraktiv. Ihre Lippen erschienen ihr zu wulstig und ihre Augen zu eng stehend. Außerdem waren ihre Brüste zu klein und ihr Hintern zu flach – Attribute, mit denen man bei Männern kaum punkten konnte, es sei denn, man verstand sich anzubiedern. Doch gerade das konnte sie noch nie. So etwas ließ ihr Stolz nicht zu. Schon deshalb würde sie wohl das Gefühl der großen Liebe, die angeblich jeden im Leben einmal trifft, niemals kennenlernen. Aber wer weiß, ob es so etwas überhaupt gab und wenn, wäre sie dafür wohl kaum geschaffen. Doch sie war deswegen nicht verzagt. Boy und die Natur entschädigten dafür, auch wenn ihre Sehnsucht freilich blieb.
Sie ertappte sich dabei, wie sie sich einen Kussmund zuwarf und von einer Erwiderung träumte. Weiche Lippen müssten es sein, unbedingt. Dazu das Stacheln von Bartstoppeln und jener typisch maskulinen Kombination von Zartgefühl und Dominanz, was einen ‚echten‘ Mann ausmachte. Bei dieser Vorstellung wurde ihr ganz flau. Ob es ihn gab, wusste sie freilich nicht. Doch wenn, würde sie es erkennen.
Aber was geisterte schon wieder durch ihren Kopf? Rasch vertrieb sie diese Gedanken und beschloss, sich ihrem Outfit zu widmen, selbst wenn unklar blieb, für wen. Mit dem Zeigefinger klopfte sie ihr Make-up ein und trug Lipgloss auf. Sogleich schnitt sie allerlei Grimassen, um sich aufzumuntern. Dann betrachtete sie bedrückt ihren linken Schneidezahn und beide Eckzähne, die etwas verwinkelt hervorstanden. Die Mutter hatte damals versäumt, für eine Zahnspange zu sorgen, nicht aus Nachlässigkeit, sondern Müßiggang, wie immer, wenn sie mit anderen Dingen beschäftigt war. Unter den Folgen litt Sina noch heute. Kurze Zeit später knipste sie die Halogenlampen wieder aus und verließ das Bad.
Trotzdem fühlte Sina sich in Ahlefeldt geborgen. Der Hof ihrer alteingesessenen Familie lag am Dorfrand. Zur Straße hin schloss eine Eibenhecke das Grundstück ab. Die Nachbarn waren weit verstreut und die nähere Umgebung weitgehend menschenleer. Manchmal war es schon beängstigend, in Notfällen auf sich selbst angewiesen zu sein. Ebenso bedrückte sie die Einsamkeit an den Feiertagen. Und doch hatte sie sich nach dem Tod der Eltern für dieses Leben entschieden – eigentlich ein Unding und doch wurstelte sie sich irgendwie durch. Etliche Male hatte sie sich von den Aufgaben und Pflichten erschlagen gefühlt, die ein solcher Besitz mit sich brachte. Aber wenn man sie fragte, wie sie das alleine schaffte, hob sie nur die Achseln.
Einige der Hektar Land hatte Sina dem Nachbarn Volker Grimmel verpachtet – eine gelungene Investition, denn der Boden war fruchtbar und die Erträge reichlich. Somit musste sie nicht auf Stellung in einen fremden Haushalt gehen. Schließlich hatte sie mit der Zeit alles nach ihren Bedürfnissen zurechtgerückt. Und für noch Fehlendes entschädigte Boy.
Vom Bistensee her erhob sich ein morgendliches Wehen. Der Wind streifte die Schilfufer und lief gen Osten übers Land. Die Landschaft träumte in berückender Wildheit vor sich hin. Dort, wo mit zerzaustem Fell die ruhenden Galloway-Rinder in den Gräsern des Extensivgrünlandes lagen und wiederkäuten, wich die Beschaulichkeit der Nacht. Am ewig schmatzenden Ufersaum putzten sich die Stockenten. Verfilzte Wiesen sträubten ihr Grasgefieder. Brombeerhecken überwucherten Zäune. Trollblumen, Klee und Knöterich sumpfdotterten den ersten Sonnenstrahlen entgegen und am Himmel flogen Wildgänse wie in einem Perlenstrang aufgereiht.
Nach dem Frühstück ließ Sina Boy hinaus. Sie streifte sich die Daunenjacke über und begab sich zur Scheune mit dem efeuumrankten Schiebetor, um ihr handwerkliches Tagwerk zu beginnen. Nachdem sie das Vorhängeschloss entriegelt hatte, zog sie ruckartig das Tor zur Seite. Während der Hund sofort schnüffelnd jeden Winkel der Scheune erkundete, ging sie zum Böckmann-Anhänger hinüber, zog die Plane zurück und begutachtete Volkers gestrige Fuhre. Diese bildete wieder einmal allerlei Sammelsurien, darunter eine Unzahl putziger Keramikzwerge, von manchen als Schnickschnack abgetan, für andere wiederum heiß begehrte Ware.
Sorgsam betrachtete sie die einzelnen Stücke und ließ ihre Finger prüfend darüber gleiten. Während sie die abgeblätterte und schwindende Farbe der Bartträger sachkundig inspizierte, stellte sie Prognosen über deren Restaurierung und spätere Preise an.
Diese Lieferung hatte ihr der Grimmel irgendwo im Osten, womöglich in Polen, ergattert, wo dieses Zeug billig zu haben war. Ob nun geklaut, ergaunert oder legal erworben, war ihr nicht wichtig. Voller Dankbarkeit nahm sie seine Hilfe an und war froh, somit zu einem kleinen Nebenerwerb zu kommen.
Mittlerweile hatte Volker die Sechzig schon weit überschritten und wirkte mit seinem stets blassen, eingefallenen Gesicht wie ein Hypochonder. Von Gestalt her war er eher schmächtig und klein. Darüber hinaus hatte er große, abstehende Ohren und anstelle einer Haarpracht einen schmalen grauen Haarkranz, der ihm zusammen mit seiner großen Brille etwas Gelehrtenhaftes gab. Längere Gespräche waren mit ihm nicht ratsam, weil er sich schnell in Nebensächlichkeiten verlor und dann kein Ende mehr fand. Wenn sich Sina dennoch hin und wieder dazu durchrang, dann weniger aus Gesprächslust als Notwendigkeit. Gab es doch oft genug Situationen, in denen sie auf seine Hilfe angewiesen war. Dabei zeichnete ihn eine erstaunliche Zuverlässigkeit aus und er knüpfte seine Hilfe auch niemals an Bedingungen.
So war er ihr zu einem guten Freund geworden, den sie nicht mehr missen mochte. Und obwohl er um seine Chancenlosigkeit wusste, beobachtete er sie in unbemerkten Momenten bisweilen mit sonderbar verklärten Blicken. Das fiel ihr immer wieder auf. Es war unschwer zu erraten, welche Qualen er dabei litt. Und doch kam das überhaupt nicht in Frage. Sie war ein für alle Mal kuriert, und schuld daran war ihr langjähriger Lebenspartner oder besser Lebenskünstler Ove Dagover, ein smarter Schönling, den sie einst zu lieben glaubte.
Er hatte sie nach fünfjähriger Beziehung Knall auf Fall wegen einer deutlich jüngeren Großstadtmieze sitzen gelassen. Dabei nannte er nicht mal einen Grund. Vielmehr meinte er lapidar, ein Mann in seiner Position, die zu großen Hoffnungen berechtigte, benötigte kreativen Freiraum. Was er damit meinte, wusste er wohl selbst nicht. Er war ohnehin in vielen Dingen sehr direkt und verkniff sich nicht einmal, sie ein ‚retardiertes Landei‘ zu nennen, und fand das auch noch originell. Damit spielte er auf Sinas Liebe zur Schlichtheit des ländlichen Lebens an. Dafür konnte er sich niemals erwärmen, trotz anfangs gegenteiliger Beteuerungen.
Diese hielten allerdings nur so lange, bis er in ihre vertraglich gesicherte Lebensgemeinschaft eingetragen war. Eine Frau wie sie verstehe zwar, zu arbeiten und zu kochen, von ihm aus auch zu putzen, könnte jedoch nicht wirklich seinen Ansprüchen genügen. Auch wenn er sich damit als schäbiger Egomane entlarvte, der nicht den Dreck unter dem Nagel wert war, kränkte es sie.
Aber genau genommen war ihre Trennung nur eine Frage der Zeit. Es war ihr schon immer schwergefallen, mit ihm zusammen zu sein, besonders in bestimmten Momenten. Nicht, dass sie sich nicht bemüht hätte. Im Gegenteil. Doch da war eine Hemmschwelle, die es ihr unmöglich machte, sich zu öffnen und nach seinen Wünschen zu reagieren.
Dabei hätte er das ohnehin nicht verdient, denn im Grunde war er ein komischer Vogel und durchaus nicht