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Zehn Jahre später. Jules Verne
Читать онлайн.Название Zehn Jahre später
Год выпуска 0
isbn 9783754175477
Автор произведения Jules Verne
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
»Vater!« rief Rudolf, die Hand des Grafen ergreifend. – »Es ist gut, mein Junge. Uebrigens – d'Artagnan ist mit mir aus England zurückgekommen – du bist ihm einen Besuch schuldig.« – »Ich gehe mit Freuden zu ihm!« rief Rudolf. – »Weißt du, wo du ihn findest?« – »Nun, doch im Louvre oder im Palais – überall, wo der König ist – ist er doch Leutnant der Musketiere –« – »Das ist er nicht mehr – er hat den Dienst quittiert. Du findest ihn bei seinem früheren Diener Planchet, der in der Lombardstraße eine Kolonialwaren-Handlung aufgemacht hat. Grüße ihn von mir und bringe ihn zum Diner hierher. Adieu, Rudolf!«
Rudolf fand d'Artagnan jedoch nicht bei Planchet. Aber als er tags darauf an der Spitze von 50 Dragonern aus Vincennes zurückkehrte, sah er auf dem Baudoyer-Platze einen Mann stehen, der ein Haus angelegentlich betrachtete, als wenn er sich mit dem Gedanken trüge, es zu kaufen. Dieser Mann trug einen Zivilrock, den er bis ans Kinn zugeknöpft hatte, und dazu einen kleinen Hut und ein langes Schwert in lederner Scheide. Im Näherreiten erkannte Rudolf in diesem spießbürgerlichen Zivilisten den gesuchten Chevalier. »Sehe ich recht?« rief er. »Herr d'Artagnan!« – Und er sprang ab und drückte seinem alten Freunde die Hand. – Der Chevalier warf einen Blick auf die Reiterschar und sagte: »Gib acht, Rudolf, das zweite Pferd in der fünften Reihe verliert ein Hufeisen, ehe ihr 200 Meter weiter seid. Willst du mit mir speisen?« – »Gewiß. Mein Unteroffizier kann die Leute nach Hause führen.« Er gab sein Pferd ab und nahm den Arm des Chevaliers. – »Kommst du von Vincennes?« fragte dieser. – »Ja.« – »Und was macht der Kardinal?« – »Man sagt, er sei tot.« – D'Artagnan zuckte gleichgültig die Achseln. »Wie stehst du zu Fouquet, Rudolf?« – »Den kenne ich nicht.« – »Das ist bedauerlich. Ein neuer König will poussiert sein.« – »O, der König ist mir gewogen,« rief Bragelonne.
»Ich meine nicht den, der die Krone trägt, sondern den, der in Wahrheit König ist, und das ist, nachdem Mazarin tot, kein anderer als Fouquet. Stell dich gut zu ihm, sonst verschimmelst du, wie's mir gegangen ist. Ja, wenn Ludwig wäre wie Karl II. Das ist noch ein König, sage ich dir! Bei dem müßtest du Dienste nehmen. Da gibt es keine knauserigen Finanzpächter und italienischen Langfinger. Ach, geh mir einer mit einem König, der den ganzen Tag über seufzt, und über dessen Lippe niemals ein anständiger Fluch kommt!« – »Deshalb also haben Sie Ihren Abschied genommen, Chevalier?« antwortete Rudolf. »Ja, wer so denkt, kann auch nicht sein Glück machen.« – »Pah,« versetzte d'Artagnan, »ich bin versorgt. Ich habe Vermögen.«
Rudolf sah ihn erstaunt an, denn d'Artagnans Armut war sozusagen sprichwörtlich geworden, wie die des alten guten Hiob. – »Na, hat dir's dein Vater nicht erzählt?« fuhr der Chevalier fort. »Ich habe in England Glück gehabt. Der Vizekönig von Irland und Schottland hat mir zu einer Erbschaft verholfen. Und zwar zu einer ganz hübschen runden Summe. Eben habe ich das Haus dort gekauft, das ich so angelegentlich betrachtete. Eine gute Kapitalsanlage, sage ich dir. Ja, ja, man muß auch Geschäftsmann sein. Es ist eine Kneipe in dem Hause, Junge, die ich für eine schöne Pachtsumme vermieten kann. Und weißt du warum? weil die Hinterfenster der Kneipe auf den Grèveplatz hinaussehen, und wenn dort eine Hinrichtung stattfindet, dann verkauft der Wirt Zuschauerplätze für teures Geld. Und diese schauerliche Kneipe führt den schönen Namen »Gasthaus Notre-Dame«. Doch nun laß uns zu Planchet gehen, dort wohne ich einstweilen noch.«
Der Krämer war ausgegangen, aber das Mittagessen stand bereit. Denn es herrschte dort noch ein Rest von militärischer Pünktlichkeit. D'Artagnan und Rudolf setzten ihr Gespräch fort. – »Sage mal, mein Junge,« begann der Chevalier, »dein Vater nimmt dich fest in die Kandare?« – »Und mit Recht, Herr Chevalier.« – »Na, ich weiß, Athos ist ein bißchen genau. Wenn du mal ein paar Pistolen brauchst, so denke dran, daß der alte Musketier auch noch da ist. Du spielst gern mal 'ne Partie, was? Nein? Dann hast du wohl Glück in der Liebe. Mach keine Flausen, Junge. Warum wirst du so rot? Liebschaften kosten noch mehr als das Spiel. Aber es findet sich dabei wenigstens bald mal Gelegenheit, vom Leder zu ziehen, wozu man unter einem König wie Ludwig XIV. sonst gar nicht mehr kommt. Denn gib acht, Rudolf! Jetzt, wo er den Kardinal los ist, wird Ludwig sich ein Gnadengehalt von Fouquet aussetzen lassen und nach Fontainebleau ziehen, um auf ein Fräulein von Mancini Verse zur Laute zu singen. Und dann nimmt er seiner Schweizergarde die silbernen Tressen und läßt sie unechtes Zeug tragen, und den Musketieren nimmt er die Pferde, weil jedes davon für 50 Sous täglich Hafer frißt. Doch mir ist's gleich. Ich bin ja nicht mehr Musketier. Ob sie nun beritten sind oder zu Fuß gehn, ob sie Schwerter tragen oder Bratspieße, was schiert das mich?«
»Chevalier, reden Sie nicht so geringschätzig von Seiner Majestät, denn ich stehe in königlichem Dienst und darf dergleichen nicht mit anhören,« sagte Rudolf ernst. »Der Reichtum scheint Sie auch nicht lustiger zu stimmen als vorher die Armut.« – »Hast recht, mein Junge,« sagte d'Artagnan, »ich bin eine alte verrostete Klinge, ein durchlöcherter Panzer, ein Sporn ohne Rad, ein Stiefel ohne Sohle.« – Sie lachten beide herzlich und wurden darin durch einen Ladendiener unterbrochen, der hereinkam und einen an d'Artagnan adressierten Brief abgab. – »Das ist meines Vaters Handschrift,« sagte Bragelonne. – »Ja,« rief der Chevalier, öffnete den Brief und ließ ihn erstaunt auf den Tisch fallen. »Du, Junge, ich soll zum König kommen. Man hat mich bei deinem Vater gesucht. Was steckt denn nun da wieder dahinter!«
»Ich finde nichts Sonderbares dabei,« sagte Rudolf. »Es ist ganz natürlich, daß der König einen so treuen Diener wie Sie vermißt.« – »Schmeichelkätzchen!« rief d'Artagnan. »Nein, die Sache hat einen andern Haken, mein Junge. Du weißt noch wenig von der Hofluft und ihren Gefahren. Wenn man zwei Kardinäle hat sterben sehen wie ich – zwei Kardinäle, von denen der eine ein Tiger, der andere ein Fuchs war – dann sieht man schärfer. Höre, geh zu deinem Vater und sag ihm, ich sei nach England gereist. Du guckst mich an? Denkst du denn etwa, ich würde nun gleich zum Louvre eilen und mich dem gekrönten Gelbschnabel zur Verfügung stellen? Ich weiß, was er will. Er will mich in die Bastille stecken. Denn wisse, Junge, eines Tages in Blois habe ich ihm gründlich die Wahrheit gesagt, hab ihn, wenn auch in verblümter Form, eine Memme, einen Trottel gescholten. Damals konnte er mich nicht verhaften lassen, denn ich war selber Kommandant der Wache und hätte den Befehl einfach nicht ausgeführt, hätte mich mir selber widersetzt. Jetzt ist Mazarin tot, nun will sich das Jüngelchen aufspielen und mich gefangennehmen. Das konnte er nicht riskieren, solange die Eminenz lebte; denn Mazarin und ich, wir kannten einander. Er wußte von mir allerlei Kleinigkeiten und ich ebenso von ihm; also schätzten wir uns gegenseitig. Kurz und gut, Rudolf, d'Artagnan reißt aus. Sag' deinem Vater, ich sei nach England.«
»Sie können nicht mehr fliehen, Chevalier,« sagte Rudolf mit einem Blick auf die Straße, »dort unten steht ein Offizier der Schweizergarde, der auf Sie wartet.« – »Ei, da geh ich einfach nicht auf die Straße, sondern schlüpfe zur Hintertür hinaus, und wenn ich vier Pferde totreite – ein Luxus, den ich mir jetzt leisten kann, so bin ich in elf Stunden in Boulogne.« – »Aber, lieber Chevalier, der König wird sagen, Sie fürchteten sich vor ihm.« – »Da wird er zum erstenmale in seinem Leben recht haben,« antwortete d'Artagnan ruhig. »Ich fürchte mich auch wirklich. Potzblitz, soll ich mich denn in die Bastille stecken lasten?« – »Der Graf de la Fère würde nicht fliehen,« sagte Rudolf mit Stolz.
D'Artagnan kaute an seinem Schnurrbart. – »Aber wenn ich nun in die Bastille gesteckt werde?« rief er polternd. – »Dann holen wir Sie heraus,« sagte Rudolf ruhig. – »Potzblitz, Junge!« lachte d'Artagnan und drückte ihm die Hand. »Das nenne ich ein Manneswort. Gut! Mein Geld ist dir und deinem Vater vermacht. Meinetwegen laßt dafür Messen für mich lesen.« Damit schnallte er den Degen um, nahm den Federhut vom Nagel, umarmte Rudolf noch einmal und schritt auf die Straße hinaus. – »Hier bin ich, Herr,« sagte er zu dem Schweizer-Offizier. »Lassen Sie mich den Degen wenigstens bis zum Louvre tragen. Ich komme mir so dumm vor ohne Schwert, und Sie würden sich wohl noch dümmer vorkommen, wenn Sie zwei trügen.«