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wieder eine Freude!“

      „Und? Konnten Sie etwas von dem Mädchen erfahren?“, fragte Thomas Bierman Melanie Escher.

      Die Mitarbeiterin des Jugendamts sah übermüdet aus. Ihre Augen waren leicht gerötet, das Haar unfrisiert und sie trug auch noch dieselbe Kleidung wie tags zuvor. Es war klar, dass sie seit dem Zusammentreffen mit ihrer jungen Schutz­befoh­lenen dieser nicht von der Seite gewichen war. Ein zwei­­tes Essenstablett auf dem Besuchertisch und die darauf befindlichen Packungen von Automatensüßigkeiten bestä­tig­ten ebenfalls diesen Ein­druck. Langsam wandte sie den bei­den Polizisten das Gesicht zu, und bevor sie etwas sagen konnte, schob Sarah ein Guten Morgen, Frau Escher. Wie geht es denn der Kleinen und wie geht es Ihnen zwischen. Sie wollte keinesfalls auf derselben Stufe der Sozialkompe­tenz wahr­genommen werden, wie ihr zuweilen ruppiger Part­ner. So konnte sie der Sozialarbeiterin auch ein müdes Lächeln ent­locken.

      „Guten Morgen, Frau Hansen, Herr Bierman. Lassen Sie uns kurz auf den Flur gehen“, schlug sie vor.

      Thomas und Sarah folgten ihr durch die Tür, die sie offen­ließen, damit die Patientin sie noch sehen konnte.

      „Ihr geht es physisch gut“, knüpfte Escher an die Frage an. „Die Unterkühlung ist schad­los über­standen. Blutdruck, Blut­werte et cetera sind allesamt in einem ordentlichen Bereich. Aber, um auf Ihre Eingangs­fra­ge zurückzukommen, gesprochen hat sie bisher nicht. Die Psy­chi­aterin hat einige vorsichtige Versuche mit ihr ge­macht. Zeichnungen, Pikto­gramme, Fotografien und so. Auf Bilder von kleinen Tieren hat sie mit ver­haltenem Lächeln reagiert, auf ein Foto von einem Christ­baum mit leuchtenden Augen. Wir dürfen also anneh­men, dass sie im christlich geprägten Umfeld aufge­wachsen ist. Auf Bilder von Men­schen hat sie nicht wahr­nehmbar rea­giert, sondern ist in der Lethargie ver­harrt, die Sie ja kennen.“

      Sarah wies auf das Tablett, das noch auf dem Rollschrank neben dem Mädchen stand.

      „Hat sie gegessen? Und auf welche Art und Weise, ich meine, ihren Umgang mit Besteck und so weiter.“

      Melanie Escher nickte langsam und nachdenklich, bevor sie antwortete.

      „Ihr ist der Umgang mit Messer, Gabel und Löffel vertraut. Sie benutzt das Besteck europäisch, nicht wie ein Ame­ri­ka­ner. Sie hat auch Butter, Streichwurst, Käse und das Ei ganz normal zu sich genommen, so wie Sie und ich das auch tun.

      „Schön, dass sie die Nahrung nicht verweigert“, stellte Sa­rah diesen Aspekt in den Vordergrund. „Das hätte auch anders sein können!“

      „Ja, das ist im Moment das Wichtigste“, bestätigte die So­zial­arbeiterin und fuhr dem rothaarigen Mädchen mit der Hand über den Kopf.

      „Hat sich die Psychiaterin schon dazu geäußert, wie wir an das Mädchen herankommen?“, fragte Thomas, dem die Fortschritte in dem Fall wichtiger zu sein schienen.

      Escher schüttelte den Kopf.

      „Sie hat nichts Konkretes gesagt. Dass sie Zeit brauche, mehr nicht.“

      „Können wir denn irgendetwas besorgen? Ein Stofftier viel­leicht?“, wollte Sarah wissen und die Betreuerin nickte dank­bar.

      „Ja, das bringt uns zwar nicht unbedingt weiter, aber erhöht möglicherweise ihr Wohlbefinden. Und es ist gut, wenn sie et­­was Vertrautes in ihrer Nähe hat, sollten wir sie in den näch­­s­ten Tagen aus diesem Umfeld herausnehmen. Ich weiß nicht, wie lange sie noch hierbleiben soll, medizinische Grün­de, außer ihres psychischen Zustandes, liegen jedenfalls kei­ne mehr vor.“

      „Dann gehen wir doch mal ein Stofftier kaufen.“

      Sarah stupste ihren Partner in die Seite.

      „Ein großes!“, bat Frau Escher. „Was zum Kuscheln!“

      „Okay.“

      In diesem Moment kam ein junger Mann im Pflegeroutfit den Gang entlang. Gutgelaunt warf er dem Trio ein Guten Morgen zu, betrat das Krankenzimmer, schnappte sich das Ta­blett vom Gästetisch und brachte es aus dem Zimmer, um kurz darauf wieder zu erscheinen um sich laut pfeifend das zweite Tablett vom Rollschrank zu nehmen. Sarah und Frau Escher bemerkten sofort die Reaktion des Mädchens, die den Pfleger mit offenem Mund anstarrte und mit großen Augen seinen Bewegungen folgte. Und als er wenige Sekunden spä­ter mit einer Flasche Apfelsaft und einem Eis am Stiel zurück in den Raum kam, immer noch die leicht melancholische Melodie pfeifend, nahm auch Thomas wahr, dass sich das Verhalten der Rothaarigen geändert hatte. Ihr Mund war jetzt geschlossen und mit einem Lächeln auf dem Gesicht summte sie ganz leise die Melodie mit! Der Pfleger stellte das Getränk auf den Rollschrank und reichte dem Mädchen das Eis. Er summte nun ebenfalls, grinste die junge Patientin an und machte sich daran, das Zimmer zu ver­lassen.

      „Stopp“, hielt ihn Thomas auf und er wählte Lautstärke und Tonfall so, dass es nicht aggressiv herüberkam. Er trat in den Raum.

      „Bleiben Sie bitte noch kurz“, bat er den jungen Mann. „Sin­gen Sie weiter. Mit Text, wenn möglich.“

      Gleichzeitig klopfte er mit der flachen Hand auf das Fuß­en­de des Bettes. Der Pfleger verstand sofort, wandte sich dem Mädchen zu, lächelte es an und begann, den Blick­kontakt zu ihr herzustellen. Als sie zurücklächelte, setzte er sich auf das Bett und stimmte das Lied erneut an, dies­mal sang er in einer den anderen Anwesenden unbekannten Spra­che. Das Mäd­chen wiegte den Kopf im Rhythmus und auf einmal sang es ganz leise mit! Niemand wagte, diesen fast innigen, aber fragil wirkenden Moment zu stören, und so sangen die bei­den drei Strophen, bis sie gemeinsam auf ei­nem langen Ton verblieben und das Lied beendeten. Der Pfle­ger fragte das Mädchen etwas in der fremden Sprache, doch sie reagierte nicht darauf. Stattdessen kehrte sie ihre Aufmerksamkeit zurück auf ihr Inneres und drehte den Kopf zur Seite.

      Thomas wandte sich dem Pfleger zu.

      „Verraten Sie mir, was das für ein Lied war und welche Spra­che Sie mit ihr versucht haben zu sprechen?“, flüsterte er dem jungen Mann zu.

      „Das ist ein rumänisches Kinderlied. In der Heimat meiner Eltern kennt das jedes Kind“

      „Rumänien“, echote Sarah, die mit Melanie Escher ebenfalls das Zimmer betreten hatte. „Die Kleine kommt also aus Ru­mä­nien.“

      Die beiden Polizisten, der Pfleger und die Sozialarbeiterin be­trachteten die Patientin, die die Augen geschlossen hatte und leise, kaum wahrnehmbar die Melodie summte.

      „Sie sagten, die Heimat Ihrer Eltern“, brach Thomas das Schwei­­­gen. „Sie sind hier geboren?“

      „Ja, aber da zu Hause immer Rumänisch gesprochen wurde und meine Verwandtschaft dort lebt, kann ich es ganz gut“, beantwortete der junge Mann gleich die Frage, die Thomas impliziert hatte.

      „Sehr gut!“, meinte Thomas. „Dann werden wir nachher mit Ihrer Stationsleitung sprechen. Wir brauchen Sie jetzt, um eine Beziehung zu dem Mädchen aufzubauen. Machen Sie das über Musik, über Kinderbücher oder auf was auch im­mer sie reagiert. Es wird ständig jemand dabei sein, Frau Escher oder die Psychiaterin oder ein Kollege von uns. Wenn sie etwas sagen sollte, oder auf etwas, das Sie sagen, auffällig reagiert, notieren Sie das und teilen es uns mit. Herr?“

      Der Mann deutete auf sein Namensschild.

      „Dumitru“, sagte er. „Sie können mich aber gerne Li­viu nennen.“

      „In Ordnung, Liviu“, nahm Thomas den Vorschlag an. „Ha­ben Sie noch rumänische Kinderbücher? Märchen­bücher vielleicht? Oder kennen Sie weitere Kinderlieder?“

      Der Pfleger überlegte kurz.

      „Ja, ich glaube, ich habe eine Kiste mit Kindersachen zu Hau­se stehen. Da dürfte das ein oder andere Buch ebenfalls da­bei ­sein. Meine Frau ist der Meinung, dass, wenn wir mal Kinder haben, sie von ihren rumänischen Wurzeln et­was mit­be­kommen sollten.“

      „Können Sie Ihre Frau bitte anrufen?“, übernahm Sarah von ihrem Partner.

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