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saß sie zumeist in der heimeligen Küche des kleinen, alten Hauses, und dachte an tausenderlei Dinge, die sich jedoch niemals über die Grenzen ihrer kleinen Welt hinausbewegten. Und wenn ihre Gedanken hin und wieder anfingen, sie zu beunruhigen, dann streichelte sie ihr kleines Bäuchlein. Das war ein sehr angenehmes und beruhigendes Gefühl – wenn sie auch nicht sagen konnte, warum.

      Mit beiden Händen wuchtete sie den schweren Eimer von der Mauer des Brunnens herunter und wandte sich endlich der nahen Eingangstür des Hauses zu. Fast lief sie schon rückwärts, so häufig wendete sie sich nach dem nahen Teich um – immer darauf gefasst, dass es wiederkehren würde.

      Die Kleine lebte natürlich nicht gänzlich allein in dieser überschaubaren Welt.

      Trautel Melanchful war eine alte Dame – eine sehr alte Dame, deren Alter nicht zu schätzen war. Sie war aber mindestens so alt, dass sie das gebrechliche Haus noch in seinen frischen und festen Tagen erlebt haben musste. Ihre weiß-lederne Haut war durchzogen von unzähligen tiefen Furchen, aber dennoch erschien sie auf eine seltsame Weise stark und fast unbezwingbar. Ihre Augen leuchteten wie zwei funkelnde Sterne, denen nichts zu entgehen schien.

      Das heißt, diese Beschreibung war wohl bis vor einiger Zeit noch gültig, neuerdings wirkte sie nämlich ziemlich matt. Erschien sie bislang sehr mobil und sogar regelrecht flink, so bewegte sie sich nun schon seit einiger Zeit etwas gebückt, mit schleppendem Gang, und machte den Eindruck, als wollte sie jeden Moment zerbrechen. Ihre sonst silbrig glänzenden, schulterlangen Haare hingen nun dünn und farblos von Ihrem Kopf herab.

      Der Kleinen war diese seltsame Veränderung nicht entgangen. Sie liebte die Alte sehr. Soweit sie zurückdenken konnte, war da immer wieder diese unerklärliche Angst in ihr. Doch Trautel Melanchful bemerkte es sofort, und konnte sie auf geheimnisvolle Weise wieder beruhigen. Die spannenden Geschichten, die ihr Trautel Melanchful des Abends vor dem Einschlafen erschuf – Geschichten und Abenteuer aus fernen und fremden Welten – waren nicht mehr zu zählen. ... und sie hatten immer ein gutes Ende!

      Doch mit der zunehmenden Schwäche der Alten verebbten auch diese Geschichten. Immer häufiger musste sie ihr Bäuchlein streicheln, weil sie eine große Unruhe in sich spürte. Es war inzwischen sogar soweit, dass Trautel Melanchful ihre Unruhen nicht mehr zu bemerken schien. Es war eine Zeit, da sie das erste Mal meinte, ein Gefühl der Verlassenheit in sich zu spüren.

      Vielleicht war dies der Grund, warum sie ihr noch nichts von den beängstigenden Erscheinungen erzählt hatte. Wahrscheinlicher war es aber wohl, dass sie fürchtete, etwas zu erfahren, das sie auf gar keinen Fall wissen wollte. Etwas in ihr fürchtete eine nahe Zeit.

      So versuchte sie sich immer wieder einzureden, dass sie diese seltsamen Erscheinungen nur Tagträumen würde – eine Geschichte die sie selbst erschuf, solange es Trautel Melanchful an den ihren missen ließ – und dass bald wieder alles in Ordnung wäre. Es war ja auch nichts Wirkliches, was sie hätte benennen können.

      Den schweren, hölzernen Wassereimer mit beiden Händen haltend, stieß sie die nur angelehnte verblichene Tür mit der Schulter auf. Knarrend schwang das Holz zurück, und machte den Weg in die Küche frei, durch die man das Haus betrat. Sie wuchtete die Last noch ein paar Schritte weit bis zu der kleinen Anrichte zu ihrer Linken, und ließ endlich von ihr ab.

      Trautel Melanchful stand mit dem Rücken zu ihr auf der anderen Seite des überschaubaren Raumes und schaute wortlos durch eines der Fenster in den Garten hinaus. Obgleich dieser Anblick für Kishou nichts wirklich Ungewöhnliches an sich hatte, war sie doch etwas erschrocken. Von diesem Fenster aus schaute man direkt in die Richtung des kleinen Teiches …

      So stand sie wie angewurzelt vor der Anrichte und starrte zu Trautel Melanchful hinüber. Die rührte sich nicht. Ihre spindeligen Finger waren auf den Fenstersims gestützt, während sie in gebeugter Haltung in den Garten hinaus schaute – hinüber zum Teich.

      Stand sie schon lange da? – Hatte sie es auch gesehen? – Warum sagt sie nichts? Tausend Gedanken liefen gleichzeitig durch ihren Kopf. Sie redete immer gern – und viel. Unter normalen Umständen hätte sie sofort gefragt … Aber die Umstände waren schon seit Längerem nicht mehr normal. Etwas in ihr fürchtete die Antwort, die der Frage folgen könnte … So stand sie einfach nur da, und schaute in den gekrümmten Rücken der Alten, die ihrer Anwesenheit scheinbar keinerlei Beachtung schenkte.

      Die Augen des Mädchens begannen unstet in dem Inneren des kleinen Raumes umher zu flattern – unsicher, wie sie der bedrückenden Situation begegnen sollte – als Trautel Melanchfuls Hände sich plötzlich vom Sims des Fensters lösten, und sich ihr schwacher Körper schleppend in das Kücheninnere eindrehte.

      Die Kleine vergaß fast das Atmen, als sich ihre Augen trafen. Es schienen ihr fremde Augen, die sie meinte noch nie zuvor gesehen zu haben. Etwas Seltsames, fast beängstigendes lag in diesem Blick … Doch es war nur einen Moment lang – dann verlor sich der Eindruck doch schnell wieder, und sie strahlten wieder jene Wärme aus, die sie immer so nötig hatte.

      Die Alte schlurfte langsam zu ihr hinüber und nahm sie wortlos in die Arme. Diese seltsame Ruhe lief sogleich wieder durch ihren Körper, wie sie es schon tausendmal erlebt hatte, wenn Trautel Melanchful ihre Arme um sie schloss. Doch diesmal schien es etwas Besonderes – vielleicht ja nur, weil es seit Langem wieder das erste Mal war. Es war wieder diese wunderliche Übereinkunft, die keinerlei Fragen und keiner Antwort mehr bedurfte. Vielleicht hatte Trautel Melanchful etwas gesehen – oder auch nicht. Es war nicht mehr wichtig.

      „Ich hab‘ Angst.“, sagte sie leise.

      „Ja.“, antwortete Trautel Melanchful.

      ~

      Der Rest des Tages war fast so, wie sie ihn von der Zeit her kannte, als Trautel Melanchful noch flink durch die Zimmer huschte, und sie sich in ihrer Nähe sicher und geborgen fühlte. Zwar vermied sie es, an diesem Tage noch einmal in den Garten hinauszugehen, aber sie war sich sicher, dass nun alles wieder wie früher sein würde. Trautel Melanchful schien wohl nach wie vor sehr gebrechlich, doch etwas hatte sich auch an ihr an diesem Tag verändert. Es war nicht mit Worten zu beschreiben, aber es schien ihr etwas Wunderbares zu sein.

      Doch diesem hoffnungsvollen Tage folgte die Nacht. Und es war ein böser Traum, der diese Hoffnung auf immer begraben sollte.

      Sie träumte, sie stünde an dem Rande eines mächtigen Abgrunds, und während ihre Augen regungslos in die Untiefen starrten, spürte sie einen unwiderstehlichen Drang, über diesen Rand hinauszuschreiten. Das Bäuchlein rebellierte, aber sie konnte nicht einmal beruhigend ihre Hände auf ihn legen. Wie ein kleiner windiger Teil des Felsens, der sie trug, stand sie da, unfähig sich zu rühren. Sie bemerkte, wie ihr Körper fast unmerklich, aber doch spürbar damit begann, seinen Schwerpunkt mehr und mehr in die Richtung des Abgrundes zu verlagern. Das Blut staute sich in ihrem Kopf, als etwas in ihr schreiend um Hilfe flehte. Aber ihr Mund war nicht in der Lage, die Worte zu formen. Immer mehr und mehr neigte sich der Körper dem Abgrund entgegen, und das Schreien ihres Innern konnte ihn nicht aufhalten.

      Wie ein geschlagener Baum kippte sie langsam vornüber, bis die drängende Kraft, die sie verführte, ihr Werk vollenden konnte, und sie in die abgründige Tiefe riss.

      Sie stürzte in unendliche Tiefen, und erst jetzt erwachte ihr Körper aus seiner Erstarrung. Schreiend griff sie um sich – verzweifelt einen Halt suchend – bekam plötzlich tatsächlich etwas zu fassen – krallte sich mit aller Kraft daran fest – und erwachte.

      Drei Kerzen, die auf der kleinen Kommode neben ihrem Bett standen, verbreiteten ein warmes, ruhiges Licht. Auf dem Rand des Bettes saß Trautel Melanchful, und die Hände der Kleinen krallten sich tief in ihren knöchrigen Arm ...

      Und obwohl Trautel Melanchful doch in der letzten Zeit so stetig abmagerte, und nun mehr oder weniger nur noch aus Haut und Knochen bestand, erschien sie seltsamerweise jetzt, wie sie da so saß, mit einem ruhigen Lächeln im Gesicht, gar nicht so schwach, wie es ihre Gestalt vermuten lassen wollte. Ihre Augen funkelten, und auch die unzähligen Furchen ihres Gesichts schienen weit weniger tief als sonst – ja eigentlich

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