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kurzweilige Ablenkung vom Alltag. Sie warf ihre verfilzten Locken mit der Hand von der Schulter, die der raue Wind jedoch sofort wieder zurück trug, und stellte sich vor den Bruder auf.

      „Ist es denn etwas anderes, was du in der Hand hältst?“, lachte Halem, und ließ in einer jähen Kreisbewegung die Klinge seines Schwertes seitwärts gegen die Schwester rennen.

      Es war ein ungleicher Kampf, in dem Halem durchaus darauf bedacht war, dass die Schwester seine Schläge mit nicht all zu viel Mühe parieren konnte. Dennoch war sie sehr bald in die Defensive gedrängt. Mit dem Jauchzer des Übermuts wich er den wenigen Attacken der Schwester aus, die er ihr noch beließ. „Meine kleine Schwester ist mit ihrem Besen recht schnell!“, lachte Halem anerkennend – wohl um sie bei Laune zu halten.

      Mujies Antwort war ein schneller Frontalstoß mit der Schwertspitze, dem der Bruder einmal mehr mit einem Jauchzer, und dem schnellen Öffnen seines Körpers auswich, so dass der Stoß Mujies ins Leere ging. Im vorläufigen Rückzug schwang Mujie die Klinge kreisförmig hinter sich, um nun mit einem Hieb von oben zu kommen. Wieder wich Halem elegant und übermütig jauchzend der Parade aus – doch die Klinge Mujies stoppte jäh in der Waagerechten. Ihr Körper drehte sich blitzschnell um die eigene Achse, und die Fläche ihrer Klinge klatsche hörbar auf das Hinterteil des Bruders.

      Für einen Augenblick war tatsächlich eine Verblüffung in den weit geöffneten Augen Halems zu entdecken. „Du bist hinterhältig!“, beschwerte er sich. Aber es war wohl eher ein gespielter Vorwurf. Halem Saii liebte seine Schwester sehr.

      „Na und?“, blinzelte Mujie ihn mit hochgezogenen Augenbrauen und einem frechen Grinsen an. Doch plötzlich spannte sich ihr Gesicht und ihr Blick fiel zum Himmel – in dessen schwere Wolken. „Es ist still geworden!“, sagte sie aufhorchend. Ihre Augen weiteten sich, als sehe sie dort oben etwas.

      Halem schaute hinüber zum Gespaltenen Berg, dessen Gipfel sich, wie es fast immer war, im grauen Dunst auflöste, und horchte in die wilde Natur. Tatsächlich. Kein Blatt wurde von einem Wind bewegt – und auch die Vögel waren verstummt.

      „Hol den Wagen – beeil dich!“ Fast flüsterte Mujie mit starren und weit aufgerissenen Augen.

      „Was ist?“, wollte der Bruder wissen.

      „Hol den Wagen – schnell!“ Fast schon lag ein Befehl in ihren Worten.

      Halem war verwirrt – seine Blicke tasteten einen Moment unruhig zwischen der Schwester, dem Himmel und dem Gespaltenen Berg hin und hier. Er fand keine Erklärung, und die Dringlichkeit der Worte Mujies gestatteten keine Zeit, danach zu suchen. … „Ja!“, sagte er endlich, bereits im Laufschritt unterwegs zum Schuppen hinter dem Haus.

      Nur Augenblicke später erschien er wieder mit dem Pferd, an das ein kleiner klappriger Wagen angespannt war. Mujie sprang auf das hölzerne Brett neben ihren Bruder, und Halem war bemüht, das Tier auf den schnellstmöglichen Trab zu bringen.

      Ihr Feld war ein gutes Stück weit entfernt. Es gab in dieser Gegend nicht viel Land, das beackert werden konnte. Zu steinig und ausgewaschen war der Boden hier. Ächzend hastete der Wagen über den ausgefahrenen, holprigen Weg.

      Mujies furchtsamer Blick ließ nicht ab von den Wolken über ihnen, als plötzlich ein gellender Schrei aus ihr herausbrach. Im selben Moment zerriss ein gleißender Blitz den Himmel, dem der ohrenbetäubende Schlag eines Donners folgte. Eine schwere Windbö fegte Pferd und Wagen fast von der Straße – und nur Augenblicke später schien der Himmel auf sie herabzufallen. Fluten von Wasser ließen kaum den Weg erkennen, der sie zu ihrem Acker führen sollte.

      Halem Saii erschauerte. Nicht, weil der Schrei der Schwester ihn in eine überwunden geglaubte Zeit zurückwarf – er bemerkte diesen Umstand nicht einmal in diesem Moment. Er meinte vielmehr einen solchen Schrei des Schmerzes von ihr nie zuvor gehört zu haben – oder waren es nur die Begleitumstände, die seinen Klang so tief in sein Mark stieß ... Seine Augen versuchten verzweifelt, eine Orientierung durch die herabstürzenden Wasser zu finden, doch dann war es das Pferd, dass seinen Weg kannte. Unter dem nicht enden wollenden Schreien der Schwester bog es plötzlich nach rechts ab. Der Wagen schwankte, und seine hölzernen Räder versanken tief im Morast des Feldes, das sie nunmehr geradewegs überquerten. Endlich verstummte Mujie. Durch die wie aus Kübeln fallenden Wasser konnten ihre Augen erst etwas erkennen, als sie bereits am Ziel waren.

      Einige andere Wagen standen da – die von benachbarten Familien. Sie selbst standen im Halbkreis versammelt vor den Überresten eines geborstenen und brandgeschwärzten Baumes.

      Halem und Mujie Saii sprangen vom Wagen und wateten eilig durch den klebrigen Morast zu den Versammelten. Halem sah die zwei Leiber, die dort in der getränkten Erde lagen, zuerst – halbseitig schwarz verbrannt. Er versperrte seiner Schwester den Weg und barg ihren Kopf an seine Brust – doch die wusste es wohl längst schon ...

      „Wir haben versucht, noch rechtzeitig zu kommen!“, sagte eine Stimme neben ihnen. „Aber wer hätte sie aufhalten können!“ Die Augen dessen, der da sprach, suchten nach dem Gespaltenen Berg – aber die vom Himmel herabstürzenden Wasser versperrten ihnen den Weg zu ihm.

      ~

      Zorn und Hass lagen in den Augen Halem Saiis – doch auch die Ohnmacht einer vermeintlichen Schuld lasteten auf ihm, wie er so vom Fenster des Hauses den Gespaltenen Berg wieder und wieder mit seinen Augen bemaß. Nun war er es, der dort stand – kaum, dass er seit jenem Tag diesen Platz noch verließ. Er galt als der Stärkste und der Tapferste der Siedlung, doch seine Kraft hatte keinen Wert, denn sie hatte es nicht verhindern können.

      Nur die Schwester war ihm noch geblieben ...

      Die Tür des kleinen Verschlags in der Ecke des Raumes öffnete sich knarrend, und Mujie Saii trat heraus. Einen langen Moment stand sie da, und schaute stumm in den Rücken des Bruders. Ihre großen, dunklen Augen schienen aber durch ihn hindurch zu sehen, als erblickte sie etwas in weiter Ferne, und es lag eine stille Furcht in ihnen.

      Wenngleich Mujie doch jünger war als er, so ließ die Herbheit ihres Gesichts dies kaum erahnen. Ihre langen, dunklen Haare waren verfilzt und bedeckten in dicken Strähnen die kräftigen Schultern. Sie war im ersten Moment eine wilde Erscheinung, aber ihre Augen erzählten etwas anderes.

      Mit langsamen Schritten trat sie endlich an die Seite Halem Saiis und folgte schweigend dessen Blick zum Gipfel des Gespaltenen Berges ... „Ich habe Gäa gebeten dich aufzuhalten“, sagte sie nach einer Weile, ohne ihren Blick abzuwenden.

      Halem Saii nickte. „Ich weiß!“, sagte er ruhig, während eine Hand über die kleine Wölbung seines Bauches strich. „Gäa erhörte deine Worte, und hat es versucht ...“ Sein Kopf wandte sich langsam dem Bretterverschlag zu, dessen notdürftig gezimmerte Tür, noch halb geöffnet, den Blick in die kleine dahinter liegende Kammer zuließ, die Mujie gerade verlassen hatte. Im flackernden Licht einiger Talklampen erhob sich eine verblasst bunte, hölzerne Gestalt, deren fleischige Hände ihren kugeligen Bauch umschlossen. Es war das Abbild Gäas, der Schutzgöttin der Nin. Sie war seit Urzeiten deren höchste Gottheit, und ihr wichtigstes Indiz war die stark ausgeprägte Wölbung ihres kugelförmigen Bauches, der in einer kleinen Andeutung auch jeden Nin auszeichnete. Gäa bewohnte nach den Überlieferungen ein großes, hell strahlendes Schloss mitten auf dem Meer, und die Bewohner des Ortes meinten es des Nachts zuweilen von der hohen Steilküste aus sehen zu können, wenn das raue Wetter sich einmal kurz aufklärte.

      „... aber sie hat nicht mehr die Kraft, mich aufzuhalten!“ Halem Saiis Blick wandte sich wieder dem Berg zu, und betrachtete ihn schweigend.

      „Mutter und Vater fürchteten mich, weil ich nicht war, wie die anderen!", sagte Mujie plötzlich in die Stille hinein.

      „Was redest Du da!", war die abwehrende Reaktion des Bruders.

      „Alle fürchten mich. Ich habe es immer gespürt. Ich war oft gekränkt und einsam, weil ich nicht zu euch gehören konnte!", widersprach sie mit unmerklichem Kopfschütteln. "Sie haben recht!", sprach sie im flüsternden Ton weiter. "Es es ist alles meine Schuld. Aber

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