ТОП просматриваемых книг сайта:
RETROGRAD. Paul Datura
Читать онлайн.Название RETROGRAD
Год выпуска 0
isbn 9783742754875
Автор произведения Paul Datura
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Was jetzt? Warten (und pinkeln) oder fliehen? Martin entschied die Sache für ihn. Fluchend kam er die Treppe wieder runter. P. hörte kurzes Stimmengewirr im Café und dann ein heftiges Geklingel der Tür.
›Pinkeln kann ich später‹, entschied er und ging vorsichtig in die Gaststätte zurück. Alle Gäste schauten schweigend in seine Richtung.
»Dein Freund hatte es aber ziemlich eilig. Er hat deine Rechnung übernommen. Er hat, bevor er hier raus gestürmt ist, einfach einen Zwanziger auf den Tresen geschmissen und gerufen die Rechnung gehe auf ihn. Du müsstest das später bei ihm begleichen«, sagte die Bedienung mit einem vorwurfsvollen Blick.
»Ist er weg?«
»Ja, er dachte – warum auch immer – du wärst oben zur Balkontür raus gegangen. Übrigens ist das für Gäste verboten nach oben zu gehen. Das ist Privat!«.
»Ich war ja gar nicht oben, also ciao«, sagte P. und verließ den Laden so schnell als möglich. Schon wieder »rechts oder links?« Er lief schnell geradeaus über die Straße und in eine kleine Gasse in Richtung Innenstadt davon. Nachdem er sieben Querstraßen weiter war und einige Haken geschlagen hatte, verdrückte er sich in seiner Not in die Büsche eines verwahrlosten Spielplatzes und ließ der Sache ihren Lauf. Zum Glück dämmerte es schon und niemand konnte ihn sehen
Welches Buch? Er zermarterte sich den Schädel. Was wollten die von ihm. Wäre er nur zur Polizei gegangen! Plötzlich fiel ihm ein, dass an dem Abend des Mordes Bea etwas Braunes in der Hand gehabt hatte. War das ein Buch gewesen? Ein Rollbuch? So etwas hatte er schon mal gesehen. Aus Leder. Ziemlich schickes Notizbuch für ein Reisetagebuch. Zum Rollen. Hatte damals eine Freundin von ihm im Urlaub dabei gehabt. Nach ein oder zwei beschrieben Seiten hatte sie das gute Stück leider am Strand liegen lassen und sie hatten es trotz langer Suche nicht mehr gefunden. Hatte Bea so ein Rollbuch aus Leder in der Hand gehabt? Und das suchten die Mörder jetzt? Er bemerkte, dass er schon lange fertig war und kein gutes Bild abgab, wie er so dastand hinter dem Busch mit der Hose offen. Er musste Bea finden und die Sache mit ihr besprechen. Was steckte hinter dem Mord? Und warum sollte man wegen eines Buches jemand brutal überfahren?
Und um Gottes willen! Was passierte, wenn der gütige Martin merkte, dass er nichts von dem Buch wusste? Martin durfte ihn nicht wieder so leicht in die Finger bekommen. Woher hatte Martin überhaupt wissen können, dass er in dem Café war? Nach Hause durfte er auf keinen Fall gehen. Da warteten im schlimmsten Fall diese Bundfaltenhosen tragenden Büchernarren auf ihn. Wohin dann? Als erstes ging er zu seiner Bank und holte sich mit seiner Servicekarte soviel Geld wie möglich aus dem Automat.
St. Georg und der Drache
Siggi hatte einen Wutanfall. Wutanfälle ihres Chefs waren alle Anwesenden gewöhnt. Dieser Wutanfall übertraf in Ausmaß, Lautstärke und Länge jeden bisherigen, fanden die vier betreten auf den Boden schauenden Männer. Die Vier waren es gewohnt, von ihrem Chef ruppig herumkommandiert zu werden. Und sie waren nicht aus Zucker. In diesem Fall fand sich Georgy mit der dicken, blutig verkrusteten Lippe allerdings ungerecht behandelt. Ab und zu schaute er unterwürfig und doch vorwurfsvoll in Richtung seines Chefs. Wie auf Knopfdruck steigerte sich Siggi in eine speichelsprühende Raserei. Die vor ihm auf dem Schreibtisch liegenden Schriftstücke wurden mit feuchten Flecken übersät.
»Welcher Idiot hat die Liquidierung von Sergio angeordnet! Was habe ich euch gesagt was ihr tun sollt UND WAS IHR NICHT TUN SOLLT!«
Erschöpft ließ sich Siggi in seinen Chefsessel zurückfallen. Er holte ein großes Taschentuch aus seiner Sakkotasche und wischte sich den Speichel vom Mund. Dann tupfte er sich vorsichtig den Schweiß von der Stirn. Dabei blieben bräunliche Flecken am Taschentuch zurück. Siggi war geschminkt. Siggi hieß eigentlich Sighurt von Ravenow, was außer seiner senilen Mutter und ihm kein Mensch wusste. Und auch niemand wissen sollte. Er war ein Kind verarmter Landadliger, die aus dem Osten vor den Russen fliehen mussten und alles verloren hatten. Sie hatten nur noch einen inzwischen von den Motten zerfressenen Wandteppich mit dem Familienwappen retten können. Irgendwas mit einem Drachen war darauf zu erkennen gewesen. Das war eine der wenigen Erinnerungen, die er aus seiner Kindheit noch hatte. Trotzdem oder genau deshalb bestand er auf einem gewissen Niveau. Er wollte, dass die Leute erkannten, dass er Klasse hatte. Und er hatte sich im Milieu jahrzehntelang hochgearbeitet. Von ganz unten. Und er kannte inzwischen das Geschäft in- und auswendig. Meistens ließ er alle Arbeiten, die anfielen, von seinen zahlreichen Mitarbeitern erledigen. Die Vier, die vor ihm fast schon stramm standen, wussten aber, dass er manchmal eine Ausnahme machte und Aufgaben selbst erledigte. Und das betraf insbesondere Strafmaßnahmen bei den Mitarbeitern. Siggi war bekannt für drakonische Strafen. Angefangen von der Wegnahme der heiß geliebten dicken Sportwagen bis zur Amputationen von Gliedmaßen war alles schon mal vorgekommen. Deshalb blieben die Männer schweigend mit gesenktem Kopf vor dem Schreibtisch stehen. Und das war auch gut so. Denn Siggi war noch lange nicht fertig.
»Wie erkläre ich den Italienern das mit Sergio? Und wo sind mein Buch und der Schlüssel?«, fragte er gefährlich leise und schaute Georgy dabei an.
»Der Fpaghetti verfuchte fu fliehen«, stammelte Georgy undeutlich.
Georgy hatte eine sehr dicke und blutige Unterlippe. Ein Auge war blutunterlaufen und es war von lila-bläulichen Flecken umgeben. Seine Nase war eindeutig gebrochen und gelb-blau geschwollen. Außerdem zierten mehrere frische Schnittwunden und eine schwarzblaue große Beule seine Stirn. Wenn er sprach, hörte sich ein S bei ihm eher nach einem F an. Aus seiner Sicht hatte Georgy alles richtig gemacht. An dem Verlust von Buch und Schlüssel war er komplett unschuldig. Niemand hatte ihm irgendwas gesagt. Nie wurde er vor Aktionen aufgeklärt, um was es ging. Und seinen Schritt fühlte er eigentlich nur noch als geschwollenen Ballon zwischen seinen Beinen.
»Du!«, sagte Siggi fast singend mit einem sehr langen u. Dabei zeigte er mit einem dürren und zitternden Zeigefinger auf Georgy. »Du bist verantwortlich für die ganze Sache. Du wirst mir meine Sachen bringen. Und du wirst mir Bea und diesen P. lebendig und unversehrt abliefern. Ich gebe dir ganze zwei Tage. Wenn die zwei Tage vorbei sind und ich habe nicht was ich will, dann wird sich der Philosoph um dich kümmern. Und ich werde dabei zusehen. Und ich werde mir Zeit nehmen...«
»Oh, bitte nein Chef! Martin hat mir doch fchon fämtliche Fchneidezähne rauf gefchlagen«, bettelte Georgy.
Siggi schaute ihn nur bedauernd und kopfschüttelnd an. Dann nickte er den anderen zu.
»Ihr vier werdet das schnell und diskret erledigen. Und ihr drei habt dabei auch ein Auge auf unseren Georgy Porgy hier. Nicht, dass der uns verloren geht.« Die anderen Drei reagierten erleichtert und wagten sogar ein hämisches Lächeln in Richtung Georgy.
»Jetzt meldet euch bei Martin, der sagt euch was zu tun ist. Und tut nur was euch gesagt wird!«
Die vier Männer verließen, so schnell es unter Wahrung der Schlägerwürde machbar war, den Raum und schlossen leise die Tür hinter sich. Siggi war enttäuscht. Sein Personal war zu primitiv. Sein Leben war zu kurz. Und sein Körper verfiel immer mehr. Er hatte sich eine üble Krankheit eingefangen. Er wusste inzwischen aus den Nachrichten, was er vermutlich hatte. Sein Arzt war ein Idiot, der nicht den blassesten Schimmer hatte. Sein gut trainierter Körper von 90 Kilo stahlharten Muskeln war immer magerer geworden. Er sah mit seinen fünfundvierzig Jahren inzwischen aus wie ein Siebzigjähriger. Er wog jetzt unter 60 Kilo. Seine Muskeln waren weg. Und er hatte laufend Infektionen, Geschwüre und Schmerzen. Eine Lungenentzündung folgte der nächsten. Inzwischen hatte seine üblicherweise braun gebrannte Haut einen gelblich fahlen Ton angenommen. Und er bekam immer mehr Leberflecken, die rasch größer wurden. Voll gepumpt mit Antibiotika und Schmerzmitteln konnte er bisher noch seinen Geschäften nachgehen. Damit nicht jeder seinen Gesundheitszustand sofort bemerkte, ließ er sich von seinem Mädel morgens die Haut mit Schminke abtönen. Mehr wollte er auch nicht mehr von ihr. Wenn das so weiter ging, würden die Hyänen bald merken, dass es mit ihm bergab ging. Und das bedeutete nichts Gutes in dem Geschäft, in dem er tätig war. Er hatte selbst auch schon den einen oder anderen schwächelnden Konkurrenten oder Vorgänger ausgebootet. Das ging schneller als man gucken