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RETROGRAD. Paul Datura
Читать онлайн.Название RETROGRAD
Год выпуска 0
isbn 9783742754875
Автор произведения Paul Datura
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
»Hallo P.! Ich habe deine Nummer von Christoph bekommen. Komm in nächster Zeit nicht in unseren Laden! Erst waren so komische Typen in Lederjacken und Bundfaltenhosen da und haben nett nach ihrem besten Kumpel gefragt. Zu viert. Nach dir. Und einer sah aus, als ob er auch von einem Auto überfahren worden wäre. Da ist nämlich gestern einer vor unserer Haustür überfahren worden. Vorne auf dem einsamen Parkplatz an der Bundesstraße. Und das war echt kein Unfall! Das haben uns die Polizisten erzählt. Die haben uns nämlich auch besucht. Wer denn alles bei uns gewesen war gestern und ob es Auseinandersetzungen gegeben hätte usw... Wir haben weder dich noch die Kleine erwähnt – ich hoffe du hast keinen Scheiß gebaut?! Ne, du bist doch kein Killer? Egale - komm mal eine Weile nicht mehr zu mir. Und sieh dich vor! Sowohl die Bullen als auch die Lederjacken wollen sich mit dir unterhalten. Molto pericoloso! Aber irgendwann kommst du wieder und bezahlst deinen Deckel. Den bewahre ich für dich auf. Ciaoe Bello!«
Diese Vorwarnung war Gold wert und er verließ sofort seine Wohnung. Die Paranoia war also nicht übertrieben. Er wurde gesucht. Deshalb war er jetzt in diesem Lokal, in dem ihn niemand suchen und finden würde. Er nahm einen Schluck Bier und griff sich die Zeitung.
Die Glöckchen klingelten protestierend, als die Tür kraftvoll geöffnet wurde. Herein kam ein Mann mit schwarzen, glänzend gelockten Haaren. Er trug eine Lederjacke und eine Bundfaltenhose mit ausgebeulten Taschen. Er ging direkt auf P. zu, griff sich einen Stuhl und setzte sich an seinen Tisch. Er drückte seine Zigarette stürmisch in dem Aschenbecher aus, wobei er P.s Zigarette, die dort abgelegt war, gleich mit in dem Aschenbecher zerdrückte. Er hatte lange Fingernägel und trug einen schweren Silberring am Daumen.
Naja, seine Theorie von der Ruhe konnte er vergessen, dachte sich P. Jetzt hieß es Nerven bewahren. Solange er nicht gleich hier hingerichtet werden würde.
Der Mann sah ihn lange und nachdenklich an und lächelte schließlich. »Ich mag dich eigentlich. Du hast ja im Prinzip nichts mit der Sache zu tun, mein Freund.«
P. hasste es »mein Freund« genannt zu werden. Das sagten Psychiater, Sozialarbeiter oder Bettler, wenn sie etwas von einem wollten. Er sagte nichts.
»Ah, du hast auch noch die Nerven gemütlich Zeitung zu lesen?«
Das war der Typ von dem Abend auf dem Parkplatz. Er hatte da eine Stoffmütze getragen. Jetzt erkannte er ihn wieder. Dieser Typ konnte ohne nachzudenken brutal und effizient zuschlagen und vermutlich auch töten. Wo er sein Riesenmesser hatte, wollte P. gar nicht wissen. Auf jeden Fall hatte er es griffbereit dabei. Sein Magen verwandelte sich in einen verkrampften sauren Tennisball.
»Was wollen sie von mir, ich kenne sie nicht einmal«.
»Oh, du kennst mich. Ich habe deine Augen genau gesehen, wie sie aufgerissen zugeschaut haben. Du kannst dich sicher an den kleinen bedauerlichen Unfall neulich erinnern? Das hätte alles nicht passieren müssen. Und so etwas sollte dir doch nicht passieren, oder?«
Er schaute ihn wieder so freundlich und besorgt an.
»Weist du, ich habe gleich erkannt, dass du ein intelligenter Typ bist. Damals im Knast, da habe ich auch immer die guten von den schlechten unterscheiden müssen. Das ist wichtig im Leben – für das Überleben, weißt du«
›Oh Mann, wenn das so weitergeht, steht mein Bier ab‹, stellte P. fest und nahm deshalb einen großen Schluck.
Dann wischte er sich mit dem Handrücken über die Lippen und sagte nochmal: »Ich kenne sie nicht.«
»Ich sage ja, du bist intelligent«, lächelte der Mann. »Ich heiße Martin. Und jetzt kennst du mich ja. Also können wir ganz gemütlich was trinken und uns unterhalten, nicht wahr?«
Und er hob seine beringten Finger. Mit der anderen Hand zeigte er auf den Espresso, um der Bedienung zu signalisieren, er möchte das Gleiche.
»Weist du, eigentlich ist der Job doch nichts für mich. Ich bin für was ganz anderes gemacht. Mir gefällt die Kneipe hier. Alles gebildete Leute hier. Soll ich dir was sagen?«
Bedeutungsvoll nestelte er an der Innentasche seiner Jacke herum. P. wurde nervös. Aber Martin zog nur ein Bündel beschriebenes Papier aus der Tasche und hielt es ihm hin.
»Da schau dir das an. Hab ich geschrieben. Im Knast hat man ja Zeit. Ich kann Gedichte schreiben. Ist alles in meinem Kopf. Und da ich dich gut leiden kann, möchte ich, dass du die Gedichte schön aufmerksam liest und mir sagst, was du davon hältst«.
Die Bedienung brachte den Espresso. Er nahm einen winzigen Schluck, wobei er den kleinen Finger mit dem langen Fingernagel weit abspreizte. Einen Moment später nickte er P. auffordernd zu: »Das ist besser als deine Zeitung, glaub's mir«.
Also las P. die Gedichte. Oder er versuchte es zumindest. Irgendwas von grünem Gras mit Amseln darauf. Vielleicht ja sogar gut. Nur hatte er im Moment keinen Nerv, sich mit Gedichten zu befassen. Also tat er überrascht und sagte: »Das ist echt gut«.
»Ah, du sollst mich nicht anlügen. Da werde ich sonst richtig ärgerlich. Lese in Ruhe und sage mir dann, ob sie dir gefallen«
›Also, was solls.‹ P. bestellte sich noch ein Bier und las ernsthaft und langsam, wenn auch leicht oberflächlich mit gerunzelter Stirn ein schmutziges Blatt nach dem anderen durch. Als die Bedienung das Bier brachte, schaute sie sehr interessiert. Sowohl interessiert auf Martin als auch auf die speckigen Blätter, die P. in der Hand hielt. Martin schaute sehr gütig und auch sehr interessiert zurück.
»Mein Freund hier rezitiert gerade meine Gedichte«, sagte er huldvoll.
»Redigieren, meinst du wohl«, sagte die Bedienung wie aus der Pistole geschossen und schmolz trotzdem ein wenig.
»Oh, Mann! Dieser Typ ist nicht nur ein effizienter Schläger, sondern auch ein verdammt guter Charmeur«, musste P. anerkennend feststellen. Wenn dieser Typ nicht so gefährlich wäre, fände er Martin sogar ein wenig sympathisch und könnte sich vorstellen mit ihm ein paar Bierchen zu trinken. Nur leider lag die Sache anders. Dieser Typ war ein eiskalter Irrer.
»Also, ich finde die Gedichte gut – vor allem das mit der Amsel«, log er.
Martin schaute ihn verträumt an. »Fast schon ein großes Talent, mmh?«, sagte er leise, nahm sich die Blätter wieder und steckte sie gefaltet in seine Innentasche. Dabei ließ er P. den Griff des großen Messers sehen, das ebenfalls in der Jacke in einem Lederhalfter steckte.
»Eigentlich mag ich dich wirklich. Und deshalb will ich ehrlich zu dir sein. Mein Chef ist der Meinung, ich soll dich solange prügeln, bis du uns das Buch gibst. Und dann soll ich dich im Wald vergraben.«
»Welches Buch?«, stöhnte P., der von gar nichts eine Ahnung hatte.
»Oh, mach dich doch nicht dümmer, als du bist. Wenn du nichts von einem Buch weißt, muss ich dich doch gleich im Wald vergraben«, sagte Martin lächelnd. »Solange du das Buch noch hast, darf ich dich nur prügeln, was mir ehrlich keinen Spaß machen würde.«
›Wie komme ich nur aus dieser Scheiße raus!‹, dachte P. »Wie komme ich verdammt noch mal aus dieser Scheiße raus!«, brüllte er Martin an.
Der ganze Laden schaute pikiert in ihre Richtung. »Erst das Buch«, sagte Martin.
P. hatte zwei Bier und einen Espresso intus und seine Blase drückte. Wirklich jetzt.
»Ich muss jetzt erst mal aufs WC. Und dann sagst du mir, wie ich aus diesem Scheiß raus komme«, presste er zwischen den Zähnen hindurch.
»Enttäusche mich nicht und komm wieder«, sagte Martin mit einem drohenden Blick.
P. ging zu den im hinteren Bereich liegenden Toiletten durch eine Tür in einen Flur. Links war eine Tür mit der Aufschrift »Privat«, rechts waren Herren und Damen WC. Er öffnete die Tür zu der Treppe nach oben, ließ sie offen und rannte mit schnellen Schritten ins Damen WC. Er