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Löwentatze. Albert Hurny, Mady L. Hurny
Читать онлайн.Название Löwentatze
Год выпуска 0
isbn 9783738025286
Автор произведения Albert Hurny, Mady L. Hurny
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Wann ich dir das nächste Mal schreibe, weiß ich noch nicht. Es kann sehr lange dauern, vielleicht bis zum Frühjahr. Sei mir bitte deswegen nicht böse, es ist einfach nicht drin ... ich ertrinke fast vor Arbeit: das Examen, die Diplomarbeit und das ganze Programm. Die Nostalgiker, ich meine die Weckbewegung, die ich auch nicht hängen lassen kann, wo ich doch gerade erst gewählt bin - ich hoffe, du verstehst. Tust du doch?
Alsdann, mein Alter, reiß dich zusammen und fühle dich geküsst von deiner
Wanda
Ihn bewegten widersprüchliche Gedanken, als er den Brief aus der Hand legte. Das war typisch Wanda: klug, resolut, scharfzüngig, ein unter ständigem Hochdruck stehender Dampfkessel und betriebsam wie ein Hochhauslift. Die lange Trennung von ihm schien sie aber gut ertragen zu können. Oder wollte sie es ihm nur leichter machen? Doch ihre Ankündigung, sie werde nun monatelang nichts mehr von sich hören lassen, war nicht eben dazu angetan.
Sein Puls ging schneller, als er sich vorstellte, sie wäre ihrem Impuls gefolgt und stünde plötzlich in seinem Zimmer. Er sah sie vor sich: im hellgrauen Reisedress, in der Pose „Hier bin ich!“ - sogleich von ihm und dem Apartment Besitz ergreifend. Ihre großen, grauen, etwas schräg geschnittenen Augen mustern ihn prüfend, als überlege sie bereits, was an ihm zu verändern sei. Sie war nur mittelgroß, wirkte aber stämmig, jedenfalls kräftig, dabei erregend weiblich. Ein weiches, rundes Blondinchen. Die Nase ... na ja ... mit einem kecken Stups, nicht gerade klassisch. Das rundliche Gesicht unter der kurzen Ponyfrisur, die vollen Lippen um den großen, immer wie zum Lachen bereiten Mund, die ziemlich ausgeprägten Wangenknochen verhießen ein heiteres Naturell, Gutmütigkeit und Hingabefähigkeit, doch mit einem Hauch von Strenge darüber. Vielleicht machte das das kleine, aber feste und eine Winzigkeit vorstehende Kinn, möglich aber auch, dass ihre ganze Haltung dazu beitrug. Sie hielt sich sehr gerade, wie Distanz fordernd. Ach ja, sie war schon ein kapriziöses Geschöpf ... und nicht nur äußerlich. Manitou und ich wissen Bescheid: oben Schokolade, darunter Stahlbeton ... wenn sie es so will. Die Natur muss ihren Willen aus Edelstahl gemacht haben.
Er seufzte sein Fantasiebild weg.
Was das andere betrifft, dachte er, das Brett vor meinem Kopf, obwohl wenig schmeichelhaft für mich, auf jeden Fall bedenkenswert. Man wird ja wirklich unmerklich zum Ableger des geistigen Ziehvaters, sieht mit dessen Augen, bedient sich seiner Methoden. Selbstverständlich, welcher denn sonst? Was aber, wenn sie nicht zum Ziel führen, weil aus einer anders gearteten Praxis heraus entwickelt? Dann steht man wie vor einer Mauer und resigniert. Dabei brauchte man vielleicht nur um die Ecke zu gehen, um eine Tür zu finden. Ich glaube, genau das hat Wanda gemeint. Wobei sie mich, bei Lichte gesehen, als Wissenschaftler abqualifiziert ... weil sie mich indirekt der Todsünde zeiht, nur anerkannte Lehre bestätigen zu wollen, statt unvoreingenommen nach Erkenntnis zu forschen, was allein wissenschaftliche Arbeit als solche legitimiert.
Muss ich mir diesen Vorwurf zuziehen? Er überlegte und kam zu dem Schluss: Nein ... oder doch nur bedingt. Wenn ich mir etwas vorzuwerfen habe, dann lediglich mein Unvermögen, gleich den richtigen Zipfel zu erwischen. Und dass ich deswegen versucht war, aufzustecken. Aber auch weitaus Größere sind schon schwach geworden in vergleichbaren Situationen.
Nun gut ... beschlafen wir die Sache erst mal.
Wandas Brief hatte Adam bewusst gemacht, dass er endlich eine Konzeption finden musste. Er verbrachte Stunden damit, darüber nachzudenken, wie sie aussehen könnte und wie er weiter vorgehen sollte, nachdem seine bisherigen Forschungen so gut wie kein nennenswertes Ergebnis gezeitigt hatten.
Auf jeden Fall schien es uneffektiv, weiterhin ziellos, auf eine vage Hoffnung hin, in den Medienrelikten zu wühlen. In den Unmassen von Exponaten, die er inzwischen durchgesehen hatte, war nichts zu entdecken gewesen, dem nachzugehen etwas in der Art versprochen hätte, wie es seinem Mentor, Professor Delgare, und ihm bei der Formulierung seines Themas vorgeschwebt hatte. Die Vorstellung, das Archivmaterial könne eine sprudelnde Quelle neuer Erkenntnisse sein, war illusionär.
Eine Niederlage ...?
Nun, nicht unbedingt ... in der Medizin gilt ein negativer Befund als erleichternd positiv. Es kommt immer auf den Standpunkt an, von dem aus man ein Ergebnis betrachtet.
Sein Thema klang zwar programmatisch, ließ sich aber durchaus auch anders interpretieren, wenn er die Arbeit anders anlegte. Wie ...? Eine verdammt gute Frage und verdammt schwer zu beantworten.
Aber eigentlich blieb ihm ja kaum eine Wahl. Wenn er Delgare nicht brüskieren wollte, indem er dessen Intentionen ad absurdum führte und ihn solcherweise als notorischen Fantasten denunzierte, was natürlich nicht in Betracht kam, konnte er nur noch auf ein Ausweichmanöver sinnen.
Vielleicht, überlegte er, sollte ich die retrospektive Betrachtung eines besonders spektakulären Zeitereignisses zum Schwerpunkt meiner Arbeit machen? Die Löwentatzenaffäre böte sich an; ihrer Monströsität und schrecklichen Folgen wegen, nicht zuletzt aber auch wegen ihrer gravierenden Auswirkungen auf das Verhalten der Menschen zueinander Ende des einundzwanzigsten Jahrhunderts.
Die Vorgänge damals waren allerdings rundum erforscht, transparent wie ein frisch geputztes Fenster, doch mit einem kleinen Dreh, einem präzisierenden Unterthema, wie „Hintergründe und Folgen des Löwentatzendramas in der Sicht zeitgenössischer Massenmedien“ oder so ähnlich, wäre schon noch einiges herauszuholen.
Vor allem enthöbe es ihn des Zwanges, gänzlich neue Erkenntnisse beizubringen, wenn er auf eine Studie des Zeitgeistes umstiege, wie er sich in den Druckerzeugnissen jener Jahre widerspiegelte; am Beispiel einiger in den Eklat verstrickter Personen ließen sich Methoden, Prinzipien und Grenzen damaligen publizistischen Wirkens anschaulich vorführen.
Angesichts der Rivalitäten an der Fakultät könnte sich eine solcherweise gestaltete Konzeption sogar als taktischer Vorteil erweisen. Die Prüfer aus dem gegnerischen Lager würden möglicherweise objektiver urteilen als sonst zu befürchten für einen erklärten Parteigänger Delgares, weil nicht provoziert, eigene Positionen zu verteidigen.
So viel Adam auch grübelte, etwas Besseres wollte ihm nicht einfallen.
Also mach ich es so, entschloss er sich endlich. Väterchen Delgare wird zwar enttäuscht sein, wenn ich Fisch statt des erhofften kapitalen Bocks nach Hause bringe, aber es ist nicht meine Schuld, dass ich in dem Revier, das er mir zubestimmt hat, keinen vor die Flinte bekommen habe.
Danach fühlte er sich wie ein Pfadfinder, der nach stundenlangem Umherirren im Walde in der Ferne das Lagerfeuer seiner Gruppe erblickt.
Kapitel II
Während der beiden folgenden Tage fütterte Adam den Archiv-Servanten mit den bisher vorliegenden Aufzeichnungen und ließ nach ursächlichen Zusammenhängen suchen, in der Hoffnung, auf diese Weise einen Anhalt für sein weiteres Vorgehen zu finden. Das Ergebnis lohnte den Aufwand. Es stellte sich heraus, dass fast alles direkt oder indirekt zwei Problemkreise tangierte, die wiederum miteinander korrespondierten.
Der eine war die Massenbewegung, die nach langem, opferreichem Kampf gesiegt und die längst überfällige gesellschaftliche Umwälzung erzwungen hatte, so endlich das letzte Hindernis für die „Große Völkerunion“ beseitigend - nach Platon als Idealstaat „Politeia“ von den Völkern betitelt, dieser Idealvorstellung menschlichen Zusammenlebens - für ihn das wichtigste und bedeutendste Geschehen jener Zeit, verlockend, darüber zu arbeiten.
Sein Thema verwies ihn jedoch auf die Jahrzehnte davor, auf die Zeit der letzten krampfhaften Versuche der Plutokraten, sich die Welt erneut zu unterwerfen, die in dem ungeheuerlichsten Massenmordplan der an Massenmorden wahrlich nicht armen Geschichte gipfelten, jenem „Fliegenden Forschungslabor“ - die Medien hatten es „Löwentatze“ genannt - das sich dann als Sternenkriegsschiff entpuppte, dem anderen Komplex, den ihm der Servant annonciert hatte.
Die vorliegenden Indizien ließen keinen Zweifel daran, dass von dem sagenhaften Kosmosungetüm aus kurzlebige biogenetische Toxine verstäubt werden sollten, die, nur auf den menschlichen Chromosomensatz wirkend - geruchlos, unsichtbar,