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      Der Servant servierte endlich.

      Adam frühstückte gemächlich. Der Kaffee, heiß und stark, wie er ihn liebte, das Algengelee, na ja, die Erdnussbutter klebrig, das Brot flockig weiß und weich wie Watte. Eine derbe Schwarzbrotstulle müsste man mal wieder beißen können, dachte er. Im Haferflockenbrei, nicht bestellt und trotzdem geliefert, weil ein Frühstück ohne ihn hier nicht denkbar war, rührte er nur mit dem Löffel.

      Er konnte frei über seine Zeit verfügen, doch er, an feste Arbeitszeiten gewöhnt, hatte es sich zur Pflicht gemacht, das Studio des Archivs um Punkt acht Uhr zu betreten und es erst wieder zu verlassen, wenn um sechzehn Uhr geschlossen wurde.

      Den Mittagsimbiss konnte er in der „Butike“ der Archivangestellten, wie der kleine Ruheraum mit Speisemöglichkeit genannt wurde, einnehmen. Sein großes Schlafbedürfnis, Folge der ungewohnten Höhenluft, brachte ihn jeden Morgen in Konflikt mit seinem Pflichtbewusstsein; er war stolz darauf, dass er der Versuchung, bis in den Vormittag hinein zu schlafen, noch niemals erlegen war. Die Erbarmungslosigkeit des Weckrufers ersetzte seinen nicht so starken Willen. Immerhin, das Weckprogramm tippte er abends ein, kämpfte damit erfolgreich gegen den Widerstand seines schlafhungrigen Leibs, schlug ihm gewissermaßen ein Schnippchen. Denn er wusste um seine Schwäche.

      Jetzt allerdings begann er sich zu fragen, welchen Sinn seine tägliche Selbstüberwindung eigentlich noch habe. Fast zwei Monate lang hatte er nun schon Quellenmaterial gesichtet, ohne etwas gefunden zu haben, das geeignet gewesen wäre, seiner Dissertationsarbeit die wünschenswerten Glanzlichter aufzustecken.

      Sein Thema, an dem er ein Jahr lang in Greenley, im Zentralarchiv für Publikationen des zwanzigsten bis zweiundzwanzigsten Jahrhunderts im nordamerikanischen Raum, arbeiten wollte, hieß: „Publizistische Äußerungen in Massenmedien als nutzbares Quellenmaterial für den Geschichtsforscher“.

      Da im Archiv sämtliche Original-Drucke und Original-Aufzeichnungen bewahrt wurden, hatte er geglaubt, ein erholsames Jahr genießen zu können. Ein Irrtum, wie sich herausgestellt hatte. Gerade die unübersehbare Fülle der Exponate brachte ihn zur Verzweiflung. Sie waren widersprüchlich, unverständlich oft, enthielten kaum Angaben von dokumentarischem Wert, mit denen er hätte etwas anfangen können. Ihn bedrückte auch, dass der abgelegene Ort keine Möglichkeiten bot, Beziehungen anzuknüpfen oder zu festigen, die ein junger, strebsamer Wissenschaftler nun mal braucht, um voranzukommen. Er strampelte, am Rande der Welt gewissermaßen, wie die berühmte Fliege in der Milch, doch die rettenden Butterklümpchen wollten sich nicht bilden.

      In Greenley, verschlafene Landstadt auf der Hochebene östlich der Rocky Mountains, nördlich von Denver, schien die Zeit stehengeblieben zu sein. Ein Ort im Grünen. Es gab hier sogar noch Straßen mit Einzelhäusern, von gepflegten Rasenflächen umgeben, unter hohen Platanen, Fichten und Ahornbäumen. Ein erstaunlich weitläufiges und erschreckend stilles Nest, Mittelpunkt eines auf traditionelle Landwirtschaft sowie moderne Methoden der Nahrungsmittelgewinnung spezialisierten Gebietes. Lediglich die berühmte Hochschule für Landwirtschaft und das Zentralarchiv besaßen überregionale Bedeutung, wobei letzteres so gut wie keine Rolle im Leben der Stadt spielte. Viele ihrer Bewohner wussten nicht einmal, wo es sich befand. Es lag außerhalb in westlicher Richtung, in den Bergen, ehemals Sitz einer ständigen Ausstellung von Landmaschinen. Vor dreißig Jahren hatte die regionale Verwaltung das solide, vollklimatisierte Bauwerk der Kulturbehörde zur Verfügung gestellt, und diese - immer in Raumnot - hatte, da die weltabgeschiedene Lage publikumsabhängige Einrichtungen ausschloss, das Archiv in ihm untergebracht.

      Adam warf einen Blick auf die Uhr und erhob sich. Es war Zeit, sich auf den Weg zu machen. Die Betreuerinnen des Archivs, zwei Damen reiferen Alters, würden sich beunruhigen, wenn er sich verspätete. Er war zurzeit der einzige Hospitant. Sie brannten darauf, ihm jeden Wunsch zu erfüllen, und auch darauf, sich mit ihm zu unterhalten. Unter zwanzig Minuten kam er selten davon.

      Der Rollweg trug ihn den gewaltigen Bergzügen entgegen, deren zerklüftete Kämme aufzackende Gipfel krönten, die, teils schon schneebedeckt, bläulich kalt schimmernd, in den blauen Himmel eingewachsen schienen, als schlössen sie die Welt ab. Bis zu halber Höhe Hochwald, dann Krüppelgehölz, darüber nackter Fels, dessen Farbe je nach Wetter und Winkel der Sonneneinstrahlung zwischen dunklem Grau und hellen Brauntönen wechselte.

      Etwas Unnahbares und zugleich Lockendes ging von dieser Hochgebirgssilhouette aus, das ihn, den Mann aus der Norddeutschen Tiefebene, wie ein Anhauch von Außerirdischem anrührte. Es ließ sich nicht in Worte fassen, nur empfinden.

      Im Studio des Archivs wurde er schon erwartet, freundliche Begrüßung, dann das obligatorische Gespräch, das die netten Damen fast vollständig bestritten; sie genossen es, dass er da war und sie brauchte. Ihr Tun glich dem unscheinbaren Fleiß von Ameisen, vollzog sich in der Abgeschiedenheit des Archivs. Sie pflegten und konservierten den Thesaurus, der zu kostbar war, um ihn allein der Obhut von Servanten anzuvertrauen. Sie mussten sich emsig regen, kannten wahrhaftig keine Langeweile. Doch das war unpersönlich, Routine, vollzog sich anonym. Wie viel aufregender, dem Gast aus Europa im Studio bei der Arbeit über die Schulter sehen zu können. Der Unterschied zwischen Konfektion und Maßatelier. Wobei in seinem Falle hinzukam, dass er Dauerhospitant war, ihnen schon fest zugehörig, und sämtliche Publikationen eines ganzen Zeitabschnittes durchackerte, die meisten noch so unberührt wie am Tage ihrer Katalogisierung. Er bestätigte ihnen damit, dass hier nicht nur lauter unnützes Zeug lagerte, wie ihre Bekannten in der Stadt abfällig zu äußern liebten.

      Endlich auf seinem Stammplatz im Studio setzte er sein Werk fort, Magazine, Tageszeitungen, Dissertationen und Dokumentationen aller Art durchzusehen, abzuhören, auf für ihn wichtige Hinweise hin abzuklopfen und zu verdauen, obwohl er von Tag zu Tag mehr

      empfand, dass das meiste von dem für einen mit normaler Vernunft begabten Menschen unverdaulich sei.

      Er hatte zuvor keine Vorstellung davon gehabt, wer alles und womit bemüht gewesen war, den Geist der Amerikaner des 21. Jahrhunderts zu verwirren. Die meisten Schwierigkeiten bereiteten ihm die dickleibigen Magazine, zur Hälfte mit ganzseitigen Reklamen gefüllt für Dinge, deren Sinn er kaum erahnte, der Rest erschütternd flache, sinnlose Geschichten und einige wenige auf das Zeitgeschehen bezogene Artikel, die ihn aber mehr verwirrten als belehrten. Die vielfältigen Anspielungen, Bezugnahmen, Ironismen und dergleichen mehr erschwerten das Verständnis zusätzlich. Am informativsten war noch die Fülle der Fotos.

      Aber schon die Bildunterschriften ließen mehr Fragen als Antworten entstehen … trotz wort- beziehungsweise sinngetreuer Übertragung durch den Archiv-Servanten in Interling - ein Kurzwort für „Lingua artistico simpla el Mundo entere“, dieser sperrige Begriff war nur noch Fachleuten bekannt – der Weltsprache, die bereits die Kleinsten neben ihrer jeweiligen Muttersprache lernten.

      Als der bevorstehende Zusammenschluss zur Großen Völkerunion eine gemeinsame Sprache dringlich machte, wurde deren Auswahl einem Kongress übertragen. Diese scheinbar einfache Aufgabe komplizierte sich unerwartet, weil neben Englisch, Russisch, Deutsch, Französisch, Spanisch auch noch Chinesisch vorgeschlagen wurde mit der Begründung, das werde ohnehin bereits von fast einem Drittel aller Erdbewohner gesprochen, es sei nur recht und billig, wenn sich der Rest der Menschheit anbequeme. Dagegen polemisierten die Anhänger der europäischen Sprachen, brachten gewichtige Gegengründe vor wie: Zu schwer erlernbar für Nichtasiaten, die Schrift auch in modifizierter Form untauglich für gedachten Zweck, ohne indes die chinesische Delegation zur Rücknahme ihres Antrages bewegen zu können. Nach wochenlangen heftigen Debatten drohte der Kongress ergebnislos auseinanderzugehen. Es war klar, dass unter diesen Umständen keine der vorgeschlagenen Sprachen die Zwei-Drittel-Mehrheit erhalten konnte.

      Einen Ausweg aus der Sackgasse wiesen schließlich die Vertreter der spanisch sprechenden Länder, nachdem sie sich intern beraten hatten. Da Einigung auf eine der Nationalsprachen offenbar unmöglich, zögen sie ihren eigenen Antrag zurück, brächten dafür aber einen neuen ein. Sie schlügen vor, eine Kunstsprache nach dem Vorbild des Esperanto zu wählen. Das System liege vor, es brauche lediglich den aktuellen Bedürfnissen angepasst zu werden. Weder sei kulturelle Überfremdung davon zu befürchten, noch Verletzung von Nationalgefühlen, was in jedem anderen Falle unvermeidlich sei.

      Die

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