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DDR erfahren. Nun wollte ich seine Lieder unbedingt hören, wenigstens eins oder zwei. Artur hatte wegen der Nachbarn keine auf seinen Tonbändern. Er lud mich aber zu einem Abend mit Biermannliedern bei seinen Freunden ein. Unter einer Bedingung: »Nicht in deinen Hosen!« Er borgte mir eine Flickenjeans. Sie war mir zu kurz und zu eng, denn Artur war viel kleiner als ich, aber als ich mich hineingezwängt hatte, fühlte ich mich wie ein Feind des Staates.

      Artur führte mich zu einem der letzten alten, gut erhaltenen Fachwerkhäuser der Innenstadt und klingelte an der mit Schnitzwerk verzierten Haustür aus Holz. Nichts rührte sich im Innern des Hauses. Er klingelte noch einmal. Wir warteten. Artur fluchte. Ich rechnete schon mit einer Enttäuschung, als ein Kopf aus einem Fenster im ersten Stockwerk des Hauses rief: »Artur, du altes Rattengesicht!«

      »Das ist Rätmann«, sagte Artur zufrieden. Jemand polterte eine Treppe im Haus herunter. Die Haustür wurde geöffnet. Wir gingen in ein Zimmer im ersten Stockwerk, in dem drei junge Männer in geflickten Levi-Strauss-Jeans in schäbigen Sesseln saßen. Ein Bett mit einer großen US-Flagge als Überzug stand in einer Ecke des Zimmers. Ich war davon sehr beeindruckt. Nie wäre ich auf den Gedanken gekommen, dass man die US-Flagge auch als Bettbezug verwenden konnte. Artur und ich setzen uns in die Runde. Rätmann führte das große Wort. Er war ein echter Oppositioneller. Ich wollte mich an der Unterhaltung beteiligen, aber was sollte ich sagen? Worüber reden? Etwa über meine Arbeit auf dem Bau? Die anderen lachten über frühere gemeinsame Erlebnisse, während ich ungeduldig wurde. Wann hörte ich Biermannlieder? Ich sah sehnsüchtig auf das Tonband im Zimmer. Endlich forderte Artur Rätmann auf, das Band abzuspielen. Das Band! Biermanns Name wurde nicht einmal ausgesprochen! Rätmann verhielt sich, als wüsste er nicht, wovon die Rede war. Glaubte er etwa, ich wäre ein Stasispitzel? Die Zeit verging. Ich wurde noch ungeduldiger. Als ich es kaum noch erwartete, stellte Rätmann das Tonbandgerät zwischen uns auf den Boden. Er zog die Vorhänge vors Fenster und hängte eine dicke graue Wolldecke davor. Und verließ das Zimmer. Artur öffnete die Flasche Rotwein der Marke »Bärenblut«, die wir mitgebracht hatten. Einer der anderen Männer zündete Kerzen an und klebte sie mit ihrem heißen Wachs am Boden fest. So erwarteten wir Rätmann und das Band mit den Biermannliedern, das er irgendwo versteckt hatte. Rätmann kam zurück, legte das Band in das Tonbandgerät und streckte sich lang auf dem Bett mit der US-Flagge aus. Wir lauschten schweigend. Wie gebannt hörte ich Wolf Biermann zu. Er war auf dem Band meistens unverständlich. Warum er so gefährlich war, begriff ich nicht. Als das Band abgelaufen war, brachte es Rätmann wieder weg, während wir die Wolldecke abhängten und die Vorhänge aufzogen. Das Fenster blieb geschlossen, weil wir über die Lieder diskutieren wollten. Ich erfuhr, warum ich fast nichts verstanden hatte. Das Band war schon x-mal abgespielt worden.

      »Man muss die Texte auswendig kennen, sonst ist man ein Idiot!«, erklärte Rätmann. Alle nickten – außer mir. Während die anderen über Biermanns Botschaften redeten, fühlte ich mich wie ein Idiot.

      Mein Besuch in dem Fachwerkhaus war natürlich kein Thema für eine Kurzgeschichte. Sollte ich etwa über eine Gruppe junger Männer in zerlumpten Hosen beim andächtigen Hören von Biermannliedern in einem dunklen Zimmer schreiben? Ich wollte auch nicht über den Kohlenträger in dreckiger Arbeitskleidung schreiben, mit dem Artur und ich zufällig in einer Kneipe an einem Tisch gesessen hatten. Wir hatten uns über einen Jugendlichen unterhalten, der nachts betrunken in einer fast menschenleeren Straße die Fahne der DDR bespuckt hatte und für diese Tat zu drei Jahren Gefängnis verurteilt worden war. Der Kohlenträger hatte sich plötzlich in unser Gespräch eingemischt: »Gibt doch keine Gefängnisse mehr heute. Ich habe in den Fünfzigern im Zuchthaus gesessen! Bautzen! Vier Jahre! Hatte einen russischen Offizier verprügelt.« Danach hatte er in sein Bierglas gestarrt und emotionslos gesagt: »Ich lass mich nicht anpöbeln von einem besoffenen Russen.« Oder hätte ich darüber schreiben sollen, dass mein Vater jeden Tag frisches Brot ans Vieh verfütterte, weil es durch die Subvention des Staates billiger war als Viehfutter? Über den Fluss meiner Stadt, dessen Wasser durch Abwässer der Betriebe so giftig war, dass ein einziger Schluck davon badende Kinder krank machte?

      Ich schrieb während meiner Lehrjahre als Baufacharbeiter fünf Kurzgeschichten und schickte sie meiner Bekannten im Schriftstellerverband. Ich hatte Begeisterung, Freude und Lob als Antwort erwartet, aber Frau Böhm empfahl mir stattdessen den Besuch eines Zirkels Schreibender Arbeiter: »Sie als Werktätiger sind dort genau richtig!«

      Was für eine Beleidigung für mich.

      Im Wald

      Nach der Lehre, dem Beton, den Maschinen, dem Lärm, dem Dreck, der Großstadt sehnte ich mich nach der Einsamkeit des Waldes. Ich wollte nach dem Spruch leben: »Ein Mann soll im Leben ein Kind zeugen, ein Buch schreiben und einen Baum pflanzen.« Kinder würde ich zeugen, Bücher würde ich schreiben, Bäume wollte ich pflanzen. So sollte es in meiner Biografie stehen: »Im Alter von achtzehn Jahren begab sich der große Autor, angeekelt vom Leben in der Stadt, in die Einsamkeit der Wälder.«

      In einer Kneipe erzählte mir ein hagerer Alkoholiker von der Arbeit als Harzer im Wald: »Das ganze Jahr bist du allein! Im ersten Jahr sprichst du mit den Bäumen und im zweiten Jahr antworten sie dir.« Ich war begeistert und fest entschlossen, die Einsamkeit der Wälder kennenzulernen.

      Ein riesiger Mann in einer grünen Jacke mit Hirschhornknöpfen, einer grauen Hose, schwarzen hohen Stiefeln und einer Fellmütze mit heruntergeklappten Ohrenschützern stand vor meiner Wohnungstür. Ich hätte im Sommer keine Mütze – schon gar nicht mit heruntergeklappten Ohrschützern – getragen wie dieser Riese mit wettergegerbtem Gesicht, unter dessen Blick ich mich klein, ja, winzig fühlte. Das war Herr Deutsch, mein Brigadier. Ich hatte einen Arbeitsvertrag als Harzer im volkseigenen Forstbetrieb »Wladimir Iljitsch Lenin« unterschrieben.

      »Arbeite ich als Harzer allein im Wald?«, hatte ich den Förster beim Einstellungsgespräch gefragt.

      »Allein schon, aber im Kollektiv, wie es sich gehört!«, war die Antwort gewesen.

      Der Förster hatte mir den Besuch meines Brigadiers angekündigt. Ich bat Herrn Deutsch herein und schloss das Fenster meines Zimmers. Es wurde gerade kein Kohlestaub vom Güterbahnhof hineingeweht, aber die ohrenbetäubenden Geräusche wie das Knallen der Waggons gegeneinander und der Lärm des Baggers hätten das Gespräch zwischen uns verhindert. Herr Deutsch blieb stehen. Seine Fellmütze stieß an meine Deckenlampe. Ich sah hoch zu ihm. Er wollte wissen, ob ich schon als Harzer gearbeitet hätte. Ich verneinte es. Ob ich schon im Wald gewesen sei. Nur als Spaziergänger. Mein Brigadier war unzufrieden mit den Auskünften. Ich konnte es erkennen an der Mimik zwischen den heruntergeklappten Ohrenschützern hoch oben an meiner Lampe. Die Arbeit als Harzer im Wald sei sehr hart und sehr verantwortungsvoll. Ein Harzer müsse jeden Morgen, bei jedem Wetter, in jeder Jahreszeit zur Arbeit in den Wald. Das sei eine Selbstverständlichkeit für mich, sagte ich. Ein Harzer müsse die Einsamkeit ertragen können. Ich beteuerte, dass ich mich danach geradezu sehne. Zwischen den Ohrenschützern neben der Lampe war gar keine Reaktion zu erkennen.

      »Ich will viel Geld verdienen im Wald!«, sagte ich in der Hoffnung auf ein positives Echo aus der Nähe der Zimmerdecke.

      »Fährst du mit dem Motorrad oder dem Moped zur Arbeit?«

      »Mit dem Fahrrad.«

      »Das wird nichts!«, behauptete Herr Deutsch. Wie er so dastand, unbeweglich, den Kopf im Fell neben der warm leuchtenden Lampe, mit eisigem Blick auf mich, ahnte ich, dass er mich nicht eingestellt hätte, wenn er gefragt worden wäre. Er war aber nicht gefragt worden und musste mich akzeptieren. Ja, er musste das Beste aus der Sache machen. Wir beide wussten es.

      Wir verließen die Wohnung und gingen hinunter zu seinem Moped vor dem Plattenbau, denn mein Brigadier wollte mit mir in den Wald fahren, um mich in die Arbeit als Harzer einzuweisen. Ich fragte mich beim Anblick seines Mopeds, ob es uns – mich und seine riesenhafte Gestalt – beide transportieren könne. Er setzte sich darauf. Das Moped sackte unter seinem Gewicht zusammen. Ich setzte mich vorsichtig hinter seinen massigen Hintern. Das Moped röchelte leise beim Start – doch zu meiner Verwunderung fuhr es. Ich saß hinter meinem Brigadier auf dem Moped und sah in euphorischer Stimmung schon gedruckt vor mir: »Den berühmten Autor zog es in jungen Jahren in die Einsamkeit

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