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      Das Leben als Maurerlehrling empfand ich als geistlos. Bei meinem ersten Ausgang entlieh ich daher Albert Einsteins »Über die spezielle und die allgemeine Relativitätstheorie« aus der Bibliothek. Die anderen Lehrlinge interessierten sich vor allem dafür, wie viel Westgeld sie später durch Schwarzarbeit nach Feierabend verdienen würden. Wie erhaben war dagegen Einsteins Relativitätstheorie. Außer mir las nur noch ein Lehrling in der Zweizimmerwohnung: Ludwig lag abends auf seinem Bett, bewegte bei jeder Silbe seine Lippen und brauchte für jedes Kinderbuch ein paar Wochen.

      »Was ist das für ’n Quatsch?«, fragte er mich, als er bemerkte, dass auch ich ein Buch las.

      »So was wie Marx und Lenin. Nur anders.«

      Weil ich endlich meinen Namen schwarz auf weiß auf Papier gedruckt sehen wollte, besuchte ich die Lokalredaktion der Schweriner Volkszeitung, ein Blatt der SED. In einem kleinen Büro saß ein schlanker, bleicher junger Mann mit einer Halbglatze an einem Schreibtisch hinter einer Schreibmaschine und Stapeln von bedrucktem Papier. Ich vermutete, dass er als Journalist neidisch sein würde, wenn ich mich als angehender Schriftsteller vorstellte. Deshalb behauptete ich, es sei mein Traum, Journalist zu werden. Der Mann hatte plötzlich gute Laune.

      »Was lernst du?«, wollte er wissen.

      »Baufacharbeiter.«

      »Das ist gut, das ist gut. Was hast du schon geschrieben?«

      »Artikel für die Wandzeitung in der Schule«, log ich.

      »So haben wir alle angefangen. Weißt du, was du unbedingt brauchst für deinen Traum? Weißt du das?«

      Ich zuckte mit den Schultern.

      »Talent!«, triumphierte er. »Die Leute denken, man schmiert schnell ein paar Zeilen zusammen. Die Doofen.«

      Der Mann redete. Ich hörte zu. Ja, das waren sie, die Schwierigkeiten, die jeder große Schriftsteller am Anfang seiner Laufbahn überwinden musste. Der Mann hatte keine Ahnung. Der hatte überhaupt keine Ahnung.

      »Schreiben, schreiben, schreiben«, sagte er. »Lesen, lesen, lesen: besonders meine Artikel. Du musst unter Zeitdruck liefern können, sonst ist der Journalismus nichts für dich. Schreib über deine Arbeit auf der Baustelle. Ich drucke es, wenn es was taugt. Stell es dir aber nicht einfach vor. Lutz ist schon seit vier Wochen Volkskorrespondent und hat noch keinen Artikel veröffentlicht.«

      Erst jetzt bemerkte ich, dass wir nicht allein in dem kleinen Raum waren. Ein schmächtiger Junge hockte hinter dem Journalisten geduckt auf einem Stuhl und sah mich hasserfüllt an.

      »Ich habe schon jetzt mehr Volkskorrespondenten als mein Vorgänger«, freute sich der Journalist, als ich mich von ihm verabschiedete.

      Ich durchsuchte die Zeitungen im Müllraum des Lehrlingswohnheims nach einem Artikel des Journalisten: Unter der Überschrift »Ein überwältigender Sieg des Sozialismus« hatte er über die Eröffnung eines Kindergartens in einem Plattenbau geschrieben. Ich wollte nichts über die Arbeit in meiner Lehrbrigade schreiben, denn das würde nicht gedruckt werden. Ich wollte etwas über eine sozialistische Lehrbrigade schreiben. Jeden Tag beschäftigte ich mich damit. Nach zwei Wochen hatte ich meinen Artikel im Kopf fast fertiggestellt. Nach drei Wochen fasste ich den Vorsatz, ihn in den nächsten Tagen zu schreiben. In den nächsten Monaten dachte ich immer wieder daran. Ein halbes Jahr nach meinem Besuch in der Lokalredaktion entdeckte ich den Journalisten in einer Gruppe Besucher auf der Baustelle. Er sollte vermutlich über den Bau des Hauses schreiben, dessen Fundament wir Lehrlinge mit flüssigem Beton füllen würden. Ich hatte den Mann fast vergessen. Nun grüßte ich ihn erfreut. Auch nachdem ich ihn mehrmals gegrüßt hatte, erwiderte er den Gruß nicht, obwohl er mich erkannt hatte.

      Es war Lehrmeister Milch, der meine schriftstellerische Arbeit förderte. In einer Arbeitspause in der Baracke erklärte er uns: »Wir müssen ein Brigadetagebuch haben, sonst gibt ’s kein Geld als sozialistische Lehrbrigade. Jeder von euch schreibt eine Seite voll. Wer fängt an?«

      Wir schwiegen. Niemand meldete sich. Auch ich hielt mich zurück. Noch.

      Milch knurrte drohend. Die meisten Lehrlinge senkten den Kopf.

      »Keiner kommt davon!«, dröhnte es im Raum.

      Ich sah den Lehrmeister als Einziger direkt an. Fast hätte ich mich gemeldet; ich konnte mich kaum noch zurückhalten. Milch beschimpfte uns, dann sagte er: »Die erste Seite schreibt ...!" Während der nächsten Sekunden waren Angst und Anspannung im Raum zu spüren. Milch vollendete den Satz. Die meisten Lehrlinge atmeten erleichtert auf. Ich nicht.

      »Ich bin doch nicht schwul!«, sagte Johann.

      »Denk dir was aus! Sozialistisches Brigadeleben! Kampf um die Planübererfüllung! Wenn wir wegen dir kein Geld kriegen, dann mach dich warm!«, sagte der Lehrmeister und stellte Johann einen Tag für diese Aufgabe frei. Einen ganzen Arbeitstag für eine Seite! Ich konnte es kaum fassen. Die anderen Lehrlinge beneideten Johann zu meiner Überraschung nicht. Während er in der Baracke über eine sozialistische Lehrbrigade schreiben sollte, verdrahteten wir Baustahl in einer Baugrube, knieten bei Regen und Wind auf dem Boden. Die Kälte kroch in unsere Hände. Rostiges Grubenwasser durchnässte unsere Hosen. Als wir in der Pause den warmen Raum betraten, saß Johann am Tisch und verlor kein Wort über das Brigadetagebuch. Er sagte gar nichts. Milch suchte den halben Tag auf der Baustelle Dachziegel für sein Einfamilienhaus. Wahrscheinlich verschwendete niemand Gedanken an das Brigadetagebuch – außer mir.

      Wie der Lehrmeister Johanns Arbeit beurteilte, erfuhren wir am späten Nachmittag. Wir hörten ihn schreien, bevor er Johann mitsamt dem Stuhl, auf dem er saß, aus der Baracke warf. Johann hatte nur das Datum geschrieben. Er kehrte erleichtert zu uns zurück in die Kälte, die Nässe, den eisigen Wind, zurück in die Baugrube. Die anderen Lehrlinge fragten ängstlich, wer der Nächste sein würde. Ich nicht. Als ich zwei Tage später endlich einmal mit dem Lehrmeister allein war, sagte ich, als sei es mir plötzlich eingefallen: »Ach ja, Meister, wenn Sie keinen zum Schreiben finden: Ich habe so was schon mal machen müssen.«

      »Du?«, bellte er.

      »Im Kinderferienlager. Es ging um die Natur. Blumen und Tiere beobachten.«

      »Hier geht es nicht um Frösche, sondern ums Geld.«

      »Ich mache es, wenn Sie es wollen.«

      »Man muss doch nur die Seiten vollschmieren«, schnaufte er. »Ich würde es ja selber machen, aber ich habe keine Zeit!«

      Am nächsten Tag blieb ich allein in der Unterkunft. Es war mir klar: Johann hatte sich das Leben in einer sozialistischen Lehrbrigade nicht vorstellen können. Ich aber war Schriftsteller. Ich hatte Fantasie. Ich erinnerte mich, dass wir drei Wochen lang nicht hatten arbeiten können, weil unser Baustahl gestohlen worden war. Lehrmeister Milch hatte damals die Wartezeit mit den Maurern in der Kantine verbracht. Die Lehrbrigade hatte die Baustelle fegen sollen. Stattdessen hatten wir in einer Halle gesessen, geraucht und geschimpft. In das Brigadetagebuch schrieb ich, dass der Baustahl von einer Firma aus dem kapitalistischen Westen nicht geliefert worden sei. Die sozialistische Lehrbrigade habe die Wartezeit auf neuen Baustahl genutzt, indem sie in Eigeninitiative die ganze Baustelle säuberte. Die Sowjetunion habe schnell und solidarisch neuen Baustahl geliefert und danach habe die sozialistische Lehrbrigade doppelt so hart gearbeitet, um den Plan zu erfüllen. Es fiel mir leicht zu schreiben. Ich fühlte mich wohl dabei. Als die anderen Lehrlinge am Abend schlecht gelaunt in die Unterkunft polterten, sagte ich nichts über meine Arbeit. Der Lehrmeister fragte nicht danach. Am nächsten Tag trieb er die Lehrlinge schimpfend aus der Baracke zur Arbeit, aber ich blieb sitzen. Milch ließ mich zurück, als sei es beschlossene Sache. Ich konnte es kaum fassen. In der Frühstückspause kamen sie zurück, schimpfend und schlecht gelaunt wie gewöhnlich. Es war alles wie immer, nur dass ich meine gute Laune verbergen musste. Als die Pause zu Ende war, scheuchte Milch die Lehrlinge wieder raus in die Kälte, in die Nässe, in den Wind, zum Baustahl in die Grube. Ich aber blieb in der warmen Unterkunft. Nach dem Mittagessen brüllte der Lehrmeister: »Raus, faule Bande!« Ich blieb sitzen. Am Nachmittag kam Johann – ausgerechnet er – auf der Suche nach einer Drahtbürste in die Unterkunft. Ich wachte

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