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Denk nicht an Morgen. Bernd Kersch
Читать онлайн.Название Denk nicht an Morgen
Год выпуска 0
isbn 9783847630913
Автор произведения Bernd Kersch
Жанр Сделай Сам
Издательство Bookwire
Manchmal habe ich den dicken Mann einfach nur gehasst, besonders dann, wenn ich mal wieder den Hintern verhauen bekommen hatte. Es ist keine Übertreibung, wenn ich hier schreibe, dass ich ein pflegeleichtes Kind war, umso mehr überlege ich immer wieder, warum er mir so oft den Hintern gehauen hatte. Fest steht, hätte er mich ab und zu mal geschlagen, es wäre mir nicht so tief im Gedächtnis hängen geblieben. Es ist erstaunlich, aber die schlechten Dinge bleiben meistens am besten in Erinnerung, und davon habe ich wohl mehr als genug. Auf jeden Fall war ich froh, als ich mit ihm irgendwann nichts mehr zu tun hatte.
Er hatte noch einen Sohn aus erster Ehe. Dieser war derart verzogen, dass alle Kinder der Siedlung nichts mit ihm zu tun haben wollten. Wahrscheinlich gibt es überall auf der Welt in jeder Siedlung ein Kind, das frech zu anderen Kindern ist, schlimme Dinge sagt, und auch tut, hier war es eben jener Junge, und die anderen Kinder mieden ihn, wo sie konnten. Dumm nur, dass jener Junge ausgerechnet mit mir zusammen in einer Wohnung lebte. Mit meiner Schwester oder mit mir spielten die Kinder in der Siedlung allerdings gern, nur wollten sie eben nichts mit ihm zu tun haben. Als der dicke Mann das herausbekam, sein Sohn hatte es ihm natürlich sofort erzählt, durften wir nicht mehr mit den anderen Kindern spielen. Ein anderes Mal stritt er mit mir alleine, auch wenn ich heute nicht mehr weiß, worum es ging. Ich muss dazu sagen er war gut und gern vier bis fünf Jahre älter, und dementsprechend auch größer und stärker. Jedenfalls drückte er mir die Luft mit seinen Händen am Hals ab. Ich lief dunkelrot an und wäre fast erstickt. Er ließ nach einiger Zeit zum Glück wieder los und ich lief schnell ins Wohnzimmer zu meiner Mutter. Aber diese lachte nur zusammen mit dem dicken Mann lauthals. Es muss wohl furchtbar lustig ausgesehen haben, wie ich kreidebleich hereinkam und alles keuchend erzählte. Ich werde dieses Lachen niemals vergessen. In diesem Augenblick fühlte ich mich herabgesetzt und gedemütigt, wahrscheinlich war ich ihnen nicht so viel wert wie dieser Junge. Wäre ich nicht so klein gewesen, ich wäre an diesem Tag sicher weggelaufen. Aber wohin kann ein Dreijähriger schon alleine laufen? Die Stadt war für mich riesig, und ich wäre sicher nirgendwo angekommen. Also blieb mir nichts anderes übrig als mich hart und unnachgiebig zu geben, und abends alleine in meinem Bettchen zu liegen und zu weinen. Weinen aus Verzweiflung darüber, dass meine Mutter es nicht einmal für nötig empfunden hatte, nachzufragen, was eigentlich passiert war. Noch heute denke ich oft daran, und warum dieser Junge niemals eine Strafe bekommen hatte. Niemand fragte, warum er das getan hatte, und niemand interessierte sich anschließend dafür, ob es mir gut ging.
Zu dieser Zeit hatte ich auch meine erste richtige Krankheit, die Windpocken. Es juckte furchtbar, aber ein Arzt verschrieb ein Puder gegen den unsäglichen Juckreiz. Meine Mutter sah damals sehr oft nach mir und versuchte mich immer vom Kratzen abzuhalten. Es war schön mal im Mittelpunkt zu stehen. Alle Liebe und Zuwendung der Mutter zu bekommen, ich konnte zu jener Zeit ja auch noch nicht ahnen, dass dies das letzte Mal sein würde, dass ich so viel Aufmerksamkeit von ihr bekommen würde.
Eine Sache ist auf jeden Fall wohl noch erwähnenswert. Es gab einmal warmes Kraut zu essen. Meine Mutter war wohl keine so gute Köchin, deswegen schmeckte mir wohl auch eher selten das, was sie kochte. Das Kraut war warm und roch fürchterlich und ich suchte verzweifelt nach einer Lösung, um es nicht essen zu müssen. Meine Mutter ging in die Küche, und ich überlegte fieberhaft, wie ich dieses Kraut loswerden könnte. Mein Blick fiel auf eine Bodenvase, in der einige Blumen waren. Diese hob ich kurz hoch, und dann wurde die Vase mit dem warmen Kraut aufgefüllt, danach kamen die armen Blümchen wieder auf ihren alten Platz. Meine Mutter merkte es nicht gleich, sondern erst einige Tage später. Der Gestank war es wohl, der ihr das Versteck verraten hatte. Ich glaube ich bekam dafür auch den Hintern voll, aber das kann ich nicht mehr sicher sagen. Aber das Kraut hab ich dennoch nicht gegessen.
Es gibt auch etwas Positives aus dieser Zeit zu berichten. Ich bekam mein erstes Auto. Es war wahrscheinlich ein Weihnachtsgeschenk, und es kam... Ich wusste damals nicht von wem, den es wurde mir niemals erzählt. Später habe ich dann erfahren, dass es von meinem Vater war. Eigentlich hatte er meistens immer alles besorgt und gekauft, aber niemand sagte mir das. Auf jeden Fall war ich sehr stolz auf mein knallrotes Auto, und nur ganz ausgesuchte Leute durften mitfahren. Es war ein kleines Tretauto, mit richtigem Kofferraum und Türen. Ich liebte mein Auto, und ich glaube es liebte mich auch ein wenig. Das erste Auto im Leben eines Mannes ist es immer wert erwähnt zu werden, und so möchte ich dies hier auch tun. An diesem Tag war ich glücklich, so glücklich und unbesorgt wie es nur Kinder sein können.
Ich habe aus dieser Zeit gelernt, dass man Kinder mit Schlägen nicht erziehen kann. Das Anschreien keine Lösung von Problemen bedeutet, und das den Hintern verhauen eine angenehme Strafe ist. Es tut höllisch weh, dafür ist es schnell vorbei, und man kann anschließend wieder weiter machen, wo man kurz zuvor aufgehört hatte. Ich konnte den dicken Mann, nachdem er mich geschlagen hatte, noch weniger leiden wie vorher, und ich war froh, als ich dort endlich weg war. Geändert habe ich mich dadurch allerdings nicht. Einzig, wenn meine Mutter mit mir geschimpft hat, dann hat mich das getroffen. All diese Schläge und das Anschreien haben nur eines bei mir bewirkt, ich wurde nach außen immer härter und ließ immer weniger an mich herankommen. Später wurde mir immer wieder erzählt, dass ich als Kind sehr stur sein konnte. Manchmal habe ich mich stundenlang mit niemandem mehr unterhalten. Tatsächlich war dies in meinen Augen nur eine Reaktion darauf, dass ich als kleiner Junge zu oft für Dinge bestraft wurde, die ich wirklich nicht getan hatte. Ich wusste als kleines Kind sehr wohl, wann ich etwas ausgefressen hatte, und wenn ich dann eine Strafe dafür bekam, dann nahm ich diese auch hin. Aber viel zu oft gab es für mich eine Strafe für Sachen, die andere getan hatten. Warum hatte der Sohn von dem dicken Mann immer recht und ich war immer der Schuldige? War er denn etwas Besseres wie ich, oder wurde er einfach nur mehr geliebt. Diese Gedanken beschäftigten mich sehr viele Jahre in meiner Kindheit, denn niemand war da, den ich hätte um Rat fragen können. Niemand der es mir hätte erklären können. So war ich ganz auf mich alleine gestellt, so wie es eben immer in meinem Leben gewesen war.
Klinikerfahrungen
Es gibt Dinge im Leben, die niemand so genau nachvollziehen kann, und Erfahrungen, auf die man sehr gut verzichten könnte. So eine Erfahrung musste ich damals auch machen. Meine Mutter bekam eine Lungenkrankheit, als ich etwa vier Jahre alt war. Ich weiß nicht, was genau für eine Krankheit, aber sie musste für eine lange Zeit in eine spezielle Fachklinik. Hatte ich mich etwa angesteckt? Habe ich deshalb immer morgens eine Tablette nehmen müssen? Eines Tages kam ich dann, für mich vollkommen überraschend, auch in eine Klinik. Aber meine Mutter war nicht in diesem Krankenhaus. Sie hatte auch vorher niemals mit mir darüber gesprochen. Wo war sie nun? Ich stellte sehr schnell fest, dass ich dort ganz alleine war.
Heute weiß ich das Es nur eine Fachklinik bei uns gab. Wieso war sie nicht in der Klinik, und warum war ich ganz alleine hier? Ich bekam in all den Monaten niemals Besuch, und niemals einen Anruf. Einzig mein Vater besuchte mich dort öfters. Durfte mich sonst niemand besuchen oder anrufen, oder wollte das niemand sonst? Warum hat mich in dieser Zeit meine Mutter niemals angerufen? Auch sonstige Verwandte meldeten sich niemals bei mir. Durch das Telefon konnte man sich ja wohl auch damals schon nicht anstecken. So saß ich oft in einer stillen Ecke und dachte darüber nach, warum mich meine Familie wohl vergessen hatte. Oft überkam mich die Angst, davor alleine zu sein, dass niemand mehr Interesse an mir hätte. Konnte es denn sonst noch einen Grund dafür geben, dass eine Mutter ihren kleinen Jungen in ein Krankenhaus schickte, und sich niemals danach erkundigte, wie es ihm ging, noch ihn einfach mal anrief. Niemanden kannte ich hier, es waren lauter fremde Gesichter, in die ich blickte. Aber ich sollte erfahren, dass ich noch sehr viel öfter bei für mich wildfremden Leuten leben müsste. Dies sollte erst der Anfang sein. Wer kann es nachvollziehen, wie es ist, wenn ein vierjähriger Junge in eine Klinik kommt, zu lauter fremden Menschen, um dort zu leben. Und ich musste dort viele Monate bleiben, in denen mir niemand sagte, warum ich dort war. Niemand war da, den ich kannte, niemand dem Ich hätte vertrauen können. Für mich brach eine Welt zusammen. Dieses Gefühl der Einsamkeit, das ich noch zur Genüge kennenlernen sollte. Wie verloren sich ein Mensch fühlen kann, wenn er plötzlich feststellt, dass sich keiner für einen interessiert oder zuständig fühlt. Jenes Gefühl, das jedes Jahr so viele Menschen in den Selbstmord treibt, ich lernte es damals zum ersten Mal in meinem