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Jünglingsjahre. Лев Толстой
Читать онлайн.Название Jünglingsjahre
Год выпуска 0
isbn 9783752995640
Автор произведения Лев Толстой
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
»Wer ist gerufen? Wer ist Bartenjew?« wurde um mich her gefragt.
»Ikonin, geh, du bist gerufen; aber wer ist Bartenjew – Mortenjew? Ich kenne ihn nicht; melde dich doch«, rief ein hochgewachsener, rotwangiger Gymnasiast, der hinter mir stand.
»Sie sind an der Reihe«, sagte St. Jérôme zu mir.
»Ich heiße Irtenjew«, sprach ich zu dem rotwangigen Gymnasiasten, »ist Irtenjew gerufen?«
»Jawohl, warum gehen Sie denn nicht? – Seht nur den Stutzer«, fügte er halblaut hinzu, doch so, daß ich seine Worte hörte, als ich aus der Bank trat. Vor mir ging Ikonin, ein schlanker, junger Mann von etwa fünfundzwanzig Jahren, der zu der dritten Gattung gehörte, zu den alten. Er trug einen olivgrünen, engen Frack, eine blaue Atlashalsbinde, auf welche rückwärts die langen, blonden Haare fielen, die sorgfältig à la mushik gekämmt waren; mir war sein Äußeres schon in der Bank aufgefallen: er war nicht häßlich und recht gesprächig, und mich frappierte besonders das seltsame, rotblonde Haar, das er sich auf den Hals herabhängen ließ, und noch mehr seine merkwürdige Gewohnheit, immer wieder die Weste aufzuknöpfen und sich unter dem Hemd die Brust zu kratzen.
Drei Professoren saßen an dem Tisch, zu dem ich mit Ikonin herantrat; keiner von ihnen erwiderte unseren Gruß. Ein junger Professor mischte die Fragezettel wie ein Spiel Karten; ein anderer mit einem Orden auf dem Frack blickte einen Gymnasiasten an, der sehr schnell etwas von Karl dem Großen erzählte und jeden Satz mit »endlich« begann; und der dritte, ein alter Herr mit Augengläsern, blickte uns mit gesenktem Kopfe über die Brille an und zeigte auf die Fragezettel. Ich fühlte, daß sein Blick gleichzeitig auf mich und auf Ikonin gerichtet war und daß ihm irgend etwas an uns nicht gefiel (vielleicht Ikonins rotes Haar), denn er machte, wiederum uns beide zugleich anblickend, ein ungeduldiges Zeichen mit dem Kopfe, daß wir die Fragezettel schneller nehmen sollten. Ich war ärgerlich und fühlte mich gekränkt, erstens weil niemand unsern Gruß erwidert hatte, und zweitens weil man mich offenbar mit Ikonin unter dem einen Begriff »Examinanden« zusammenfaßte, und daß man gegen mich wegen Ikonins roter Haare voreingenommen war. Ich nahm ohne Scheu einen Zettel und wollte eben antworten, als der Professor mit den Augen auf Ikonin wies. Ich las meine Frage durch, sie war mir bekannt, und ruhig wartend, bis an mich die Reihe kam, beobachtete ich, was vor meinen Augen geschah. Ikonin war gar nicht schüchtern, ja er schob sich gleichsam mit seiner ganzen Figur fast zu keck vor, um den Zettel zu ziehen, warf sein Haar zurück und las mutig, was auf dem Zettel geschrieben stand. Er öffnete schon den Mund um, wie mir schien, die Antwort zu beginnen, als plötzlich der Professor mit dem Orden den Gymnasiasten mit einer Belobung entließ und uns anblickte; Ikonin schien sich auf etwas zu besinnen und hielt inne. Das allgemeine Schweigen dauerte etwa zwei Minuten.
»Nun?« sagte der Professor mit der Brille.
Ikonin öffnete den Mund, blieb aber wieder stumm.
»Sie sind doch nicht allein hier, belieben Sie zu antworten oder nicht?« fragte der junge Professor.
Aber Ikonin blickte ihn nicht einmal an, er betrachtete aufmerksam seinen Zettel und brachte kein Wort hervor. Der Professor mit den Augengläsern schaute ihn sowohl durch die Brille, als über die Brille und auch ohne Brille an, denn er hatte Zeit gehabt, die Brille abzunehmen, sorgfältig zu putzen und wieder aufzusetzen. Ikonin brachte kein Wort hervor. Plötzlich erschien ein Lächeln auf seinem Gesichte, er warf das Haar zurück, wandte sich wieder in ganzer Größe dem Tische zu, legte den Zettel hin, sah alle Professoren der Reihe nach an, sah dann mich an, kehrte sich um und ging mit festen Schritten, die Arme hin- und herschwenkend, auf seinen Platz zurück. Die Professoren warfen sich Blicke zu.
»Ein nettes Täubchen!« sagte der junge Professor, »es ist einer, der auf eigene Kosten studiert.«
Ich trat näher an den Tisch heran, aber die Professoren fuhren fort, fast flüsternd miteinander zu sprechen, als ahne niemand von ihnen meine Anwesenheit. Ich war damals fest überzeugt, daß alle drei Professoren nur die eine Frage beschäftigte, ob ich das Examen bestehen und ob ich es gut bestehen würde, und daß sie sich nur aus Wichtigtuerei so stellten, als sei ihnen das ganz gleichgültig, und als bemerkten sie mich nicht.
Als der Professor mit der Brille sich gleichgültig zu mir wandte und mich aufforderte, die Frage zu beantworten, und ich ihm in die Augen sah, schämte ich mich gewissermaßen für ihn, daß er so heuchelte, und ich stockte ein wenig beim Beginne der Antwort; dann aber ging es besser und besser, und da die Frage der russischen Geschichte, die ich sehr gut kannte, entnommen war, so endete ich glänzend und verstieg mich sogar dazu, daß ich, um die Professoren fühlen zu lassen, daß ich nicht Ikonin sei, und daß man mich mit ihm nicht verwechseln dürfe, ihnen vorschlug, noch eine Frage zu ziehen. Aber der Professor sagte nur mit dem Kopfe nickend: »Gut ist's!« und vermerkte etwas im Notizbuch. Als ich zu meiner Bank zurückgekehrt war, hörte ich sofort von den Gymnasiasten, die weiß Gott woher alles erfuhren, daß ich eine Fünf1 bekommen habe.
1 In den russischen Schulen gilt 5 als die beste, 1 als die schlechteste Zensurnote. (Anm. d. Übers.)
Das Mathematikexamen
Bei den folgenden Examen hatte ich außer Grapp, den ich meiner Bekanntschaft nicht würdig hielt, und Iwin, der mir aus irgend einem Grunde aus dem Wege ging, schon viele neue Bekannte. Einige von ihnen begrüßten mich schon. Ikonin freute sich sogar, als er mich sah, und teilte mir mit, daß er in Geschichte noch einmal geprüft werden würde, daß der Geschichtsprofessor ihm noch vom vorjährigen Examen, in dem er ihn auch habe durchfallen lassen, nicht wohlgesinnt sei. Ssemjonow, der in dieselbe Fakultät eintreten wollte wie ich, in die mathematische, blieb bis zum Schluss der Prüfungen gegen alle unzugänglich, saß einsam und schweigend mit aufgestützten Ellenbogen da, die Finger in seine grauen Haare gewühlt, und beantwortete alle Fragen vorzüglich. Er war der Zweite; der Erste war ein Schüler des ersten Gymnasiums, ein hochgewachsener, magerer, brünetter, sehr blasser Bursche, mit einer schwarzen Binde um die Wange und einer Stirn voller Finnen. Er hatte magere, rote Hände mit sehr langen Fingern, deren Nägel so abgebissen waren, daß die Fingerspitzen aussahen, als wären sie mit Zwirnfädchen umbunden. Das alles gefiel mir sehr und schien mir grade das, was sich für den »Ersten« gehörte. Er sprach mit allen, wie auch alle, sogar ich, mit ihm Bekanntschaft schlossen, doch in seinem Gang, in den Bewegungen seiner Lippen und in seinen schwarzen Augen lag – wie mir schien – etwas Ungewöhnliches, etwas »Magnetisches«.
Zur Mathematikprüfung erschien ich früher als gewöhnlich. Ich war in diesem Fache ziemlich gut beschlagen, aber es gab zwei Fragen in der Algebra, die ich dem Lehrer gewissermaßen unterschlagen hatte, und die mir daher vollständig fremd waren. Es waren das, wie ich mich noch heute erinnere, die Theorie der Kombinationen und das Newtonsche Binom. Ich setzte mich auf eine der letzten Bänke und studierte diese Fragen; doch das Ungewohnte einer Arbeit in geräuschvollem Zimmer und der Mangel an Zeit, den ich voraussah, hinderten mich daran, in das Gelesene einzudringen.
»Da ist er ja! Komm her, Nechljudow«,