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diesen Vorsatz nicht ausführen zu können, wollte er so schnell als möglich aufs Land fahren; er beschloss sogar, meinen Eintritt in die Universität nicht abzuwarten, sondern gleich nach Ostern mit den Mädchen nach Petrowskoje zu gehen, wohin Wolodja und ich später Nachkommen sollten.

      Wolodja war den ganzen Winter bis in den Frühling hinein unzertrennlich von Dubkow (seine Beziehungen zu Dmitrij begannen kälter zu werden). Ihr Hauptvergnügen bestand, so viel ich aus den Gesprächen, die ich hörte, schließen konnte, darin, daß sie beständig Champagner tranken, Schlitten fuhren, und zwar an den Fenstern der Dame vorüber, in die sie, wie es schien, beide zugleich verliebt waren, und daß sie nicht mehr auf Kinderbällen, sondern auf wirklichen Bällen vis-a-vis tanzten. Obwohl Wolodja und ich uns sehr gern hatten, trug dieser letzte Umstand viel dazu bei, uns einander zu entfremden; wir fühlten einen zu großen Unterschied zwischen dem Knaben, der noch Stunden nimmt, und dem jungen Mann, der auf großen Bällen tanzt, um uns gegenseitig unsere Gedanken mitzuteilen. Katjenka war schon ganz erwachsen, las sehr viele Romane, und der Gedanke, daß sie bald heiraten könne, erschien mir nicht mehr als Scherz; aber obgleich auch Wolodja erwachsen war, traten sie einander nicht näher und schienen sich sogar gegenseitig zu hassen. Überhaupt interessierte Katjenka. wenn sie allein zu Hause war, sich für nichts anderes als für ihre Romane und langweilte sich meist; wenn aber fremde Herren zugegen waren, so wurde sie sehr lebhaft und liebenswürdig und begann ein Augenspiel, von dem ich durchaus nicht begriff, was sie damit bezwecken wollte. Erst später, als ich im Gespräch von ihr hörte, daß die einzige, einem jungen Mädchen erlaubte Koketterie die Koketterie der Augen sei, konnte ich mir diese sonderbaren, unnatürlichen Augenverdrehungen erklären, über welche die andern, wie mir schien, sich gar nicht wunderten. Auch Ljubotschka begann schon fast ganz lange Kleider zu tragen, so daß man ihre Gänsefüße beinahe gar nicht mehr sah, aber sie war noch dieselbe Heulliese wie früher; sie träumte nicht mehr davon, einen Husaren zu heiraten, sondern einen Sänger oder Musiker, und widmete sich daher eifrig der Musik. St. Jérôme, welcher wußte, daß er nur bis zum Abschluss meiner Prüfungen in unserm Hause bleiben werde, hatte sich bei einem Grafen eine Stelle gesucht und sah seither mit einer gewissen Geringschätzung auf uns herab. Er war selten zu Hause, begann Zigaretten zu rauchen, was damals als besondere Eleganz galt, und pfiff beständig allerlei lustige Melodien. Mimi wurde mit jedem Tag griesgrämiger und schien von der Zeit an, wo wir alle anfingen, erwachsen zu sein, von niemand und von nichts etwas Gutes zu erwarten.

      Als ich zu Mittag kam, traf ich im Speisezimmer nur Mimi, Katjenka, Ljubotschka und St. Jérôme; Papa war nicht zu Hause und Wolodja arbeitete mit den Kameraden auf seinem Zimmer fürs Examen und hatte gebeten, daß man ihm das Mittagessen aufs Zimmer bringe. Überhaupt nahm in der letzten Zeit Mimi, welche niemand von uns respektierte, bei Tisch zumeist den ersten Platz ein, und das Diner hatte viel von seiner früheren Pracht verloren; es war nicht mehr wie zu Mamans oder Großmamas Zeiten eine gewisse Feierlichkeit, die zur bestimmten Stunde die ganze Familie vereinigte und den Tag in zwei Hälften teilte. Wir erlaubten uns zu spät zu kommen, erst beim zweiten Gang zu erscheinen, den Wein aus Wassergläsern zu trinken (wozu St. Jérôme selbst das Beispiel gab), uns auf dem Stuhle zu lümmeln, vor dem Ende des Mahles aufzustehen und ähnliche Freiheiten. Von der Zeit an hörte das Diner auf, wie früher ein tägliches Freudenfest für die Familie zu sein, wie das in Petrowskoje der Fall gewesen war, wenn wir alle um zwei Uhr gewaschen, umgekleidet im Salon saßen und lustig plaudernd die bestimmte Stunde erwarteten. Genau um die Zeit, wenn die Uhr in der Offiziantenstube zu schnarren begann, um zwei zu schlagen, trat mit leisen Schritten Foka, die Serviette über dem Arm, mit würdevollem, ein wenig strengem Gesicht ins Zimmer. »Das Essen ist aufgetragen«, verkündete er mit lauter, gedehnter Stimme, und mit heiteren, zufriedenen Gesichtern begaben sich alle, die älteren voraus, die jüngeren hinterher, mit den steifen Röcken rauschend, mit den Stiefeln und Schuhen knarrend, ins Speisezimmer und nahmen unter halblautem Geplauder ihre bestimmten Plätze ein. Oder wie es in Moskau zu sein pflegte, wenn alle in leisem Gespräche vor der gedeckten Tafel im Speisezimmer standen und auf Großmama warteten, welcher Gabriel die Meldung brachte, daß das Essen serviert sei; dann öffnete sich plötzlich die Tür, man hörte das Rauschen eines Kleides, das Scharren von Füßen, und Großmama trat – in einem Häubchen mit Bändern von ungewöhnlicher lila Farbe, lächelnd oder unfreundlich zur Seite blickend (je nach ihrem Befinden) – gravitätisch aus ihrem Zimmer. Gabriel stürzte auf ihren Lehnstuhl zu, die Stühle wurden gerückt, und mit dem Gefühl eines über den Rücken laufenden Schauers – des Vorboten guten Appetits – faßte man die feuchte, gestärkte Serviette, kaute ein Stückchen Brot und blickte mit ungeduldiger und freudiger Gier, sich unter dem Tisch die Hände reibend, auf die Teller voll dampfender Suppe, welche der Haushofmeister nach Rang, Alter und Großmamas Weisungen jedem von uns servierte.

      Wenn ich jetzt zum Mittagessen kam, fühlte ich weder Freude noch Aufregung.

      Mimis, St. Jérômes und der Mädchen Geschwätz über die schrecklichen Schuhe des russischen Lehrers, über die Kleider mit Volants der Prinzessinnen Kornakow usw., dieses Geschwätz, das mir früher aufrichtige Verachtung einflößte, die ich Ljubotschka und Katjenka gegenüber auch nicht verhehlte, störte mich nicht in meiner neuen, tugendhaften Stimmung. Ich war ungewöhnlich sanft, hörte mit freundlichem Lächeln zu, bat höflich, mir den Kwas herüberzureichen, und ärgerte mich auch nicht über St. Jérôme, wenn er mir einen Satz korrigierte, den ich bei Tisch aussprach, und mir sagte: je puis klinge besser als je peux. Ich muß jedoch gestehen: es war mir ein wenig unangenehm, daß niemand meine Sanftmut und meine Tugend bemerkte. Ljubotschka zeigte mir nach Tisch einen Zettel, auf dem sie alle ihre Sünden verzeichnet hatte; ich fand, daß das sehr gut sei, noch besser aber sei es, alle seine Sünden in seiner Seele aufzuzeichnen, und daß alles dieses nicht »das Richtige« sei.

      »Warum denn nicht?« fragte Ljubotschka.

      »Nun, es ist ja auch so gut, du wirst mich nicht verstehen.« Und ich ging hinauf in mein Zimmer, indem ich zu St. Jérôme sagte, ich hätte zu arbeiten, eigentlich aber nur deshalb, weil ich vor der Beichte, bis zu der ich noch eineinhalb Stunden Zeit hatte, für das ganze Leben ein Verzeichnis aller meiner Pflichten und Beschäftigungen anlegen, und Ziele und Grundsätze des Lebens, nach denen ich immer ohne abzuweichen handeln wollte, zu Papier zu bringen beabsichtigte.

      Lebensregeln

      Ich nahm ein Blatt Papier und wollte vor allen Dingen meine Pflichten und Arbeiten für das nächste Jahr verzeichnen. Das Papier mußte liniert werden, da ich aber kein Lineal fand, benützte ich dazu das lateinische Wörterbuch; aber abgesehen davon, daß ich, mit der Feder am Wörterbuch entlang fahrend und es dann fortschiebend, statt der Linie auf dem Papier eine längliche Tintenpfütze gemacht hatte, reichte das Buch auch nicht über das ganze Blatt, und die Linie war an der Ecke umgebogen. Ich nahm ein anderes Blatt, schob das Wörterbuch weiter und nun gelang das Linieren einigermaßen. Nachdem ich meine Pflichten in drei Arten zerlegt hatte: in die Pflichten gegen mich selbst, gegen meinen Nächsten und gegen Gott, begann ich die ersteren niederzuschreiben; es stellte sich aber heraus, daß sie so zahlreich und so verschiedenartig waren und daß es so viele Unterabteilungen gab, daß es mir nötig erschien, zuerst die »Lebensregeln« niederzuschreiben und dann erst das Verzeichnis zu entwerfen. Ich nahm sechs Bogen Papier, nähte sie zu einem Heft zusammen und schrieb darauf »Lebensregeln«. Dieses Wort war so schief und ungleichmäßig geschrieben, daß ich lange überlegte, ob ich es nicht lieber umschreiben sollte, und mich beim Anblick des zerrissenen Planes und der mißratenen Aufschrift quälte. Warum war in meiner Seele alles so klar und schön, und warum erschien es auf dem Papier und überhaupt im Leben so häßlich, wenn ich etwas von dem, was ich dachte, verwirklichen wollte?

      »Der Beichtvater ist da, bitte herunterzukommen und die Glaubenssätze anzuhören«, meldete Nikolaj.

      Ich verbarg das Heft in der Tischlade, warf einen Blick in den Spiegel, kämmte mein Haar in die Höhe, was mir meiner Überzeugung nach ein gedankenvolles Aussehen gab, und ging hinunter ins Divanzimmer, wo schon ein mit einem Tuch bedeckter, mit einem Heiligenbild und brennenden Wachskerzen bestellter Tisch stand; Papa trat zu gleicher Zeit mit mir durch die andere Tür ins Zimmer. Der Beichtvater, ein weißhaariger Mönch mit strengen, greisenhaften Zügen, erteilte Papa den Segen; Papa küßte seine kleine, breite,

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