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tätowiert hatte. Sie glaubte Buchstaben erkennen zu können, vermochte aber keinen Sinn in ihnen zu sehen. Er hatte anscheinend alles an Haut seiner Kunst gewidmet, wandelnde Werbung für seinen Laden. Der Mann mochte vielleicht Anfang zwanzig sein und sie fragte sich, wie er wohl aussehen würde mit sechzig, die Haut faltig und dann all diese Muster darauf.

      Catherine hatte aus einem Impuls heraus beschlossen, sich ein Tattoo zuzulegen. Sie war ziellos durch den kleinen Ort geschlendert, hatte dort und da in die Auslagen der unzähligen Souvenirshops geschaut, ohne jedoch ihren Inhalt wahrzunehmen, wie immer seit ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus. Nichts interessierte sie wirklich. In ihrem Inneren war immer noch diese Leere und diese Abwesenheit, die ihr seit Pauls und Sarahs Tod so vertraut geworden waren.

      Sie wollte lieber nicht an die beiden denken, nicht jetzt, nicht hier. Wer wusste schon, welche Reaktion das hervorrufen würde. Womöglich käme der Zorn wieder und sie begänne zu schreien. Oder diese Traurigkeit, die einen harten Kloß in ihrem Magen entstehen ließ und sie zum Erbrechen brachte.

      Catherine schloss die Augen und versuchte sich zu entspannen. Aber es gelang ihr nicht so recht. Das Brennen auf ihrer Haut zwang sie dazu, sich der Tatsache zu stellen, dass der Mann recht gehabt hatte. Es tat weh. Sogar sehr. Sie blinzelte die Tränen weg, die in ihre Augen stiegen.

      Der Tätowierer hielt inne. „Alles in Ordnung? Geht es Ihnen gut?“

      Catherine nickte. „Ich komme schon klar. Ich schaffe das.“

      Natürlich. Ich habe schon viel Schlimmeres überstanden. Nicht daran denken – nicht jetzt!, ermahnte sie sich selbst.

      Es hatte keinen Sinn, die Vergangenheit festzuhalten. Sie musste lernen, mit der Gegenwart fertig zu werden. So wie sie einfach in das Auto gestiegen und losgefahren war. Ihre erste Fahrt alleine am Steuer seit dem Unfall. Es hatte sie große Überwindung gekostet, das zu tun. Aber sie wollte der ständigen Überwachung und Bevormundung entkommen. Alle waren so bemüht, erstickten sie mit ihrer Fürsorge. Ihre Eltern, Pauls Eltern, ihre Freundin Linda.

      Beinahe hätte sie es nicht geschafft. Der Verkehr in London hatte ihr weniger ausgemacht, aber als sie dann die schmalen Landstraßen befuhr, waren die Erinnerungen fast übermächtig geworden. Sie hatte sich dazu zwingen müssen, weiterzufahren, immer weiter. Schweißgebadet und am ganzen Körper zitternd. Weiß Gott, warum sie gerade hier in Tintagel gelandet war. Vielleicht, weil der ganze Ort von einer Illusion lebte. Die Burg von König Artus, Merlin’s Cave. Alles nur Einbildung.

      Oder gab es doch eine besondere Magie hier?

      Es war eigentlich einerlei. Tintagel gefiel ihr. Die unzähligen Lädchen mit den New-Age-Artikeln, die vielen Fremden, unter denen sie nicht weiter auffiel. Es lenkte sie ein wenig von ihren düsteren Gedanken ab. Catherine wollte nicht mehr nachdenken. Es hatte keinen Sinn.

      Linda sollte vielleicht Bescheid wissen, wo sie abgeblieben war. Ihre beste Freundin. Sie waren zusammen zur Schule gegangen, hatten Publizistik studiert. Catherine hatte in den Ferien immer gearbeitet, um ihr Studium finanzieren zu können, hatte es dann unterbrochen, um für ein Jahr nach New York zu gehen, eine tolle Chance, wie ihr jedermann sagte. Und nach ihrer Rückkehr lernte sie Paul kennen.

      Ihre Gedanken stoppten abrupt. Nicht jetzt! Später würde sie wieder an ihn denken, wenn sie allein in ihrem Hotelzimmer war.

      Der Tätowierer hielt inne und lauschte. „Tut mir leid, ich muss kurz nach vorne. Ich bin heute allein und ich glaube, da ist Kundschaft.“

      „Gut. Ich bleibe einfach hier liegen, wenn es Ihnen nichts ausmacht.“ Ein Anflug von schlechtem Gewissen meldete sich. Sie machte ihm Umstände.

      Unsinn! Dafür wurde er ja auch gut bezahlt.

       Hör endlich auf, dich minderwertig zu fühlen!

      Der junge Mann verschwand im Laden. Sie hörte ihn sprechen, gleich darauf klingelten die Glöckchen an der Tür. Es musste noch jemand gekommen sein.

      Catherine hätte sich entspannen können, hätte sie nicht das hartnäckige Brennen der frischen Tätowierung daran gehindert. Und ihre Gedanken, die einfach nicht abzustellen waren.

      Es dauerte dann aber zum Glück nicht mehr allzu lange, bis das Tattoo fertig war.

      Ihre Haut brannte wie Feuer. Sie schielte auf die gerötete Stelle. Das Labyrinth hob sich deutlich ab.

      „Sie müssen in den nächsten Tagen noch aufpassen, damit Sie sich nicht infizieren – kein Sonnenbad“, sagte der Tätowierer, als er einen leichten Abdeckverband auf die Wunde klebte. „Ich gebe Ihnen noch Creme mit, die Sie regelmäßig auftragen sollten, bis die Rötung verschwunden ist.“

      Catherine schob den Träger ihres BHs vorsichtig hoch und nickte. Dann erhob sie sich, schlüpfte in ihre Bluse und fuhr sich mit den Händen durch das Haar. Eine automatische Bewegung, die sie noch immer machte. Sie hatte immer langes Haar gehabt, bis auf den halben Rücken hinunter, eine helle, seidig glatte Flut. Doch seit ihr Leben eine so drastische Veränderung erfahren hatte, wollte sie auch das ändern. Es war jetzt zu einem kinnlangen Pagenkopf geschnitten, mit einem dichten Pony, der die Narbe auf ihrer Stirn verdeckte.

      Warum sollte sie nicht ihr Äußeres ändern? Die alte Catherine Morgan gab es nicht mehr. Sie war tot, wie Paul und Sarah. Sie hatte ihren Mann und ihre kleine Tochter begraben und war allein zurückgeblieben.

      Der Tätowierer nannte den Betrag, den er für seine Arbeit verlangte. Sie schrak kurz zusammen. Es war wirklich nicht billig. Aber das spielte keine Rolle.

      „Ich danke Ihnen“, meinte sie leise, lächelte ihm abwesend zu und wandte sich zur Tür.

      „Warten Sie. Ich habe noch etwas für Sie.“

      Er hob einen Korb auf. Unmengen von bunten Steinen befanden sich darin. „Tigerauge, Bergkristall, Rosenquarz, Lapislazuli, Malachit, Jade“, sagte der Mann. „Suchen Sie sich einen aus. Lassen Sie sich einfach von Ihrem Gefühl leiten, dann werden Sie den richtigen von selbst finden.“

      Überrascht lächelte sie. „Ich fürchte, für so etwas habe ich kein Gefühl.“

      „Oh, doch. Versuchen Sie es nur. Es kann ja nichts schiefgehen.“

      Zögernd berührte Catherine die Steine. Dann schloss sie die Augen und überließ die Wahl ihrem Tastsinn. Sie grub ein wenig tiefer und dann rutschte ein glattes, warmes Etwas in ihre Hand.

      Sie öffnete die Augen, betrachtete den Fund. Etwa vier Zentimeter groß, mit matt glänzender Oberfläche, tiefschwarz, mit weißen Linien. Sie kniff die Augen zusammen, sah ihn genauer an. Tatsächlich, die Linien sahen wie ein Labyrinth aus! Das Muster begann sie wohl neuerdings zu verfolgen. Das Ding wirkte nicht wie ein Stein, nicht wie etwas Natürliches. Eher wie billiger Firlefanz aus einem Kaugummiautomaten. Es fühlte sich tatsächlich warm an und hatte fast kein Gewicht.

      Der Ladeninhaber starrte sichtlich verblüfft auf den kleinen Gegenstand. „Merkwürdig. War mir nicht bekannt, dass ich so etwas hatte. Ich sehe die Lieferungen normalerweise immer genau durch. Ich weiß nicht einmal, was das für einer ist. Sonst hätte ich Ihnen gesagt, wofür er gut ist.“ Mit einem Schulterzucken meinte er: „Aber einerlei. Behalten Sie ihn. Vielleicht bringt er Ihnen ja Glück.“

      Catherine lächelte leicht und wandte sich zum Gehen. „Danke. Eigentlich glaube ich nicht …“

      „Das macht nichts. Dann nehmen Sie ihn als Andenken.“ Er hob grüßend die Hand. „Passen Sie gut auf sich auf.“

      Sie nickte und steckte den Stein in die Münztasche ihrer Jeans.

      Die kleinen Glocken bimmelten schrill, als sie die Tür öffnete. Der Mann sah ihr nach. Eine grazile Gestalt in engen Jeans und heller Bluse, die mit schnellen Schritten die Straße überquerte und zwischen den Häusern aus Schiefersteinen verschwand, welche die Hauptstraße säumten.

      Kapitel 6

      „Amathi! Würdest du die Güte haben,

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