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der Notunterkünfte als Dach oder nur Fens­tervorhang dienten. Wohnbar gemachte Ruinen, mehr auch nicht.

      Zumindest kosteten sie kein Geld, denn die Leute, die die­se Baracken bewohnten, hatten zu tun, allein einige Kupfer­münzen für Essen aufzutreiben.

      Mit diesen Menschen hatte Nadja den Großteil ihres Le­bens verbracht. Gute Menschen zumeist, doch von der Gesell­schaft ausgestoßen, vertrieben und ignoriert. Vom Glück nicht begünstigt, lebten hier diejenigen, die nicht wussten, wohin sie gehörten. Einfache Bettler, abgebrannte Trinker auf dem Trockenen, arme Bauern im versandeten Land und sogar Taschendiebe ohne Talent.

      Alle Heimatlosen fanden sich in Siedlungen wie dieser ein, für einen sicheren Schlafplatz, einen Teller warme Suppe oder einfach nur, um nicht mehr verloren zu sein und mit jemandem reden zu können. Wie in einer richtigen Familie. Sie lebten zu­sammen, arbeiteten zusammen. Halfen sich gegenseitig wieder auf die Beine und teilten das Wenige, was ihnen gegeben war.

      Manchmal dachte Nadja, dies sei der letzte Ort auf Erden, wo die Menschen noch menschlich geblieben waren.

      Kinder spielten mit einem abgewetzten Ball und tollten ihr so lachend entgegen. Begrüßten sie und forderten zum Mit­spielen auf, aber sie lehnte freundlich ab und lief weiter.

      Endlich erreichte sie keuchend eine Hütte, vor der gut zehn Leute standen. Nadja kannte sie alle beim Namen, doch nur die runzlige, alte Frau in braunen Lumpen, die ihren gedrunge­nen Leib schwerfällig auf eine Krücke stützte, sprach sie an: „Tante Tess, ich -“

      Prompt wurde sie unterbrochen.

      Die Stimme der Alten war ein Krächzen und, als wenn sie unter Atemnot litt, so japste sie: „Wenn du jemanden begrüßt, sagst du ‘Guten Tag’, Mädchen. Habe ich dir keine Manieren beigebracht?“

      „Doch, schon, aber -“, nur als Nadja sah, dass ihre Tante erneut zum Wort ansetzte, beugte sie sich ihrer Ordnung und sagte: „Guten Tag, Tante Tesla.“

      Eigentlich war sie gar nicht ihre Tante. Diese Großmutter hat sich um die verwaisten Geschwister gekümmert, seit ihre Eltern an der Grippe gestorben waren, die vor fast zwei Jahr­zehnten in dieser Gegend viele Opfer forderte. Oder war es die Pest? Typhus? Nadja war zu klein gewesen und heute hatte sie keine Erinnerungen mehr an ihre wahre Familie. Tesla hätte sie auch dem Tod überlassen können, tat es aber nicht. Die Zeit mit ihr war teilweise nicht ganz einfach gewesen, den­noch waren Ted und sie unter ihrer Obhut herangewachsen. Dafür schuldeten beide ihr große Dankbarkeit.

      Die bejahrte Frau nickte anerkennend und erwiderte: „Gu­ten Tag, mein Kind. Nun, was möchtest du von mir?“

      Nadja wollte schon losreden, da brach ein Hustenanfall schwer über Tesla herein, und bevor sie nicht fertig war, den Schleim aus ihrem Rachen zu lösen, konnte man es vergessen, von ihr erhört zu werden.

      Trotz unruhig scharrender Füße, wartete das Mädchen ge­duldig ab und wurde mit offenen Ohren belohnt.

      „Tante, ich habe einen Verwundeten bei dem alten Hoch­haus gefunden!“ Zur Untermalung wies sie ihre blutver­schmierten Finger vor. „Ich brauche dringend Leute, die mit­helfen, ihn zu retten! Bitte, alle hören auf dich, hilf mir!“

      „Wenn er so schwer verwundet ist, wie du meinst, wird er es eh nicht überstehen. Selbst wenn wir ihm helfen, wird er sterben. Warum also sollte ich Zeit damit verschwenden, ei­nem Toten zu helfen? Lassen wir ihn gehen.“

      Das Lob für die Menschlichkeit nahm Nadja zurück, als sie fassungslos die Worte ihrer Tante hörte.

      Tesla schien sich daran nicht zu stören und wollte schon in ihre Hütte gehen, da hielt das Mädchen sie auf.

      „Er ist aber noch nicht tot, und solange er atmet, werde ich hoffen, dass er gesund wird! Tante, ich gebe ihn nicht so ein­fach -“

      Sie zuckte zurück, als die Alte einen harten Befehlston an­schlug: „Du vergeudest also freiwillig unsere schwachen Res­sourcen an einen Fremden, von dem du nicht einmal weißt, ob er es überstehen wird?! Wenn er geht, war alles umsonst. Es krepieren jeden Tag Menschen, Kind, weshalb du deine Kraft dafür einsetzen musst, den Lebenden so gut es geht zu helfen. Den Toten kann man nur ein Grab und etwas Trauer bieten. Denen geht es aber am besten, denn sie haben den Kampf des Lebens hinter sich. Lass diesen Mann also sterben.“

      „Und sein Grab?“, fragte Nadja in letzter Hoffnung auf Unterstützung. Um ihn zu begraben und die Trauer zu spen­den, musste er hergebracht werden.

      Tesla schlug ihr die Tür, die aus groben genagelten Bret­tern bestand, vor der Nase zu. „Später“, krähte die Alte aus dem Inneren. Damit war Funkstille.

       So was Verbohrtes ...

      Zwischen Wut und aufsteigender Verzweiflung hörte Nadja sich bei den restlichen Anwesenden Hilfe suchend um. Doch all die Bekannten und Freunde konnten ihr Bitten nicht erfül­len. Sie sollte die Sache mit Teslas Urteil abhaken. Dank ihrer Weisheit lebten sie schließlich noch alle und waren gesund. Manche Entscheidungen fallen nun mal schwer.

      „Ich habe es ihm doch versprochen“, flehte sie. „Ich habe versprochen, Hilfe zu holen!“

      Wie geprügelte Hunde sahen sie von ihr weg.

      Letztlich schnaufte sie enttäuscht und machte kehrt.

      „Gut, dann rette ich ihn halt eben allein!“

      Zornig stapfte sie davon. Wenn sie gewusst hätte, dass ihr Anliegen abgelehnt werden würde, wäre sie gleich bei ihm ge­blieben, statt die Strecke hin und her zu rennen. So eine Ent­täuschung, nur weil die Chance gering stand, dass ...

      „Hey, Trotzkopf, lass die Nase nicht hängen!“, rief jemand hinter ihr und die Stimme kannte sie zu gut. War er bereits von seiner Runde zurück?

      „Teddy!“ Sofort schloss sie ihn in die Arme und drückte ihr Gesicht an seine Brust, wie sie es schon als Kind immer getan hatte, wenn sie Trost suchte.

      Ihr Bruder legte seine Arme schützend über sie. „Ist ja gut. Hast du dich wieder mit der alten Hexe gestritten?“

      Sie überschüttete ihn mit einem Redeschwall von bösen Worten über ihre Tante und die Jasagenden, und Ted klingelten gleich die Ohren.

      „Okay, okay“, wehrte er ab. „Ma’ ganz langsam. Wo brennt’s denn, Schwesterherz?“

      6

      Alles, was die Augen sahen, war schwarz. Kein Ton, den die Ohren hörten, und kein Gefühl in den Gliedern, um sie zu be­wegen. Die Seele schien gefangen im Körper eines Toten. Ohne Zeitgefühl eine scheinbare Ewigkeit lang.

      Mehr nicht.

      Nur diese Wunde brannte, als fräße sich eine Säure ihren Weg langsam und ätzend durch das Fleisch.

      Gedanken flackerten in einer nicht greifbaren Schnelle auf und waren ebenso schnell aus dem Kopf wieder verschwun­den.

      ... Da war etwas. Eine warme Hand, die seine Haut berühr­te. Eine sanfte Stimme, ein liebes Wort.

      Ein weit entferntes Flüstern, was ihn zurückführte. Zurück ins Leben.

      Allmählich begann alles klarer zu werden. Eine sanfte Bri­se wehte über seine Haut, doch obwohl er davongekommen war, fühlte er den Tod so nah an der Seite wachen. Wie lange hatte er in der dunklen Zwischenwelt geschlafen?

      Zögerlich öffnete er seine Augen und machte sich schon auf das Schlimmste gefasst. Aber er blickte nur an eine grau betonierte Zimmerdecke. In selber kahler Verfassung war der ganze Raum. Ausnahme war das harte Metallgestellbett, auf dem er unter verwaschenen Laken ruhte. Das kleine, offen ste­hende Doppelfenster, vor dem Stofffetzen als Gardine im Luft­zug wehten, erhellte das Umfeld bloß spärlich und nahm dieser Zelle nichts an Schwermut.

      Dennoch hörte er draußen Kinder, die im Tageslicht fröh­lich tobten.

      Deacon hatte keine Ahnung, wo er sich befand, wie er hier­herkam

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