Скачать книгу

darauffolgenden Sonntag erschienen zur verabredeten Zeit Amisha, Sinan und Amishas Bruder Niko bei Leo. Nach dem angekündigten Thai-Curry nahm die kleine Gruppe auf dem Balkon Platz.

      „Wir wollten heute das Thema Promotion vertiefen“, begann Leo seine Ausführungen. „Lasst mich dazu mit einem kleinen Wortspiel starten: Geht man in die Wissenschaft, um zu bleiben oder um wieder zu gehen? Also: Folgt der Dissertation die Desertation?

      Man spricht ja für gewöhnlich von der DissertationDissertation oder PromotionPromotion. Promotion kommt aus dem Lateinischen und bedeutet bekanntlich so viel wie vorwärtsbewegen oder befördern. Im Gegensatz zu Dissertation meint das Wort Desertation das genaue Gegenteil. Es bedeutet so viel wie aussteigen oder verlassen. An diesem Unterschied setzt mein Wortspiel an, beziehungsweise meine Frage: Warum möchte jemand überhaupt promovieren?

      Nach dem Studium beziehungsweise einem zufriedenstellenden Masterabschluss stellt sich tatsächlich für viele Akademiker:innen die Frage nach der Promotion. Eine DoktorarbeitDoktorarbeit – das sollte klar sein – ist im Regelfall kein Spaziergang. Natürlich gibt es Ausnahmen, wie etwa mitunter in der Medizin.

      Aus einer medizinischen Fakultät kommt das Beispiel für eine Dissertation, die bei einer schnellen Internetrecherche leicht zu finden ist. Es ist die wohl kürzeste Promotionsschrift aller Zeiten und besteht aus nur drei Seiten inklusive einer Tabelle und einer Graphik. Viele Mediziner:innen schreiben wegen solcher Minimalansprüche deshalb ihre Promotionsschrift noch während ihrer Studienzeit, sozusagen im Vorübergehen. Naturwissenschaftler:innen rümpfen hierüber nur ihre akademischen Nasen.

      In anderen Fachbereichen ist das nämlich fundamental anders. In der Physik, Biologie, in der Chemie, in den Ingenieurswissenschaften und in vielen geistes- oder sozialwissenschaftlichen Fächern braucht eine Promotion gut und gerne mindestes drei Jahre als Fulltime-Job. Und das klappt selbst in dieser Zeit nur dann, wenn nicht allzu viel an Pleiten, Pech und Pannen hinzukommt.

      Da eine Promotion bekanntlich die Voraussetzung ist für eine dauerhafte Laufbahn und Entwicklung im Wissenschaftsbetrieb, empfiehlt sich dieser Aufwand deshalb vor allem für all diejenigen, die im Wissenschaftssystem verbleiben wollen.

      Die Promotion hat aber noch eine gesellschaftliche, statusbezogene und arbeitsmarktspezifische Komponente. Dieser Aspekt hat rein gar nichts mit Wissenschaft zu tun, sondern mit dem wohlklingenden Etikett oder Titel ‚Doktor‘.

      Haltet mich bitte nicht für einen ausgemachten Schlaumeier, wenn ich für diesem Aspekt einmal kurz eine paar hundert Jahre zurückspringe.

      Vom Mittelalter bis in die Neuzeit war die Dissertation ursprünglich keine DoktorarbeitDoktorarbeit im Sinne einer umfänglichen Publikation. Dafür war schon allein das Papier zu rar und zu teuer. Der Promotionsprozess bestand ausschließlich aus einer Disputation,Disputation in welcher Promovierende ihre Thesen vor dem Kollegium der Fakultät beziehungsweise der Universität begründeten und verteidigten. Diese Disputation ist neben dem sogenannten RigorosumRigorosum in vielen Fächern und Fakultäten als spezielle Art der mündlichen Prüfung heute noch üblich.

      Die der Promotion zugrundgelegten Thesen wurden – wenn überhaupt – schriftlich nur stichwortartig zusammengefasst und in einem Aushang öffentlich gemacht. Genau das war es im Übrigen, was Martin Luther tat, als er seine Thesen an die Schlosskirche in Wittenberg als Aushang präsentierte, die gleichzeitig als Universitätskirche diente. So war es üblich bei einer Disputation und der gute Luther war da kein Einzelfall. Er war schließlich nicht nur Augustinermönch, sondern ebenso Magister der Freien Künste und Absolvent der theologischen Fakultät.

      Ungeachtet der Art und Weise ist die Promotion im Kontext der Geschichte noch aus einem anderen Grund interessant: In der Zeit des Feudalismus, als Monarchie und Adel das Leben und die Kultur bestimmten, wollten natürlich auch das Bürgertum und die gewöhnlichen Sterblichen dazugehören oder zumindest ein paar Privilegien erhaschen. Gehen wir dazu vom Mittelalter etwa in die Zeit um das 17. und 18. Jahrhundert.

      Hier begannen die Stände und das Bürgertum das höfische Leben zu kopieren mit Sitten, Stilen, Ritualen, Gebräuchen und der der Sprache. So übernahm man vom höfischen Leben in Ländern wie Frankreich oder Deutschland das Personalpronomen ‚Sie‘ oder ‚Ihr‘. Das war höfisch oder wie man heute sagt ‚höflich‘, was das gleiche meint: Man benimmt sich wie bei Hofe.

      Aber man wollte nicht nur kopieren und imitieren, man wollte vielmehr dazu gehören. Das jedoch war nicht leicht. Wer bei Fürsten oder Königen auch nur den Hauch von einer Chance haben wollte, gesehen oder gehört zu werden, der musste ‚hoffähig‘ sein. Diese Hoffähigkeit besaßen kraft Amtes nur ausgewählte Stände: der Adel, das Militär, die Geistlichkeit und, da Kirche und Universitäten in historisch enger Verbindung standen, auch die Honoratioren aus der Wissenschaft, also die Professoren und Doktoren. Wer keinen Adelstitel besaß, kein hoher Offizier war oder kirchlicher Würdenträger, konnte seine Standesgemäßheit so zumindest mit seinem Doktortitel unter Beweis stellen.

      Nach dem ersten Weltkrieg war dann für Deutschland und Österreich das Kapitel Monarchie aus bekannten Gründen endgültig abgeschlossen. Ganz konsequent war man dabei jedoch nur in Österreich, wo man 1919 alle Adelstitel abschaffte und sogar bei Strafe verbot, sie öffentlich zu führen. Kaiser, König und Co. waren nun Vergangenheit, aber einen Titel zu führen war – und ist es bis heute – etwas Besonderes und bleibt für viele allein deshalb erstrebenswert.

      Nun gibt es Menschen, die sich einen solchen Titel auf verschlungenen Wegen ergaunern oder erkaufen wollen. Auch die neuere Geschichte und die Skandalberichte sind gut bestückt mit solchen Beispielen. Manche Vertreter:innen aus Wirtschaft oder Politik versuchen es mit Plagiaten oder zumindest mit einem über gute Beziehungen erworbenen Ehrendoktortitel.

      Ähnliches gilt im Übrigen für die noch höherwertigen Professorentitel. Man erhält sie etwa als mitunter recht gefällige HonorarprofessurenHonorarprofessur.

      Viele Menschen möchten also mit einem Titel nicht nur hervorstechen und das Renommee aufpolieren, man möchte selbst handfeste Vorteile haben. Vielleicht will man mit einem ‚Doktor‘ auf dem Arztschild signalisieren, man sei eine wissenschaftlich geschliffene Koryphäe, denn das bringt Patient:innen und damit Umsatz. In einschlägigen Job-Portalen wird zudem glaubhaft vorgerechnet, dass ein DoktortitelDoktortitel (Gehaltsvorteil) bezogen auf das Jahresgehalt über verschiedene Branchen hinweg einen Bonus von etwa 20–30 Prozent mit sich bringen kann.

      In akademischen Berufen macht das also leicht zehn- oder zwanzigtausend Euro an Unterschied – pro Jahr wohlgemerkt. Das trifft selbst dann zu, wenn die Forschungskompetenz des Titelträgers in dem dann besser bezahlten Job möglicherweise überhaupt nicht gefragt und abgerufen wird.

      Wofür dient dann ein Doktortitel etwa in der Betriebswirtschaft, Juristerei, bei praktisch tätigen Ärzten oder praktizierenden Psychotherapeuten? Diese promovierten Expert:innen sind meist durchaus kluge akademische Praktiker:innen, aber alles andere als Wissenschaftler:innen oder Forscher:innen im eigentlichen Sinne.

      Andererseits ist es gerade in den Naturwissenschaften so, dass man ohne eine Promotion kaum eine anspruchsvolle Stelle findet. Ohne die beiden Buchstaben vor dem bürgerlichen Namen wird es besonders für Chemiker:innen, Physiker:innen und Biolog:innen extrem schwer. Das gilt ebenso für Kunsthistoriker:innen, Soziolog:innen und die Uniabsolvent:innen einiger anderer Fächer. Hier wird ohne Promotion die Luft auf dem Arbeitsmarkt auch außerhalb der Hochschulen recht dünn.

      Die Zeit der Dissertation ist jedenfalls im Rahmen des klassischen Doktorats- oder der PhD-Phase meist kein paradiesischer Zustand. Die Arbeit der Doktorand:innen wird nicht nur von Gewerkschaften und anderen kritischen Geistern als ‚prekäre Beschäftigung‘ angesehen. Die Arbeitszeiten sind oft lang, der Arbeitsvertrag befristet, die Abhängigkeit hoch und der Ausgang ist immer ein wenig ungewiss. Eine gute oder sehr gute Abschlussnote ist keinesfalls garantiert. Letztlich ist nicht einmal sichergestellt, dass das Ziel der Promotion überhaupt erreicht wird.

      Nach einer Studie des Netzwerks der Promovierenden innerhalb der Leibniz-Gemeinschaft wurden folgende Gründe für einen Abbruch der Promotion genannt Netzwerks der Doktorand:innen innerhalb der Leibniz-Gemeinschaft

Скачать книгу