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Sternenhagel. Daniel Hartmann
Читать онлайн.Название Sternenhagel
Год выпуска 0
isbn 9783907210390
Автор произведения Daniel Hartmann
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Doch an diesem Morgen hatte Rhea andere Sorgen als den Wilderer.
»Komm bitte heute nicht zu spät nach Hause. Es soll sehr viel Schnee geben am Nachmittag und gegen Abend.« Auch Anna nahm sie das Versprechen ab, nach der Schule ohne Umwege nach Hause zu kommen.
Die Temperatur war erstaunlicherweise über Nacht auf +7 Grad geklettert. Es hatte in den frühen Morgenstunden geschneit und der matschige Schnee lag wie Schmierseife auf der alten, noch gefrorenen Schneefläche des Gehsteigs. Anna holte Anlauf und glitt wie der Silver Surfer auf seinem Sky Board. Um ein Haar wäre sie dabei an der Schulhausecke in ihre Freundin Melanie gesegelt, die gerade aus dem Auto ihrer Mutter stieg. Gemeinsam betraten sie das Gebäude. Im Schulhausgang kreuzten sie Leon aus der Parallelklasse, der mit ein paar Kumpels diskutierte. Anna schaute ihn verstohlen an. Doch wie immer schien Leon diesen Blick zu bemerken. Auch Melanie bemerkte es und flüsterte Anna kichernd zu: »Ich habe gehört, Leon sucht eine Nachhilfe. Darin bist du ja gut. Soll ich ihn fragen?« Anna packte sie am Arm und zerrte sie an Leon vorbei. »Das lässt du schön bleiben!«
An diesem Vormittag ließ sich kein Lehrer die Gelegenheit entgehen, die riesige Sternschnuppe der letzten Nacht zum Thema des Tages zu machen. In der Doppelstunde NMG (Natur, Mensch, Gesellschaft) dozierte Herr Guggisberg:
»… die Geminiden hat man erstmals im Jahre 1880 gesichtet, sie stammen wohl von dem Asteroiden 3200 Phaeton, der auf einer elliptischen Bahn um die Sonne kreist. Der Name des Asteroids wurde vom Sohn des griechischen Gottes Helios entlehnt. Auf der 5,1 Kilometer durchmessenden Kugel kommt es gelegentlich zu Ausbrüchen, bei denen kleine Partikel frei werden, die dann durchs All fliegen und mit 122 000 km/h in die Atmosphäre eintauchen …«
Normalerweise war NMG Annas Lieblingsfach, aber nach kurzer Zeit kribbelten ihre Beine und Arme derart, dass sie kaum noch stillsitzen konnte. Die junge Frau wurde oft nervös, wenn sie länger gelernt hatte und sich dann noch auf eine komplexe Aufgabe konzentrieren musste. Ebenso wurde sie unruhig, wenn ein Lehrer den Stoff trocken vermittelte oder kontextlose Fakten ans Smartboard schmierte. Ohne Bezug zum Weltgeschehen oder zum Leben im weitesten Sinne. Für sie war tote Materie ein Gräuel. Und sinnlos.
Ihre junge Klassenlehrerin Denise Weaver griff das Thema dagegen spielerisch auf. So flogen alle Schüler in Annas Klasse als Geminiden-Familie durch das zum Weltall umfunktionierte Klassenzimmer auf das Dorf Cappellen zu. Da Anna als einzige der Klasse beinahe die gesamte Flugbahn des Kometen verfolgt hatte, durfte sie – ausstaffiert mit mehreren Knicklichtern – diese nachahmen.
Am Ende der Stunde hielt Frau Weaver sie zurück:
»Anna, der Ballettkurs fällt wegen dem Sturm aus. Reichen dir die drei Proben vor der Aufführung von Schwanensee? Wir können Odettes Solo auch extra üben.«
Anna rief sich die Figuren vor Augen. Diese Grazie, diese Leichtigkeit, die Ballett bedeutete. Es war wie Meditation, wenn sie im Tanz versank.
»Danke, aber um das Solo mache ich mir keine Sorgen. Ich finde es schwieriger, mich in Odettes Widerpart Odile hineinzuversetzen. Warum trachtet jemand danach, das Leben eines anderen zu zerstören?«
Frau Weaver lächelte.
»Du gehörst glücklicherweise zu den Menschen, die das wohl nie nachvollziehen werden können.«
Die Sternschnuppe war natürlich auch DAS Thema auf dem Pausenplatz. Es wurde spekuliert, dramatisiert und übertrieben. Vor allem die Jungs prahlten mit ihrem angeblichen Mut, wie sie rausgerannt seien und die Sternschnuppe verfolgt hätten, um das glühende Loch zu finden, das es beim Aufprall gegeben hätte, wäre der Meteor nicht plötzlich am Horizont verschwunden. Doch als Anna spöttisch nachfragte, in welcher Himmelsrichtung denn die Sternschnuppe verschwunden sei, schauten einige betreten weg und der Rest verlegen aus der Wäsche, mussten ganz plötzlich auf die Toilette oder sonst noch was Dringendes vor Ende der Pause erledigen.
Nur Hagen, der die Parallelklasse besuchte und neben Anna wohnte, blieb stehen, schaute sie trotzig an und meinte gestelzt: »Mein Vater konstatiert, das sei gar keine Sternschnuppe, sondern ein Geschoss der Armee gewesen. Das Militär habe es bei einer Übung im Schwarzen Forst abgeschossen. Aus einer geheimen Militäranlage. Sowas wie die Area 51 in den USA. Für eine Sternschnuppe sei das Objekt viel zu flach geflogen. Wenn es wirklich ein Meteorit gewesen wäre, hätte die Sternschnuppe kurz hinter dem Dorf einschlagen müssen. Mein Vater weiß da genau Bescheid, sein bester Freund ist Leutnant bei der Fliegerabwehr.«
Anna prustete: »Das glaubst du ja selbst nicht, … dein Vater hat dich auf den Arm genommen.«
Hagen wurde weiß im Gesicht.
»Du hast keine Ahnung, aber gar keine, von gar nichts hast du eine Ahnung! Ich werde es dir beweisen. Heute Nachmittag um eins. Bei der alten Scheune auf dem Feld im Großen Moos. Wenn du kein Feigling bist, kommst du. Von jemandem wie dir lasse ich mich nicht einen Lügner nennen!«
Meli wartete nach Schulschluss bereits vor dem Tor auf Anna. Es schneite nur leicht, aber es war deutlich kälter geworden. Ein zügiger Wind ging. Die beiden zogen die Kapuzen ihrer Parkas über die Köpfe und liefen rasch los.
Als sie beim Hospiz zur Heimat vorbeikamen, segelte ihnen ein Blatt Papier vor die Füße. Anna hob es auf und schaute an der Schindelfassade hoch. Im ersten Stock fluchte jemand und die rauchende Silhouette eines Mannes verschwand aus dem Fensterrahmen.
Meli lugte über ihre Schulter.
»Das ist ein Fax. Wer benutzt heute denn noch so was?« Anna zuckte die Schultern und las sich das Rezept durch, das darauf stand. Ein italienisches, wie es schien. Eine E-Mail-Adresse war von Hand hinzugefügt.
»Ich gebe es eben drinnen ab«, sagte sie, faltete das Papier und sprang die drei Stufen zum Hospiz hinauf.
Ihre Augen brauchten einen Moment, um sich an das dämmrige Licht in der Gaststube zu gewöhnen.
»Ich glaube, du hast da etwas, das mir gehört.«
Ein Mann in einem noblen Anzug streckte Anna lächelnd die Hand entgegen.
»Vielen Dank, dass du es für mich gerettet hast. Darf ich dich nach deinem Namen fragen?«
Trotz des freundlichen Tons beschlich Anna ein mulmiges Gefühl und schlagartig begann ihr Kopf zu schmerzen. Sie zwang sich zu einem Lächeln.
»Anna.«
»Ein hübscher Name. Auf dem Heimweg von der Schule?« Anna nickte und wandte sich zum Gehen. An der Türe drehte sie sich noch einmal um. Der Mann sah ihr mit schmalen Augen hinterher, während er das Fax in den Händen drehte.
Auf der langen Geraden Richtung Hübeli verzichteten Anna und Melanie auf das übliche Vergnügen, mit ihren Schuhen über den neuen Schnee zu gleiten. Zu kalt war es geworden. Sie mochten deshalb ihre Hände, trotz Handschuhen, nicht aus den Manteltaschen nehmen. Anna ging der Mann aus dem Hospiz nicht aus dem Sinn. Noch nie hatte der Kontakt mit einem Menschen einen solchen Druck in ihrem Kopf ausgelöst. Dieser Italiener verkörperte etwas Unheimliches, etwas Böses, das hatte sie gespürt. Beim Verlassen der Gaststube war dann auch sofort der Kopfschmerz verschwunden. Egal, sie würde ihm nie wieder begegnen. Sie zwang sich, an etwas anderes zu denken und schaute Melanie von der Seite her an.
»Stell dir vor, Meli, Hagen glaubt, dass die Sternschnuppe eine Art Bombe oder so was vom Militär gewesen sein soll. Um eins soll ich zur Scheune kommen, dann will er mit mir in den Forst und es beweisen.«
»Du gehst doch nicht etwa hin?« Melanies Augen weiteten sich und sie warf einen Blick auf die tiefgrauen Wolken, deren Bäuche beinahe die Baumwipfel streiften. »Du weißt doch, heute Nachmittag kommt dieses Monster von Schneesturm!«
»Natürlich gehe ich nicht hin. Das mit dem Treffen hat der sowieso nicht ernst gemeint. Dafür hat der zu wenig Mumm. Der war nur beleidigt.«
Melanie atmete auf.
»Der ist eh doof. Wir sehn uns morgen auf dem Schulweg, falls wir nicht eingeschneit werden.«
Wie zur Bestätigung segelten die ersten Schneeflocken vom Himmel