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gesehen?

      Die Hände begannen in der Luft zu schweben.

      Ja, damals vor etwa fünf Jahren. Seither haben wir keinen Kontakt mehr.

      Haben Sie Kontakt zu seiner Frau?

      Nein, warum sollte ich?

      Krättli hielt es jetzt nicht mehr auf dem Stuhl. Unter dem Vorwand, das Fenster zu öffnen, stand er auf. Dann drehte er sich lachend um.

      Wird das jetzt ein Verhör, Herr Kommissar?

      Michel stand auch auf.

      Nein, nein, sicher nicht. Ich wollte ja nur ein paar Informationen. Dafür bedanke ich mich recht herzlich.

      Krättli begleitete ihn offensichtlich erleichtert zur Tür, so er­leichtert, dass er sogar nicht noch einmal fragte, warum Michel denn gekommen war. In der Tür blieb Michel stehen.

      Ach ja, Sie wissen auch nicht zufällig, was Beckmann jetzt macht?

      Krättli gab sich Mühe, ein Gesicht zu machen, das Ich-überlege-ernsthaft heißt, schüttelte aber dann den Kopf.

      Nein, tut mir leid. Ich habe keine Ahnung.

      Und ich glaube dir kein Wort, dachte Michel und verabschiedete sich freundlich, wie es zu diesem ganzen Interieur passte.

      Jetzt wusste er, wie die Geschichte heißen könnte, die das Haus und die ganze Einrichtung dieser Anwaltssozietät erzählte: Die Wohlanständigen.

      Er schaute nochmals in das Büro der Anmeldung, aber Mar­lene war leider nicht da.

      Schade, schade. Hoffentlich meldet sie sich.

      Kurzentschlossen machte er sich auf den Weg ins Gerichtsmedi­zinische Institut. Jetzt hatte er das Bedürfnis, den Toten aus dem See noch einmal zu sehen.

      sechs

      Als er später zurück ins Büro kam, herrschte dicke Luft. Sommer signalisierte es ihm mit dem verabredeten Zeichen. Sie hatten über längere Zeit ein Zeichensystem entwickelt, so dass Sommer ihm jeweils sekundenschnell die Stimmung im Büro signalisieren konnte. Sommer nutzte das Zeichen für höchste Alarmstufe. Michel zuckte mit den Schultern und ging schnurstracks in sein Büro. An einem kleinen Tisch, der neu in seinem Büro war, saß Lena und starrte angespannt in einen Computer.

      Er verkniff sich eine Bemerkung wegen des neuen Arbeitsplatzes.

      Und? Wie war es mit Frau Beckmann?

      Sie drehte sich um und Michel sah, dass sie geweint hatte. Er setzte sich. Sie wischte sich die Haare aus dem Gesicht.

      Es war gut, dass ich sie begleitet habe. Erstens war sie sehr froh, nicht allein gehen zu müssen – das hätte sie sicher nie zugegeben, aber es war zu spüren – und zweitens war es für mich eine interessante Erfahrung.

      Inwiefern?

      Ich habe vorher noch nie eine Wasserleiche gesehen, außer auf dem berühmten Gemälde von Holbein. Sie kennen es?

      Michel verneinte.

      Hans Holbein der Jüngere hat Jesus im Grab gemalt und das Bild hängt im Kunstmuseum Basel. Wir haben das Gemälde im Studium mit einem Fachmann analysiert. Einer unbelegten Legende nach benutzte Holbein eine Leiche aus dem Rhein, was der Forensiker anhand des Bildes aber widerlegte. Aber ich kenne das Bild seit meiner Jugendzeit, und es war für mich immer die Wasserleiche schlechthin.

      Sie wischte sich eine Träne aus den Augen.

      Und jetzt habe ich einen Menschen gesehen, der wirklich im Wasser war.

      Und? Wie war Ihr Eindruck?

      Erstens hatte der Gerichtsmediziner hundertprozentig recht. Eine Wasserleiche sieht wirklich ganz anders aus – als der Körper auf Holbeins Bild, meine ich.

      Sie stockte.

      Ja, und jetzt habe ich einen Menschen gesehen, der noch vor zwei Tagen lebte. Wissen Sie, in meinem Alter beschäftigt man sich wenig mit dem Tod. Heute habe ich eine ziemlich grausame Wirklichkeit des Todes gesehen. Als Kind hat mich der Tod sehr beschäftigt, aber man durfte ja nicht fragen, oder wenn, bekam man keine Antworten. Auf jeden Fall keine befriedigenden.

      Ich verstehe.

      Sie schwiegen eine Weile. Michel wusste nicht so richtig, wie er darauf reagieren sollte. Dann räusperte er sich.

      Und wie hat Frau Beckmann … ?

      Sehr gefasst, würde ich sagen. Vielleicht könnte man auch sagen, gefühllos. Wie soll ich sagen? Sie hat ihn angeschaut. Dann hat sie genickt und unterschrieben. Sie hat keine Fragen gestellt. Als man ihr sagte, dass man ihr die persönlichen Sachen dann zustellen würde, hat sie das abgelehnt. Sie wolle diese Sachen nicht.

      Hat sie sich denn die Kleidung angeschaut?

      Lena nickte.

      Sie hat kurz hingeguckt und gesagt, dass das nicht seine Kleider seien. Damit wolle sie nichts zu tun haben. Von den Schuhen war sie richtig angewidert.

      Sonst hat sie nichts gesagt?

      Nein, ich habe sie dann mit dem Taxi wieder nach Hause begleitet. Sie hat nur einmal etwas gemurmelt, dass ich nicht richtig verstanden habe. Es klang wie Marmarameer.

      Marmarameer?

      Nein, nein, ich glaube nicht, dass sie dieses Wort gesagt hat. Ich glaube nur, es kommt dem, was ich gehört habe, am nächsten.

      Sie fuhr mit der Hand ärgerlich durch die Luft.

      Ich habe nachgefragt, aber sie starrte nur ins Leere. Beim Aussteigen habe ich ihr vorgeschlagen, sie zu begleiten. Oder ihr noch ein bisschen Gesellschaft zu leisten.

      Sie schlug die Hände vors Gesicht.

      Oh je! Ihr entsetztes Gesicht hätten Sie sehen sollen! Ui, ui! Als ob ich ihr einen unsittlichen Vorschlag gemacht oder sie gebeten hätte, mich als Erbin einzusetzen.

      Michel lachte.

      Ja, das überrascht mich nicht. Genauso habe ich sie eingeschätzt. Aber …

      Michel stockte ein wenig.

      … ich finde, Sie haben das gut gemacht, Lena. Danke. Wann kriegen wir den Bericht?

      Morgen früh.

      Gut.

      Michel zögerte.

      Haben Sie jemand, mit dem Sie über Ihr Erlebnis heute reden können?

      Ja, ja. Machen Sie sich keine Sorgen, aber nett, dass Sie fragen.

      Gerade wollte er ihr von den Neuigkeiten aus dem Anwaltsbüro berichten, als der Polizeichef wie von einer Wespe gestochen ins Büro gesaust kam.

      Kommen Sie sofort in mein Büro!

      Im selben Tempo war er wieder verschwunden.

      Michel erhob sich seufzend.

      Besorgen Sie mir die Adressen von ihren Kindern, bitte.

      Lena lächelte verschmitzt.

      Habe ich schon. Sie liegen auf Ihrem Tisch.

      Unterwegs holte er sich noch einen Kaffee aus diesem scheußlichen Automaten, weniger des Kaffees wegen, sondern um den Chef warten zu lassen.

      Im Büro musste er Platz nehmen. Der Neue kam sofort zur Sache.

      Ich hatte soeben ein Telefongespräch mit Professor Krättli.

      Michel lehnte sich zurück.

      Ach ja, Sie kennen ihn?

      Von der Werdt wischte die Frage wie eine lästige Fliege vom Tisch.

      Wie kommen Sie dazu, ihm zu drohen, dass sie ihn vorladen, wenn er keine Zeit für ein Gespräch hat und warum haben Sie ihm verschwiegen, dass Beckmann tot ist?

      Auf die erste Frage ging Michel gar nicht ein.

      Warum

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