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entschlossen, unser Leben selbst in die Hand zu nehmen. Wir hätten gern eine Hilfsgesellschaft gegründet, aber so etwas auf die Beine zu stellen, schien uns unmöglich. Wir hatten keine Ersparnisse, die wir hätten zusammenlegen können, kamen nur selten durch die Woche, ohne das Brot anschreiben lassen zu müssen.

      Nach der Abreise der Kongressteilnehmer diskutierten wir umso mehr über unseren Wunsch nach einem anderen Leben. Eine Bäckerin, eine Modistin, die anderen sechs in unsicheren Uhrmacherberufen: Schmelzarbeiterin, Vergolderin, Wicklerin, Verstifterin-Zentriererin, Regleuse, Einsetzerin, und alle von Zeit zu Zeit, je nach Konjunktur, arbeitslos. Wir fassten die Emigration ins Auge, um uns ein neues Leben zu erfinden. Sobald ganz Europa Arbeit hätte und anarchistisch geworden wäre, sagte Blandine, kämen wir wieder zurück. Valen­tine widersprach ihrer großen Schwester lieber nicht, wollte aber mit ihrer Entscheidung noch warten.

      Jeanne und Lison nahmen mit ihren Kindern an den Treffen teil. Émilie, die Modistin, brachte den kleinen Max mit. Adèle war damals schwanger mit Clémence. Als Mathilde mit der Idee kam, wir Frauen sollten alleine, nur mit den Kindern, aufbrechen, mochten wir nicht so recht daran glauben. Einige Wochen später aber war der Plan gereift. Was hatten wir schon zu erwarten, wenn wir im Tal blieben? Im Morgengrauen in die Fa­brik, nach elf Stunden wieder nach Hause, den Rücken von der Werkbank gekrümmt, mit schmerzenden Au­gen und Kopfweh, schlecht bezahlt, und am nächsten Tag alles wieder von vorne. Wütend auf den Werkmeister, der uns wegen fünf Minuten Verspätung eine Strafe aufbrummte, auf die Monotonie der Arbeit und die Vorschriften, die uns das Singen und sogar das Pfeifen verboten, neidisch auf die anderen Arbeiterinnen und ihren Platz im Umkleideraum, und dazu noch in ständiger Angst, beim geringsten Anlass unsere Stelle zu verlieren. Das war nicht dieses wahre Leben, von dem der russische Prinz und der schöne Benjamin gesprochen hatten.

      Heftige Diskussionen. Alles Mögliche kam auf den Tisch. Die eine hatte Angst, die andere wollte um jeden Preis fort. Und viele Überlegungen: Auswandern hieß nicht nur, mit schwerem Gepäck aufzubrechen, sondern auch ein Projekt für drüben zu haben, wo man dann ein neues Leben mit Leuten beginnen würde, die weder die Wege auf den Schattenberg noch die Enge unseres Himmels gesehen hatten, die mit anderen Währungen rechneten, über Dinge lachten, die uns zum Weinen brachten. Es bedeutete auch, sich über Unverhofftes zu freuen, ohne dabei die Kraft zum Aufbegehren zu verlieren. Falls man sich an den Hintern fassen lassen musste wie im gemischten Chor, schlüpfrige ­Witze ertragen sollte wie auf dem Marktplatz, dann brauchte man gar nicht erst den Ort zu wechseln.

      Schöne Worte, genug geredet. Wir fahren! Worauf die Einwände der Männer kamen, die uns Abenteuerinnen, Utopistinnen und kleine Anarchistinnen nannten. Sie, die Freiheit, Fortschritt, ewige Sonntage nur als Worte im Munde führten, störte es, dass wir das alles in die Tat umsetzen wollten. Wir lasen verlockende Werbeangebote für Peru, Australien, Kanada. Wir entschieden uns für Patagonien, weil noch niemand Schlechtes darüber gesagt, niemand je einen Fuß dorthin gesetzt hatte und der Annonce zufolge Frauen dort willkommen waren. Natürlich ging es darum, die Gegend zu bevölkern, wurden heiratswillige junge Mädchen oder Nutten gesucht. Aber das wäre für uns die Gelegenheit, zu beweisen, dass wir weder das eine noch das andere waren.

      Émilie schnitt im Jura bernois einen Aufruf aus, den wir später in das grüne Heft klebten: «An alle, die ge­sund und arbeitsfreudig sind, die von eigenem Besitz träumen, die wissen, wie ungeheuer viel sich mit der Zucht und Vermehrung von Viehherden verdienen lässt, denen sage ich: Kommt zur Magellanstraße, bringt Mut und Ausdauer mit, und die Zukunft wird es euch mit Wohlstand vergelten. Euch erwartet ein angenehmes, gesundes Klima, Weideland ist reichlich vorhanden, Gruyère lässt sich leicht herstellen, hoher Absatz ist garantiert. Überdies macht die Regierung konkrete Zu­geständnisse und gestattet es auch den ärmsten Einwan­derern, sich zu Gruppen oder Verbänden zusammenzuschließen und innerhalb weniger Jahre Landbesitzer zu werden.»

      Von Rinderzucht und Gruyère-Herstellung hatten wir zwar keine große Ahnung, fanden das aber nebensächlich. Wir träumten nicht davon, Eigentümer zu werden, da hatten wir klare Vorstellungen. Doch der Ge­danke, einen Ort zu finden, an dem wir uns ein gemeinschaftliches Leben aufbauen könnten, beschäftigte uns wochenlang. Aus Saint-Imier würden wir alles Gute übernehmen. Zum Beispiel die Genossenschaften wie die von den Arbeiterinnen verwaltete Bäckereikooperative. Un­sere Kinder würden mehrere Sprachen lernen. Wir fragten diejenigen um Rat, die verarmt aus Amerika zurückgekehrt waren. Wir überlegten, auf wie viele Männer wir würden verzichten können. Sollten wir alle zusammen aufbrechen, oder sollten einige von uns vorausfahren und für die anderen das Terrain bereiten? Am Ende taten Émilie, Jeanne, Lison, Adèle, Germaine, Mathilde und wir beiden Schwestern Grimm uns zusammen. Mit neun Kindern zwischen null und sechs Jahren. Émilie, die schwanger war von einem Liebhaber, der sie schlug, würde ihren Sohn Max mitnehmen. Jeanne ihre drei Knaben, Lison ihre vier Töchter und Adèle die kleine Clémence, die erst drei Monate alt war.

      Nach dem traurigen Ende von Colette und Juliette waren wir nur noch acht mit diesem gemeinsamen, aber auch gefährlichen Auswanderungsplan. Wir wollten uns nicht mehr trennen, bevor wir nicht glückliche Greisinnen wären, vielleicht sogar anarchistische Großmütter, sagte Mathilde.

      Die Reise organisierten wir nicht aus Prinzip nur unter uns Frauen, sondern weil wir uns so besser einigen konnten, als wenn wir mit Männern hätten Einverständnisse aushandeln müssen. Die treten ja ihre Privilegien nicht gerne ab. Überdies hatte jede ihre persönlichen Gründe. Wir würden es uns übel nehmen, wenn wir sie verschwiegen. Germaine, die Regleuse, wollte einen großen Kummer vergessen. Der Sohn des Milchmanns, in den sie verliebt war, hatte trotz seines Eheversprechens aus Geldgründen eine andere heiraten müssen. Germaine trauerte ihm nach. Valentine, die Ihnen hier von den Ereignissen berichtet, verstand sich nicht mehr mit ihrem autoritären Vater, der sich weigerte, ihr das Pferd zu überlassen, um nach La Chaux-de-Fonds zu reiten. Anfangs wäre sie lieber allein in die Großstadt Genf gezogen, hätte sich gern von der belastenden Gegenwart ihrer älteren Schwester befreit. Dann aber entschied sie sich mehr oder weniger aus Neugier dafür, mit der Gruppe aufzubrechen. Mathilde, von allen am stärksten von Benjamins Ideen überzeugt, war erst siebzehn und hatte gerade ihre Bäckerlehre abgeschlossen. Mithilfe ihrer Adoptions­fa­milie und unter dem Vorwand einer Fortbildung im Ausland schaffte sie es, Ausreisepapiere zu bekommen. Émilie wollte weg von den Schlägen ihres Mannes. Und auch Adèle hatte einen persönlichen Grund: Sie glaubte, sie würde nicht älter als dreißig werden und wollte noch vor ihrem Tod das Meer sehen.

      Wir beschlossen, dass jede von uns versuchen würde, eine 20A von Longines mitzunehmen, eine wie die von Colette und Juliette. Als Talisman und Kriegskasse. In die Zwiebeln ließen wir drei Geheimbuchstaben und eine Zahl zwischen drei und zehn eingravieren, denn die eins und die zwei hätten ja in die Uhren der beiden Vorangegangenen gehört. Auf verschiedene Arten, die wir, obwohl sie inzwischen verjährt wären, hier lieber nicht ausplaudern wollen, gelang es uns, die Uhren zu bezahlen. Noch ahnten wir nicht, was für eine verdor­bene Welt wir durch diese Zwiebeln kennenlernen würden. Mathilde Basswitz nahm die Werke von Jean-Jac­ques Rousseau mit, die ihrem Vater gehört hatten, fünf Bände in einem Schuber.

      Im Juni des Jahres 1873 umarmten, weinten, bereuten wir also ein letztes Mal. Aufbruch zur Südspitze Amerikas, an die Ufer der Magellanstraße, mit neun kleinen Kindern und acht Zwiebeln. Da wir keinen Mann an unserer Seite hatten, schworen wir uns, einander bis zum Ende beizustehen. Mathilde dachte sich ein Lied aus, das uns Mut machen sollte:

      «Wie ein Grab schließt uns der Jura ein

      Helvetien ist kaum zu seh’n

      In der Ferne, in Patagonien

      Ist der Himmel weit und schön

      Auf, auf, ihr Freundinnen

      In Patagonien

      Wartet das Leben auf uns

      Den Atlantik überqueren wir

      Singend und frohgemut

      Die bittere Not verlassen wir

      Singend und frohgemut

      Ein kleines Land verlassen wir

      Das viel zu viele Menschen zählt

      Wo man

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