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      Über dieses Buch

      1872 weilt Bakunin in der Uhrenstadt Saint-Imier im Schweizer Jura, wo die Anti­autori­täre Internationale gegründet wird. Zehn Frauen werden von den Freiheitsideen angesteckt und beschliessen, nach Südamerika auszuwandern, um dort ein herrschaftsfreies Leben auszuprobieren. Als Kriegskasse beschafft sich jede eine Longines 20A.

      Zwar beginnt es schlecht, von den ­beiden vorangegangen Frauen, dem Liebespaar Colette und Juliette, trifft bald die Nachricht ihres gewaltsamen Todes ein. Trotzdem machen sich die andern acht auf den Weg. Mit einem Schiff, auf dem auch Verbannte der Pariser Kommune eingesperrt sind und auf dem Émilie bei einer Geburt stirbt, gelangen die übriggeblie­benen sieben nach Punta Arenas in Patagonien, wo sie gemeinsam eine Bäckerei und eine Uhrmacherwerkstatt aufbauen. Sie trotzen machistischen Kolonialbeamten und verfolgen in Freiheit ihr Liebesleben, jede nach ihrem Geschmack.

      Auf der Basis historischer Dokumente und mit Hilfe seiner Imagination erzählt Daniel de Roulet das Schicksal von zehn Frauen, die in einer Zeit, die ihnen nichts zu bieten gewillt war, die Freiheit suchten.

      Foto Yvonne Böhler

      Daniel de Roulet, geboren 1944 in Genf, war Architekt und arbeitete als Informa­ti­ker. Seit 1997 Schriftsteller. Autor zahl­reicher Romane und Essays, für die er in Frankreich mit verschiedenen Preisen ­ausgezeichnet ­wurde. Er lebt in Genf. Im Limmat ­Verlag sind zehn Titel von ­Daniel de Roulet ­lieferbar, zuletzt ist der Roman «Kami­kaze Mozart» erschienen.

      Maria Hoffmann-Dartevelle, geboren 1957 in Bad Godesberg, studierte Roma­nis­tik und Geschichte in Heidelberg und Paris. Als ­freiberufliche Übersetzerin ­tätig. Übersetzte neben Sach- und Kinder­literatur ­Romane und Essays aus dem ­Spanischen und Französischen, darunter Amélie Plume, César Aira, Elena Ponia­towska.

      Daniel de Roulet

      Zehn unbekümmerte Anarchistinnen

      Roman

      Aus dem Französischen von Maria Hoffmann-Dartevelle

      Limmat Verlag

      Zürich

      Für P. N.

      EINIGE ERKLÄRUNGEN

      damit die Leserinnen und Leser verstehen, wer diese Zeilen geschrieben hat und ­warum, mit ­Hinweis auf das grüne Heft, das ein paar Gedächtnislücken füllen wird.

      Wir waren zehn, jetzt sind wir nur noch eine, Valentine Grimm, geboren am 30. November 1845. Wir sind die jüngste der Schwestern Grimm. Mit vierundsechzig sind wir im richtigen Alter, um Bilanz zu ziehen.

      Bisher haben wir vor allem Denkschriften zu be­son­deren Anlässen, erfundene Geschichten, um Kinder zum Träumen oder misstrauische Feinde auf andere Gedanken zu bringen, und ein paar hübsch formulierte Briefe an Freundinnen verfasst. Diesmal sind wir die Berichterstatterin unserer Gefährtinnen.

      Uns liegt weder an Spott noch an Glorifizierung. Einfach unsere Porträts, unsere Liebesgeschichten, un­sere Überzeugungen, keine Urteile, keine Übertreibungen. Eher eine Art politisches Testament, also eine ernste Sache. Wie Sie sehen werden, hatten wir alle ein ausgefülltes Leben. Wenn wir uns schriftlich äußerten, unterzeichneten wir stets mit Pseudonym oder mit «einige unbekümmerte Frauen».

      Wir hatten uns gegenseitige Hilfe in jeder Lebenslage versprochen, auch bei Aktionen, die unsere Feinde gewalttätig nannten, obwohl sie sich nur gegen Ungerechtigkeiten richteten. So haben wir, die nach Urugu­ay geflüchtete Valentine, heute beschlossen, Ihnen möglichst wahrheitsgetreu zu erzählen, was es kostet, die Welt neu zu erfinden.

      Nur dass die anderen jetzt nicht mehr da sind, nicht einmal Mathilde. Wir, Valentine, die letzte der zehn Emi­grantinnen, müssen uns allein an die Arbeit machen, müssen berichten, ohne dabei allzu sehr in anarchistische Propaganda zu verfallen. Zum Glück haben wir das grüne Heft aufbewahrt, in das wir Originalsätze notiert, Zeitungsausschnitte geklebt oder Auszüge aus Briefen von Mathildes Freund, dem schönen Benjamin, übertragen haben. Wir werden dieses Material verwenden und es jeweils in Anführungszeichen setzen. Es soll als Beweis für die Wahrhaftigkeit unserer Abenteuer dienen. Ansonsten stützen wir uns auf unser Gedächtnis und ändern ein paar Namen, damit alles sich liest wie ein Roman.

      Montevideo, 2. Juni 1910

      ERSTES KAPITEL

      in dem VALENTINE in der Rolle der ­Berichterstatterin von den Ereignissen im Jahre 1851 in einem Uhrmacherdorf erzählt, als ein israelitischer Arzt von der Regierung ­verjagt, aber von den Dorfbewohnern verteidigt wurde.

      Früh weckte uns das Geräusch der Schaufeln, die vor den Türen den Schnee fortschippten und die Wege bis zur Straße freiräumten, wo der Spitzpflug vorbeikommen würde. Die ganze Nacht hatte es auf das Tal und seine Dörfer geschneit. Die Väter und großen Brüder arbeiteten hart, während wir Mädchen hinter den Fenstern unserer Häuser zuschauten, wie die Dampfwolken aus ihren Mündern aufstiegen. Eine dicke Schneeschicht hatte die Formen der Landschaft weich gezeichnet, auch die Buchsbaumhecken des Gemüsegartens, die Trocken­steinmauern, die Tannenzweige, die einen hübschen Schwung bekommen hatten. Wir zogen unsere Sonntagskleider an, um unsere Eltern zum Gottesdienst zu begleiten. Sobald die Straße frei wäre, würde Vater Grimm mit Valentine und ihrer großen Schwester Blandine zu Fuß losgehen. Valentine war damals sechs, Blandine acht Jahre alt.

      Zwei Pferde zogen den Spitzpflug, der aus zwei v-förmig zusammengesetzten, metallbeschwerten Bret­tern bestand. Sobald es bergauf ging, ächzten die Tiere, und die Dampfwolken, die aus ihren Nüstern wehten, schienen ihre endgültige Erschöpfung anzukündigen. Zuerst waren sie die Hauptstraße entlanggetrabt, hatten dann Stufe für Stufe ansteigend die Wege an den Flanken des Sonnenbergs freigeräumt und waren weiter oben an den Höfen von Colettes und Juliettes Eltern vorbeigekommen.

      Es war acht Uhr, als die Straße, die über die Suze und am Haus der Grimms vorbeiführt, endlich vom Schnee befreit war. Wir wussten, dass der Spitzpflug nun nacheinander die Zuwege zu den abgelegenen Häusern am Schattenberg freiräumen würde. Jedes Dorf hatte seine Wintergerätschaften, die je nach dem Gefälle seiner Hänge von einem oder zwei Pferden gezogen wurden. In den Dörfern des weiten, ebenen Untertals genügte ein Zugtier. In Courtelary wurde nur ein Ochse vor den Pflug ge­spannt.

      Um halb zehn riefen im Tal die Kirchenglocken, al­len voran die der Kirche von Saint-Imier, eine Viertelstunde lang zum Gottesdienst. An ihrem gedämpften Klang konnte man allein vom Hören abschätzen, wie hoch der Schnee lag. Die letzten Flocken schwebten zu Boden. Die Wolken zogen nach Frankreich hinüber, wir erwarteten einen blauen Himmel und beißende Kälte nach dem Gottesdienst. In dieser Jahreszeit erreicht die Sonne den Schattenberg nicht. Ihre hellen Strahlen tref-fen nur den Sonnenberg und überziehen dort die Schneedecke mit einem bläulichen Schimmer.

      Im Tal tun sich selbst die Alten schwer mit der Wettervorhersage, denn der Himmel ist nie in seiner ganzen Weite zu sehen, zwei tannenbestandene Bergketten grenzen ihn ein. Die Wolken bilden sich im Verborgenen. Plötzlich sind sie da. Wenn sie hinter dem Bergkamm ver­schwinden, weiß man nicht, wohin sie ziehen. Blandine, die ihre kleine Schwester Valentine gerne ärgerte, hatte ihr während des Schlussgesangs ein Rätsel aufgegeben: Wo­hin verschwindet das Weiß des Schnees, wenn er schmilzt? Schwestern gehen nicht zimperlich miteinander um. Va­­len­­tine schmollte, weil sie die Antwort nicht wusste.

      Es war Sonntag, der 12. Januar 1851, in Saint-Imier in der Schweiz, im Berner Jura, dem französischsprachigen Teil des Kantons, kurz vor elf, am Ende des Gottesdienstes.

      Der Pulverschnee taugte nicht besonders für Schneebälle. Über dem Tal war der schmale Streifen Himmel mittlerweile blau. In Erwartung des Umzugs hatten sich die Menschen auf dem Marktplatz und entlang der Hauptstraße versammelt. Auch wir waren da, die Mädchen, die eines Tages ans andere Ende der Welt auswandern würden. Colette und Juliette, beide bald dreizehn Jahre alt, schlängelten sich zwischen den Erwachsenen hindurch. Auf den Schultern ihres Vaters sitzend, er­blickte Valentine zuvorderst die Musiker und den Fahnenträger, der den Schaft der bestickten Fahne im Gurt trug. Im Rhythmus der Trommeln

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