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Zehn unbekümmerte Anarchistinnen. Daniel de Roulet
Читать онлайн.Название Zehn unbekümmerte Anarchistinnen
Год выпуска 0
isbn 9783038551249
Автор произведения Daniel de Roulet
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Hinter dem durch den Spitzpflug mehr oder weniger hoch aufgetürmten Schneewall begrüßten die Bewohner von Saint-Imier ihr Musikkorps mit Applaus. Knaben und Männer mit bloßen Händen, Mütter und junge Mädchen, ohne ihre Wollhandschuhe auszuziehen. Ein Vater bückte sich, um seine Tochter zu Boden zu lassen, seine Schultern waren vom Schneeschippen müde. Wir haben deshalb nicht genau mitbekommen, wie der unbeliebte Lehrer den Streit auslöste, als die Musik an der Schule vorbeizog. Heute ist der letzte Sonntag vom Basswitz, nieder mit den Roten!, hörte ihn Valentine brüllen. Ein Verwandter verwies ihn in die Schranken: Geh nach Hause, du Mistkerl! Als der Lehrer sich weiter aufspielte, traf ihn ein Schneeball mitten ins Gesicht, kein dicker Brocken, aber seine Brille überstand den Angriff nicht. Der Lehrer sah nichts mehr und musste sich wütend verziehen.
Abends in den Häusern wurde im Kreis der Familien über den Vorfall gesprochen. Im ersten Augenblick hatten wir das alles nicht richtig verstanden. Jedermann schätzte doch den Doktor Basswitz, der deutscher Staatsbürger, Israelit und politischer Flüchtling war. Er hielt schöne Vorträge über Jean-Jacques Rousseau, behandelte die armen Leute, ohne Geld dafür zu nehmen, war sogar Gemeinderat gewesen. Aber die da oben in Bern hatten beschlossen, ihn zu vertreiben. Eine Petition hatte die Runde gemacht, in der die Leute sich für diesen Arzt einsetzten, der nach seinem Studium in Bern das Krankenhaus von Saint-Imier gegründet und mit dem Aufbau einer Sekundarschule für Knaben begonnen hatte.
In vielen Häusern herrschte die ganze Nacht hindurch ein Kommen und Gehen. Das Thermometer zeigte minus zehn Grad an, die Fensterscheiben waren mit einer dicken Schicht Eisblumen überzogen. Junge Leute kamen vorbei, um zu erzählen, dass sie alle Konservativen besucht hätten, um sie ordentlich zu verprügeln. Angeblich war ein Polizist bewusstlos im Schnee aufgefunden worden, neben ihm ein Blutfleck. Die Sache war ernst, man musste rasch irgendeine Geschichte erfinden, sagen, er habe wie immer zu viel getrunken. Wir verstanden nicht, was los war. Aber wir sahen, wie die Erwachsenen sich aufregten, als die Berner am nächsten Morgen in der Zeitung behaupteten, es habe einen Aufstand gegen die Obrigkeit gegeben.
Statt uns in die Schule zu schicken, nahmen unsere Eltern uns mit auf die Straße, um lauthals Lieder gegen die Konservativen zu singen. Auf dem Marktplatz war ein Freiheitsbaum aufgestellt worden, eine große Tanne, nicht sehr stabil befestigt. Wir haben sie alle auf den jungen Gagnebin fallen sehen. Die Leute rannten in alle Richtungen, das Schlimmste aber war die Frau, die schrie: Das ist mein Mann, tut doch was! Doch der rührte sich nicht mehr, denn, auch wenn sich das blöd anhört, er war tot.
Am nächsten Morgen haben die, die behaupteten, die Obrigkeit zu sein, eine Art Krieg begonnen. Wieder mussten wir unsere Eltern begleiten, die Widerstand gegen die militärische Belagerung des Tals leisten wollten. Aus der Hauptstadt rückten über tausend Soldaten an, hundertsechzig Pferde zogen Kanonen, die uns niedermetzeln sollten. Die Sturmglocke läutete. Fanfaren und Trommler vorneweg zog der Gemeinderat mit wehenden Fahnen den Soldaten entgegen. Auf der Höhe der Place Neuve stieß er auf die im Karree aufgestellten Truppen. Wir blieben mit unseren Müttern auf Beobachtungsposten in einer Seitenstraße. Die Polizisten versuchten, all jene festzunehmen, die der Statthalter Unruhestifter nannte: Gigon, Bourquin, Ketterer. Jemand rief: An die Waffen!, als müsse jetzt das Gewehr hervorgeholt werden, das unsere Eltern unter ihrer Matratze versteckt hatten. Jedenfalls die von Valentine.
Der Oberst, ein Mistkerl, befahl die Truppe in Stellung und brüllte: Waffen – laden! Unsere Mütter schlugen vor, nach Hause zu gehen, unter dem Vorwand, die Kinder würden sich erkälten. Der Bürgermeister verhandelte. Er wollte nicht, dass wirklich Krieg ausbrach. Blandine hatte Angst, Valentine nicht, sie schmollte immer noch, weil sie das Rätsel ihrer Schwester nicht lösen konnte. Sie ließ Schnee in ihrem Mund zergehen, aber er wurde zu Wasser, nicht zu Milch. Wohin verschwand bloß das Weiß? Der Oberst schaffte es nicht, dass man ihm gehorchte. Am Ende befahl er der Truppe den Rückzug und vereinbarte, dass die vermeintlich Schuldigen sich freiwillig ins Gefängnis des Statthalteramts begeben sollten. Erleichtert ließen die Soldaten die auf uns gerichteten Gewehre sinken.
Von dem Tag an besetzte das Militär einen Monat lang die Dörfer des oberen Tals: Renan, Sonvilier, Saint-Imier. Wir folgten der Truppe, bewarfen sie mit Schneebällen. Da unsere Eltern uns den Unterschied zwischen Soldaten, Leutnants und Oberst erklärt hatten, beschimpften wir Letzteren direkt. Du gemeiner Deutschschweizer Kommandant!, riefen wir. Männer der Truppe gingen Arm in Arm mit Dorfbewohnern spazieren. Die Herbergen waren ständig voll. Zum Zeichen, dass sie sich mit uns verbündeten, trugen die Soldaten einen Tannenzweig im Knopfloch. Der Aufstand wurde zum Fest, die Eltern arbeiteten nicht mehr. Die Uhrmacherwerkstätten waren ausgestorben, trotz der Ermahnungen des Statthalters Lombach, die Colette, da sie schon lesen konnte, laut deklamierte und dabei die Obrigkeit nachäffte: «Arbeiter! Die militärische Okkupation darf nicht länger ein Grund für Untätigkeit sein, kehrt sofort in eure verlassenen Werkstätten zurück und nehmt eure gewohnte Arbeit wieder auf!»
Manche Anschläge verkündeten noch andere Dinge: «Unruhestifter wird man wie Feinde behandeln.» Es war verboten, die rote Hymne zu singen, ein guter Grund, ihren Text zu lernen, der den Staat verspottete:
«Was kümmern uns, Lombach, deine Fesseln
Deine Kerker und deines Henkers Schwert
Das Tal ist ein Hort der Mutigen
Lasst das Schwert in der Scheide ruhen
Täterä Ramtatatam
Hoch die Roten, nieder mit den Weißen»
Die Männer, die wie unsere Väter wählen durften, wurden zu einer erneuten Abstimmung gerufen. Sie wählten wieder den alten Gemeinderat. Die da oben in Bern anerkannten das Wahlergebnis nicht, sondern setzten einen provisorischen Rat ein und an dessen Spitze einen armen Teufel, der ihre Befehle ausführen musste. Gefällt der Obrigkeit ein Wahlergebnis nicht, erklärt sie es für ungültig. Die Besatzungstruppe wurde abgezogen. Hermann Basswitz musste sich fünfzehn Kilometer weiter niederlassen, im Val-de-Ruz, wo Israeliten geduldet waren und sich Häuser kaufen durften. Er heiratete eine junge Frau, die ebenfalls Basswitz hieß. Hildegard Basswitz. Der Vorname ihrer Tochter enthielt ein Stück des väterlichen Namens – Ma – und ein Stück des mütterlichen – Hilde: Mathilde.
Zur Feier des Truppenabzugs und der länger werdenden Wintertage stellten die Erwachsenen wieder einen Freiheitsbaum auf. Der Gemeindepolizist entfernte ihn.
Dann schmolz der letzte Schnee, ohne dass Valentine herausgefunden hätte, was mit dem Weiß passiert. Wieder nahmen unsere Eltern uns mit, einige noch immer auf ihren Schultern. Sie wollten die Widerständler bei ihrer Entlassung aus dem Gefängnis feiern. Die kamen auf einem blumengeschmückten und von sechs weißen Pferden gezogenen Wagen angefahren. Kanonen donnerten zum Salut. Wir trampelten vor Freude und schrien wie die Verrückten: Es lebe die Freiheit! Und Valentine, die dachte, das gehöre dazu, schrie auch noch: An die Waffen! Aber das passte jetzt nicht mehr. Alles zu seiner Zeit, sagte ihr Vater. Schade, denn obwohl wir Kinder waren, sollte uns die Freude des Volks am Aufstand, daran, wie die Obrigkeit zurückgedrängt wurde, unvergessen bleiben, selbst dann noch, als wir irgendwann das Tal verlassen mussten, um unser Glück anderswo zu suchen.
Manche von uns wohnten auf den hellen Höfen des Sonnenbergs, andere, wie die Schwestern Grimm, kamen von der dunklen Seite des oberen Tals. Die meisten lebten in den Dörfern entlang der Straße nach Courtelary, wohin man musste, wenn man es mit der Obrigkeit, sprich, mit ihrem Gefängnis aufnehmen wollte. In jedem dieser Juradörfer im Talkessel wurden Sägen, Mühlen, Hämmer vom Wasser der Suze angetrieben. Wir wohnten in großen Häusern mit sanft geneigtem Walmdach, auf der einen Seite die Familie, auf der anderen zwei Kühe, auf der Rückseite war die Tennbrücke.
Trotz seines ländlichen Aussehens wandte sich unser über achthundert Meter hoch gelegenes Dorf der Uhrmacherei zu. Im Winter waren die Familien auf den einsamen Höfen der Sonnen- und Schattenseite mehrere Wochen lang eingeschneit. Die Tiere spendeten Wärme, es gab genügend Holz, um Suppe zu kochen und den Raum mit der Werkbank zu heizen, wo die Rohwerke der Uhren den fachkundigen Händen unserer Mütter oder den zarten Fingern unserer großen Schwestern anvertraut waren. Im Herbst hatten sie einige Hundert