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uns, wie Colette oder Juliette, die als Zeigermacherinnen an derselben Werkbank saßen, hatten Verwandte in anderen Schweizer Kantonen, aus denen Leute nach Brasilien, Kalifornien oder Australien auswanderten. Sechshundert Schweizer hatten sich auf den Weg in die eroberten Gebiete Algeriens gemacht. Dorthin hatte man auch diejenigen deportiert, die beim Pariser Aufstand von 1848 verurteilt worden waren. Die Schweizer, die nach Algerien gingen, bekamen eine Hütte, Saatgut, ein Nutzungsrecht für zwei bis zehn Hek­tar, und durften die Ureinwohner verjagen.

      Colette hatte von einem Cousin einen Brief aus Al­ge­rien erhalten: «Von den fünfzig Familien unseres Dorfes sind innerhalb eines Jahres vierundachtzig Personen gestorben. Wir konnten nicht mehr arbeiten, sodass Teile unserer Ernten, vor allem der Mais, verdarben oder von den Schweinen verwüstet wurden, weil es nicht genug Hände zum Mithelfen gab.» Um ihre Rückreise bezahlen zu können, hatten sie alles verkauft, was ihnen geblieben war.

      Unsere beiden Zeigermacherinnen sagten, sie hielten es nicht mehr aus, als Lesben beschimpft zu werden, und drüben in Amerika sei jede Art von Liebe frei. Sie lasen die Werbeannoncen im Jura bernois: Von Basel bis zur Meeresküste werde alles organisiert, hieß es, ebenso die Überseereise und die Ankunft auf dem anderen Kontinent. Bis zur Kolonie werde man sich um sie kümmern. Wie sollte man einem so schönen Versprechen widerstehen? Aus ihrer Bluse zogen sie den Zeitungsausschnitt mit der Adresse der Agentur.

      Sie nannten sich selbst Anarchistinnen, brachten uns das Wort bei. Sie sagten, Anarchie bedeutete die Abschaffung von Eigentum. Und wenn kein Eigentum zu verteidigen sei, bräuchte man auch keine Regierung mehr. Valentine fand sie versponnen, gab zu bedenken, dass allzu simple Ideen nichts taugten, um die Welt zu verändern. Sie hatten Briefe aus Amerika bekommen, in denen es hieß, dort könne man sein Glück machen. Bettelarm fahre man hin und kehre reich zurück. Dort drüben siebe man ein paar Stunden lang Kieselsteine aus einem Fluss und verdiene auf einen Schlag so viel wie hier in einem Jahr. Dort drüben kaufe man Land für zehn Rappen den Meter. Über Nacht klettere der Preis so hoch, dass ein Koffer nicht genüge für all die Scheine, die ei­nem das einbringe.

      In einem anderen Brief stand: «In Amerika hängst du dir ein Schild an die Tür, auf dem Zahnarzt oder Ar­chitekt steht, und niemand nennt dich einen Betrüger, auch wenn du nur Zahnklempner, Buchhalter oder Mau­rer bist.» Die Alten im Tal warnten, man müsse auf der Hut sein, diese Agenturnamen, diese Kompanien aus Basel und Neuchâtel riefen üble Erinnerungen wach. Ob denn das nicht dieselben seien, die damals die Neger aus Afrika nach Amerika verfrachtet hätten? Also wirklich, Herzog, van Berchem, de Pury, sagt Ihnen das denn nichts? Immer das Gleiche, schimpften die Alten, jetzt, wo sie uns nicht mehr im Dienst fremder Länder in den Tod schicken können, verführen sie unsere prächtige Jugend zum Auswandern. Drohend schwangen sie die Zeitung, sie verkrafteten es einfach nicht.

      Im Jura bernois standen beunruhigende Dinge zum Thema Auswanderung, Statistiken über Skorbut, Wind­pocken, Blattern, Cholera. Diese Zeitungsausschnitte klebten wir in unser grünes Heft: «19,4 Prozent der Auswanderer sterben während der Reise.» – «Weil es bei der Ankunft des Schiffes in New York an Nahrung fehlte, starben dreiundzwanzig Schweizer Kinder.» – «Auf seiner Route von Antwerpen nach New York verbrannte das Segelschiff William Nelson auf offenem Meer mit Mann und Maus. Von den hundertsechsundsiebzig Schweizern überlebten nur vierundzwanzig.» Die Alten sagten: Das geschieht mit denen, die ihren Gelüsten nicht widerstehen können.

      Colette und Juliette arbeiteten gemeinsam in der Werkstatt von Longines, polierten Zeiger, regulierten und bemalten sie. Flüsternd bereiteten sie ihre Abreise vor. Hörten nicht auf die Mahnungen missgünstiger Alter. Die konnten ja nicht mehr, sehnten sich zurück zu Feile und Stichel aus der Zeit vor den Manufakturen und hielten Moralpredigten. Als schließlich die Werber kamen, zählten die beiden ihre Ersparnisse zusammen und unterschrieben.

      Am Abend vor ihrer Abreise fanden wir uns alle zu­sammen, um ihnen ein Geschenk zu überreichen. Colette und Juliette bekamen jede eine Zwiebeltaschenuhr, ein 20-Linien-Kaliber, Longines’ erstes Modell, die 20A, die ein Uhrwerk mit Ankerhemmung und Bügelaufzug be­saß. Da kamen ihnen die Tränen. Wir hatten Geld gesammelt, manche von uns hatten es sich geliehen. Colette und Juliette würden ihre Zwiebel nicht in einer Uhren­tasche, sondern an einer Kette zwischen den Brüsten ­tragen. An der Place Neuve stiegen sie in die Postkutsche. Im letzten Moment zogen sie ihre Zwiebel aus der Bluse, um die genaue Zeit unseres Abschieds zu überprüfen.

      Wir beneideten sie um ihren Mut und fühlten uns wie sie für ein anderes Leben unter einem abenteuer­licheren Himmel geschaffen, wo man für Handel, Fa­milie, Freundschaft neue Regeln erfinden müsste. Von morgens bis abends redeten wir darüber: Sollten wir es genauso machen wie sie? Lange Zeit warteten wir auf Nachricht von unseren beiden Auswanderinnen. Bis uns eines Tages zwei Todesanzeigen erreichten, abgeschickt vom Schweizer Botschafter in Talcahuano aus der chilenischen Region. Es hatte drei Monate gedauert, bis sie im Tal ankamen.

      Einen Monat später trafen ein paar persönliche Gegenstände und eine Erklärung ein: Tod durch Erdrosseln. Waren sie erhängt, vielleicht gelyncht worden, weil zwei sich liebende junge Mädchen womöglich auch in Amerika auf Ablehnung stießen? Der zurückgeschickte Koffer enthielt zwei indianisch aussehende Wollröcke, ein Heft, in dem die gemeinsamen Ausgaben notiert waren, Zeitungsausschnitte des Jura bernois, zwei Haarnadeln aus Walfischelfenbein, aber keine Spur der beiden Zwiebeln.

      Colette Colomb und Juliette Grosjean waren die beiden Ersten, die starben, weil sie unbedingt fortwollten. Wenn die Nächsten mit Verschwinden an der Reihe wären, wenn schließlich nur noch Valentine übrigbleiben, um die Geschichte zu erzählen, immer würden wir diese beiden als Erste nennen, obwohl wir trotz zweier Fotografien, die uns als Erinnerung geblieben waren, nicht mehr genau sagen konnten, welche Farbe ihre Au­gen hatten. Dunkel waren sie, besonders die von Colette mit ihrem Pferdeschwanz, Juliettes etwas weniger, die erkannte man an einem braunen Fleck auf der Stirn. Auf den Fotos sehen sie traurig, fast niedergeschlagen aus, als hätten sie beide bereits gewusst, was sie erwartete. Deshalb achteten wir im Übrigen, als wir dann selbst auswanderten, darauf, dem Apotheker für die Fotografie ein fröhliches Gesicht zu zeigen.

      Damals kam die Bevölkerung von Paris ein paar Monate lang ohne Regierung aus. Uns schien, dass die Pariser Kommune in Sachen Freiheit ein gutes Experiment war, vielleicht ein historisches und politisches Vorbild. Ein Emailleur aus Sonvilier, der die Barrikaden und die roten Fahnen gesehen hatte, erzählte sehr bewegt davon, wollte uns mit seiner Begeisterung anstecken.

      Als die Freimaurerloge eine öffentliche Konferenz zu den Ereignissen in Frankreich veranstaltete, gingen wir alle gemeinsam hin, um einem Schwadroneur zuzuhören, der aber sehr theoretisch blieb, ohne die Einzelheiten zu erzählen, die uns interessiert hätten. Soviel wir verstanden, war in Paris etwas Ähnliches passiert wie bei uns im Jahr 1851 mit dem guten Doktor Basswitz: Wenn die Konservativen sich bedroht fühlen, verbünden sie sich mit ihren früheren Feinden, um die Aufständischen im Namen der Republik zu unterdrücken. Wir hatten keine Hemmungen, lästige Fragen zu stellen.

      Um besser gemeinsam überlegen zu können, wie es auch in unserem Tal zu derart rühmlichen Ereignissen kommen könnte, trafen wir uns mehrmals bei Adèle. Ihr Vater hatte den Schlüssel zu einem großen Schuppen, denn er war Straßenwärter, das heißt, die Gemeinde­verwaltung hatte ihn dafür angestellt, auf dem Marktplatz die Pferdeäpfel wegzukehren und im Winter Salz auf die Stufen der Kirche zu streuen. Adèles Mutter war Wäscherin und arbeitete hauptsächlich bei der Familie von Francillon, dem Chef von Longines, einmal die Woche kochte sie dort die Wäsche. Wir überlegten ge­meinsam, wie man Francillon eines Tages im Namen der Gleichheit zum Schneeschippen verpflichten könnte und seine Frau dazu, die Waschküche feucht auszu­wischen. Aber wenn wir nicht wollten, dass uns die zu Hilfe gerufenen Truppen niedermetzelten, mussten wir listig vorgehen. Wir würden die Kommune des Tals, die Gleichheit der Bürger und, warum nicht, der Bürgerinnen ausrufen.

      Unterdessen war der Winter zurückgekehrt. Der Schnee, der die Landschaft in sanfte, runde Formen kleidet, lag so hoch, dass die Fabrikbesitzer eine Schließung ohne Lohnfortzahlung anordneten. Wir nutzten diese Zeit, um Marmelade einzukochen, Sauerkraut umzufüllen und wieder einmal Julie oder Die neue Heloïse zu lesen, die uns immer zu Tränen rührte. Der Schnee verschwand erst im Frühjahr und brachte mit einem Mal Krokusse und knospende

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