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sie ab­­ge­stellt wurden.

      Nach den abendlichen Strandspaziergängen gehe ich meist in mein Zimmer. Mein Nachtessen besteht aus Brot, Tomaten und Feta, der im Kühlschrank des Dorfladens für Touristen be­reit­liegt. Der kleine Holztisch, der an der Wand steht, dient mir als Ess- und Schreibtisch. Er ist gerade so breit, dass der Teller vor dem zugeklappten Laptop Platz hat. Zugleich dient er als Ablage für Toilettenartikel und Bücher. Die beengten Verhältnisse stören mich nicht. Alles hat seinen Platz. Auch die Muscheln und Steine, die ich auf dem Fenstersims aufgereiht habe.

      Schlimm wäre, ich könnte mich im Bett nicht ausbreiten. Die Vermieter haben es selbst gezimmert. Oft wache ich am Morgen auf dem Rücken liegend mit weit ausgebreiteten Armen aus. Neben Wasserkocher, Kissen und Taschenlampe gehört die Nachttischlampe zu den wenigen, aber wichtigen Gegenständen, die ich von zu Hause mitgebracht habe. Was für ein Glück, in den vielen Stunden, in denen ich unter dem Moskitonetz lese, gutes Licht zu haben.

      Am Sonntagabend lausche ich jeweils dem Raga, den ein paar Männer im nahen Tempel spielen. Einmal bin ich durch eine Art von Urwald aus üppigen Pflanzen, Bäumen und an mehreren Hauseingängen vorbei zu ihm vorgedrungen. Mit jedem Schritt wurden die elektronisch verstärkten Instrumente lauter, sodass ich mir beim Eingang zum blau gestrichenen Haus beinahe die Ohren zuhalten musste. Die Musiker sassen im Kreis am Boden, ausser mir nahm niemand von ihnen Notiz.

      Täglich zu schwimmen habe ich mir auch in Zürich angewöhnt. Im Sommer im See, während des restlichen Jahres im Hallenbad. Im Frühsommer und Herbst radle ich auch zum Moorsee, den mein Vater früher fast jeden Abend aufsuchte. In der Garderobe zog er sich Badehose und Bademantel an, lief über die Wiese zum hinteren Seeeinstieg und schwamm dann seine Runde. Danach verlief das Ganze in umgekehrter Richtung. Nicht ein Mal legte er sich auf den warmen Holzsteg, er nahm auch nicht an einem der Tische beim Kiosk Platz, sondern setzte sich unverzüglich wieder in das von der Sonne aufgeheizte Auto, um nach Hause zu fahren.

      Die wenigen Male, die meine Mutter mitkam, wartete sie an Land und schaute zu, wie wir genüsslich den stillen dunklen See überquerten. Obwohl sie am Meer aufgewachsen ist, fürchtet sie sich vor Gewässern, in denen sie nicht stehen kann.

      In einem der Fotoalben gibt es Bilder aus dem Wellenbad Dolder. Ich bin zwei Jahre alt, meine Mutter fünfunddreissig. Ihr dunkles Haar ist ziemlich kurz geschnitten, wahrscheinlich hatte sie es bereits damals gefärbt. Sie trägt einen modischen, auber­ginefarbenen Bikini, die Hose reicht bis zum Bauchnabel. Ihr Körper ist weder weiss noch gebräunt, weder dick noch dünn.

      Auf einem der Bilder ist auch ihre jüngste Schwester Chava mit ihrer halbjährigen Tochter zu sehen. In Israel war meine Mutter für diese um zwölf Jahre jüngere Schwester in mancher Hinsicht ein Vorbild gewesen. Sie war die Einzige in der Familie, die an der Universität studiert hatte, sie war immer ausge­sucht gekleidet, hatte Stil und höfliche Umgangsformen. Mit dem Wegzug aus Israel zeigte sie sich weltoffen und unkonventionell. Sie nahm aktuelle Strömungen auf, etwa die antiautoritäre Er­­zie­hung, und war mit dem Vegetarismus ihrer Zeit sogar voraus.

      Konservativ wurde sie erst viel später, als sie etwa Mitte sechzig war und ihr Judentum neu entdeckte. Sie begann abschätzig, ja feindlich über «die Araber» zu sprechen und vertrat die Meinung, die besetzten Gebiete gehörten aus religiösen Gründen zu Israel. Am Anfang widersprach ich vehement, was natürlich keinen Sinn hat, und so lasse ich das Thema inzwischen aus oder wechsle es. Mit ihrer neuen Religiosität wurde meine Mutter auch prüde. Sie gab alle ihre Badeanzüge und Bikinis weg und ging nicht mehr mit meinem Vater ins Thermalbad. Zu meiner Er­­leichterung befolgte sie aber weiterhin viele religiöse Vorschrif­ten nicht. Um von der Synagoge nach Hause zu gelangen, nahm sie etwa ohne zu zögern das Tram.

      Inzwischen hat ihre Schamhaftigkeit vielleicht auch damit zu tun, dass sie als Nebenwirkung der Medikamente zugenommen hat. Immer wieder beklagte sie sich in den letzten Jahren über diesen ihr fremd gewordenen Körper, in dem sie sich nicht wohlfühlt.

      Und doch überrascht mich meine Mutter immer wieder. Wie damals, als wir im Sommer vor drei Jahren zusammen in der Stadt unterwegs waren und ich in einem Schaufenster einen ro­­ten Badeanzug sah, der mir gefiel. Wir betraten gemeinsam das Geschäft. Meine Mutter wollte auch einen Badeanzug probieren, denselben wie ich, in Blau mit weissem Rand. In Blau-Weiss, den Farben der israelischen Flagge, sind heute fast alle ihre Kleider und auch die meisten Möbel. Mit je einem Täschchen in der Hand verliessen wir das Geschäft, und meine Mutter sagte: «Ich komme gleich mit dir in die Badi.»

      Ich freute mich. Und während sie auf den Zug wartete, radelte ich nach Zollikon und holte sie dort am Bahnhof ab. Im alten Seebad setzten wir uns auf dem Holzrost in den Schatten. Ich überliess meiner Mutter die Yogamatte, was ein wenig half, aber weich sass sie nicht. Ich hatte vergessen, dass sie fast achtzig Jahre alt war. Vergass auch sie ihr Alter? Sie bemerkte zwar, der Boden sei hart, aber sie beklagte sich nicht, im Gegenteil. Sie strahlte in ihrem blauen Badeanzug mit weissem Rand, der ihr beim Dekolleté ein wenig zu gross war, was sie zu Hause ausbessern wollte. Ich weiss nicht mehr, worüber wir an diesem zeitlosen Nachmittag sprachen. Ich erinnere mich nur an ein goldenes Licht und daran, dass ich zwei Flaschen Bier holte und wir dazu Fischknusperli und Kartoffelsalat assen.

      Spontan für zwei Badeanzüge ein kleines Vermögen auszugeben, wäre in meiner Kindheit nicht der Rede wert gewesen. Meine Mutter kaufte damals ein wie eine Königin, Preise spielten keine Rolle, nur guter Geschmack. Stets war sie stilsicher, ja edel gekleidet. Fast alle ihre Schuhe kaufte sie bei Charles Jourdan oder Löw, auch die Kleider stammten aus den vornehmsten Geschäften der Stadt. Mein Vater fand nichts dabei, wahrscheinlich war er sogar stolz auf seine gut angezogene Frau, obwohl er als Anwalt von eher unkonventionellen Klienten mal mehr, mal weniger oder gar nichts verdiente. Er lebte von der Hand in den Mund. Irgendwie gelang es ihm über viele Jahre, die Miete für unsere Attikawohnung aufzubringen. Der Vermieter, der ihn aus der Jugend kannte, tolerierte mehrmals einen Verzug von zwei, drei Monaten, denn immer wieder standen grössere Honorare aus. Als Kind wusste ich manchmal bis im letzten Moment nicht, ob wir in den Schulferien verreisen würden.

      Im Alltag hingegen war Geld kein Thema. Egal was mein Vater anschaffte, sei es für sich selbst, für mich oder meine Mutter, immer entschied er sich für die beste Qualität. Meine Mutter tat es ihm gleich und ich natürlich auch. Einem grosszügigeren Menschen als meinem Vater bin ich nie begegnet. Mit grösster Selbstverständlichkeit überliess er seiner Frau eine Kreditkarte, auf der sein Titel vermerkt war, sodass die Verkäuferinnen sie mit «Frau Doktor» ansprachen. Bei Weinberg an der Bahnhof­stras­se kaufte sie einen schottischen Kaschmirpullover in vier verschie­denen Farben. Den pinkfarbenen, den einzigen, der über vier Jahrzehnte überlebt hat, trage ich noch immer, mit roten Flicken an den Ellbogen. In einer manischen Phase gab meine Mutter im Kleidergeschäft an einem Nachmittag einmal über dreissigtausend Franken aus. Mein Vater bat um eine Zahlung in Raten.

      Heute lebt meine Mutter mit sehr wenig Geld. Seit vielen Jahren kauft sie ihre Kleider am Stadtrand im Secondhandladen der WIZO, der Women’s International Zionist Organisation. Ihr Einbauschrank im Altersheim ist voll von Deuxpièces und Blusen im Chanelstil, die sie für wenige Franken erstanden hat. Sie beklagt sich nie, kein Geld zu haben, sie sagt: «Ich finde immer etwas Pas­­sendes!»

      *

      Vor vierzehn Jahren erzählte mir meine Mutter zum ersten Mal, ihr Neffe Yair befehle ihr, nicht zu lesen und zu schreiben, sondern sich ums Essen zu kümmern. Sie hatte sich damals widersetzt und sich sogar einen ganzen Karton voll hebräischer Bücher gekauft. Sie kämpfte mit Yair. «Aber dann habe ich einfach keine Kraft mehr gehabt», sagte sie, «ich habe nachgegeben und an­­ge­fangen, Kartoffeln, Karotten und Bohnen zu kochen.»

      Zwei Jahre später starb Yair im Alter von dreissig Jahren bei einem Unfall. Ich habe meinen Cousin, der in Amerika lebte, als erwachsenen Mann nur selten gesehen, aber in meiner Kindheit waren mir meine Tante Chava, ihr Mann und deren drei Kinder nahe gewesen. Die Nachricht von Yairs Tod traf meine Mutter und mich sehr. Es quälten sie auch starke Schuldgefühle, denn als sie sich von ihm bedrängt gefühlt hatte, hatte sie ihn verflucht und ihm sogar den Tod gewünscht.

      Ich versicherte ihr, sein Tod habe damit nichts zu tun, aber es gelang mir nicht, sie zu beruhigen.

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