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Meine Mutter hat während der meisten Zeit ihres Lebens unter einem doppelten Fremdsein gelitten. Nichts entfremdet einen Menschen so sehr von sich und der Welt wie ein schizophrener Schub, in dem die eigene Wahrnehmung und die Realität nicht übereinstimmen. In diesem Sinne war sie schon in Israel fremd.

      Auch beim Lesen von Salman Rushdies Roman Mitternachtskinder, von dessen Ende mich wenige Seiten trennen, dachte ich an sie. Die Hauptfigur verkündet zum Entsetzen ihrer Eltern: In meinem Kopf sprechen Stimmen zu mir. Ich glaube – Ammi, Abboo, ich glaub das wirklich – Erzengel haben angefangen, mit mir zu reden. Rushdie bezeichnet Indien als Land, in dem jede körperliche und geistige Eigentümlichkeit eines Kindes die Familie in tiefe Schande stürzt.

      Ich bin sicher, die Eltern meiner Mutter haben sich in Israel für die Krankheit ihrer Tochter geschämt. Sie war ein offenes Geheimnis, nur meinem Vater sagte niemand ein Wort. Meine Mutter verschwieg ihm, dass sie mehrmals in einer psychiatrischen Klinik gewesen war. Die beiden hatten damals bereits begonnen, einander Briefe zu schreiben, in denen es ums Heira­ten ging.

      *

      Ein Wahnsystem ist in sich logisch, es hat einen realen Hintergrund und sagt etwas aus. Dennoch hat es mich nie sonderlich in­teressiert, was genau die Stimmen zu meiner Mutter sagen. Ich brauchte meine ganze Kraft dafür, meine Mutter in einer an­­deren Realität zu wissen, physisch anwesend, aber nicht er­­reichbar. Im Wahn wird meine warmherzige Mutter eiskalt, in ihrem eigenen Sonnensystem kreist ihr Denken nur um sich. Argumente, Bitten und Wünsche von anderen lässt sie nicht mehr an sich heran. Die Beziehung ist gekappt. Anders als ich kann sich ein Arzt relativ distanziert nach dem Inhalt des «inneren Radioprogramms» erkundigen, die Krankengeschichte meiner Mutter ist voll von solchen nüchternen Einträgen.

      Wenn ich sie in akuten Phasen frage, ob sie Stimmen höre, gibt sie die Wahrheit nicht immer preis. Sie weiss, wie sie mein Drängen, sie möge die Medikamente wieder nehmen, umgehen kann. Aber ich spüre, dass sie mir etwas vormacht. Über die Jahre habe ich ein untrügliches Sensorium für ihren Zustand entwickelt. Bereits in den ersten Sätzen eines Telefongesprächs höre ich, wie es meiner Mutter geht.

      In den letzten Jahren, in denen sie die Medikamente nimmt, klingt ihre Stimme geerdet, zufrieden. Ihr Alltag verläuft in ruhigen Bahnen, sie erzählt mir, wen sie getroffen und was sie ge­­gessen hat. Ihr Gleichmut hat nicht nur mit ihrem neu gefun­denen Glauben zu tun. Die Neuroleptika nehmen ihr Ecken und Kanten, machen sie gefügig. Ich wünschte, sie bräuchte sie nicht zu nehmen.

      Zuerst geht es meiner Mutter ohne Medikamente tatsächlich besser. Sie wirkt lebendiger, klarer. Ich kann verstehen, dass sie ohne diesen Filter leben möchte. Aber das Muster hat sich immer wiederholt: Auf die euphorische, manische Phase – schwungvolle, energische Stimme – folgte die depressive Stimmung, die immer stärker wurde, bis sie nur noch im Bett lag. Ihre Stimme klang dann zittrig, zerbrechlich, und irgendwann nahm sie das Telefon nicht mehr ab.

      Als mein Vater erstmals die Scheidung einreichte, war ich sieben Jahre alt. Bevor ich ins Bett gehen musste, fragte ich ihn: «Kann ich bei dir bleiben?» Immer wieder wollte ich hören, er werde dafür kämpfen, er werde alles dafür tun, was in seiner Macht ste­­he. Die Vorstellung, das Gericht werde das Sorgerecht meiner Mutter zusprechen, kam für mich einem Fall ins Bodenlose gleich. Mein Leben stand auf dem Spiel. Ich muss sehr erleichtert gewesen sein, als mein Vater mir endlich mitteilen konnte, er habe das Sorgerecht erhalten.

      Die andere Frage, die mich beschäftigte, liess sich länger nicht beantworten: «Werde auch ich einmal so krank wie Ima?» Ich stellte sie meinem Vater. Er war der einzige Mensch, mit dem ich über meine Mutter sprach. Nur über uns fegte der Sturm ihres Wahnsinns hinweg, nur wir beide liebten sie. So wichtig mein Grossvater für mich war, so sehr mich die Eltern meines Vaters umsorgten – im Haus meiner Grosseltern wurde meine Mutter kaum erwähnt. Die Devise lautete: Nöd vor em Chind. Fünfzig Jahre zuvor hatte mein Grossvater den Tod seiner ersten Frau und ihres neugeborenen Kindes seiner achtjährigen Tochter zwei Wochen lang verschwiegen und das Mädchen an der Beerdigung seiner Mutter nicht teilnehmen lassen. Diese Unge­heuerlichkeit im Sinne einer verqueren Schonung beschäftigte meine Tante, die Halbschwester meines Vaters, noch achtzig Jahre später.

      Mein Vater war das Gegenteil. Er sprach mit mir fast wie mit einer Erwachsenen; mitunter war er zu ehrlich, etwa wenn er mir antwortete: «Ich glaube und hoffe, dass du nicht krank wirst wie Ima, aber wissen tue ich es nicht; eine Schizophrenie zeigt sich erst bei jungen Erwachsenen.»

      Die Angst begleitete mich weiterhin. Mit einer an Schizophrenie erkrankten Mutter war die Wahrscheinlichkeit einer Er­­krankung für mich zehnmal grösser als für einen anderen Menschen. Als ich siebzehn war, blitzte das Thema jäh auf. Ich hatte im Gymnasium zusammen mit zwei Freundinnen eine Bulimie entwickelt. Die Essstörung war damals nur Fachpersonen be­­kannt, wir drei glaubten, C. habe einen Trick erfunden, der es uns erlaube, Unmengen von fetten Nahrungsmitteln zu verschlingen und dabei sogar abzunehmen.

      Im Schaufenster einer medizinischen Buchhandlung fiel mir auf dem Schulweg eines Tages ein Buch auf mit dem Titel Die heimliche Sucht, unheimlich zu essen. Ich kaufte es und las von krassen Fällen, in denen Frauen über Jahre hinweg im Verborgenen er­­brachen und dabei den Kontakt mit der Aussenwelt mehr oder weniger verloren. Wenn das mein Weg sein soll, dachte ich, dann ist mein Leben genauso hart wie das meiner Mutter. «Da kann ich hier gleich aus dem Fenster springen», sagte ich zu C.

      Das Ganze hatte erst wenige Monate zuvor begonnen. Mir war klar, dass ich Hilfe benötigte. Und wer würde mir helfen, wenn nicht mein Vater? Ich gab ihm das Buch, er las es über Nacht. Das Entsetzen stand ihm am Morgen ins Gesicht geschrieben und wohl auch die Angst. Er blieb dennoch gefasst und meinte, er werde sich nach einem Psychotherapeuten erkundigen. Offenbar erwähnte er seine Sorgen einer mit uns beiden befreundeten Schauspielerin gegenüber, denn er gab mir schon bald den Na­­men eines Mannes, der unserer Freundin geholfen hatte. Auch sie hatte viele Jahre an derselben Essstörung gelitten.

      Dreimal suchte ich seine Praxis auf. Sie lag in einem mir gänzlich unbekannten Stadtteil, ich füllte Fragebögen aus und erzählte von meiner Mutter, mit der ich in dieser Zeit nur wenig Kontakt hatte. Am Ende der dritten Stunde erklärte der Mann, er plane ein verlängertes Wochenende; er werde sich für ein weiteres Treffen demnächst bei mir melden. Drei Tage später eröffnete mir mein Vater, die Frau des Therapeuten hätte ihn angerufen und gesagt, ihr Mann habe sich in der Praxis erschossen. Ich erfuhr, dass mein letzter Besuch bei ihm seine letzte Therapiestunde gewesen war.

      Kurz davor hatte mein Vater an einer Buchvernissage einen Psychoanalytiker kennengelernt. Er rief ihn an, um einen Termin für mich zu vereinbaren. Den Moment, in dem er mir die Tür öffnete, habe ich nicht vergessen: Ich war begeistert, und dieses Mal hatte ich wirklich Glück. Nach rund einem halben Jahr war die Bulimie kein Thema mehr, dafür mein Vater, von dem ich mich dringend ablösen musste.

      Sechs Jahre später hatte ich erstmals eine Stelle und somit eine vage berufliche Zukunft. Seit Neuem hatte ich auch einen Freund. Ich hatte L. im Tangokurs kennengelernt, einen sportli­chen, humorvollen und naturverbundenen jungen Mann, der gerade sein Nachdiplomstudium abschloss. Bald erfuhr ich: L.s Vater war an Schizophrenie erkrankt, seine Mutter hatte ihn und seinen Bruder weitgehend allein aufgezogen. Ich bin mir nicht sicher, ob wir darüber sprachen, aber wir spürten wohl beide, dass es keine gute Idee wäre, zusammen Kinder zu haben. Schon bald erschien auch unsere Verbindung fragwürdig, und unsere Wege gingen auseinander. L. lernte seine heutige Frau kennen, und es ging nicht lange, da hatten sie zwei Kinder.

      Als ich später von K. schwanger werden wollte, verdrängte ich das Risiko, mein Kind könne an einer Schizophrenie erkranken. Ich vertraute auf das Leben.

      *

      Ab zwölf Uhr mittags verbrenne ich mir ohne Sandalen auf dem Sand die Füsse. Die Tage sind hochsommerlich warm, aber kurz. Bereits um sieben Uhr abends, während die orangerote Kugel über dem Horizont in einem Wolkenband versinkt, gehen in den Restaurants die Lichter an. In den Wintermonaten, in denen die Touristen die Strände bevölkern, ist das Stromnetz abends oft überlastet. Auf einen Schlag gehen Lichter, Musikanlagen und Kühlschränke aus. Einheimische und Touristen zünden dann gelassen die bereitgestellten Kerzen an. Ich empfinde in diesen Momenten eine kindliche Freude,

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