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gab es Sanddornsirup von Weleda, Cottage Cheese, Avocado und immer viel Salat. Meine Mutter züchtete in transparenten Kunststoffbehältern Weizen-, Alfalfa- und Sojasprossen, die sie dem Salat beifügte. Mir war das alles suspekt. Die Bierhefe in der Salatsauce oder der Apfelessig, den sie trank und mit dem sie sich die Haare spülte, empfand ich als Ausdruck ihrer Krankheit. Nichts mochte ich lieber als Rindsfilet mit Kräuterbutter, die meine Grossmutter selbst machte, ihren Nudelauflauf und ihre Brätchügeli.

      Je strikter meine Mutter vegetarisch kochte, desto wichtiger wurde für mich Fleisch. Einmal stand ich aus Protest vom Tisch auf und ging zu meinen Grosseltern, bei denen es am Mittag meistens Fleisch gab. Und immer ein Dessert. Als ich einmal weinend nach Hause kam, weil ich mir den Zeigefinger eingeklemmt hatte, wollte meine Mutter die Wunde mit Honig bestreichen. Ich tobte. Ich war verzweifelt. Ich schrie wie am Spiess und verlangte nach normaler Medizin.

      Meine Mutter hatte mich Ariela nennen wollen, mein Vater war gegen einen exotischen Namen gewesen. Das war in meinem Sinne. Nur meine dunklen Augen und Haare verrieten das Fremde. Im Kindergarten fragte mich ein Mann, der mit uns Lieder für eine Schallplatte einstudierte, ob ich aus Italien oder Spanien käme. Ich schüttelte nur den Kopf.

      Ich sprach nicht gerne über meine Mutter. Sie las mir aus den hebräischen Kinderbüchern vor, sie lehrte mich Lieder, die niemand sonst kannte. Abends erzählte sie mir an meinem Bett Geschichten, die sie selbst erfand. Am liebsten hatte ich die Figur der Giveret Sonja Goldstein. Soooanja ist von Russland nach Israel eingewandert, sie fährt mit ihrem Mann, ihrer Tochter oder ihrer Freundin zum Strand und lädt zu Picknicks. Sonja führt ein ganz normales Leben. Meine Mutter imitierte den starken russischen Akzent, was ich sehr lustig fand. Von Sonja konnte ich nicht genug bekommen, sodass meine Mutter die Geschichte über viele Wochen, Monate oder gar Jahre weiterspann. Danach streichelte sie meinen Kopf. Mit geschlossenen Augen fühlte ich ihre Hand, immer wiederkehrend, unendlich. Der Schlaf war nahe, aber ich schlief nicht ein, ich merkte, wenn sie sich aus dem Zimmer schlich. Bevor sie die Tür schloss, machte sie diese mehrmals einen Spaltweit auf, schaute zu mir hin und sagte mit ihrer glanzvollen hellen Stimme: «Kuck!» Mein Vater fand dieses abendliche Ritual übertrieben, zu lang.

      *

      Es ist einfacher, hier in Goa über diese Dinge, über meine Mutter und mich zu schreiben. Vor meinem Fenster höre ich am Nachmittag die rot gekleideten Frauen, die am Ziehbrunnen Wäsche waschen. Sie sprechen kaum Englisch, unsere Begegnungen be­­schränken sich auf ein Lächeln und wenige Wendungen. «How are you?», werde ich gefragt, «cleaning?»

      Gegenüber unterhalten sich die Nachbarn vor ihrem Haus, oft bis spät in die Nacht. Ich kann mich nicht genügend zurückziehen, denn die Fenster lassen sich nicht schliessen. Sogar mit Ohrstöpseln fühle ich mich in den Nächten, in denen die vielen Hunde der Gegend immer wieder lange bellen, ausgeliefert. Zu­­gleich weiss ich: Genau das tut mir gut, ich lerne hier, dass alles ein Ende hat, und sogar schneller als erwartet. Ich übe mich in Geduld und Gelassenheit.

      Beides hat meiner Mutter früher gefehlt. Wenn sie, mein Vater und ich irgendwohin fuhren, reiste die Angst mit, sie könnte mit dem Hotelzimmer, dem Essen, mit irgendetwas nicht zufrieden sein. Und fast immer passte ihr etwas nicht, war etwas nicht so, wie sie es sich vorgestellt hatte. Es fand sich dann kein Weg, keine Lösung, kein Kompromiss. Meine Mutter starrte schweigend vor sich hin, schlug mit dem Kopf gegen eine unsichtbare Wand. Ihre schlechte Laune, die destruktive Wut auf alles und jedermann, verpestete die Luft. Bestrafte sie sich selbst, weil sie sich schuldig fühlte, ihr Land und ihre Familie verlassen zu haben? Den dominanten Mann, der sie als Gegenüber nicht ernst nahm? Beides mag zutreffen, und doch bleibt eine Leerstelle. Die Krankheit lässt sich nicht erklären.

      Mein Vater war verzweifelt. Die Ferien, der Ausflug waren im Eimer. Manchmal fuhr meine Mutter allein zurück, oft brachen wir gemeinsam ab. Wenn meine Mutter in Amerika weilte, bei ihrem Liebhaber in Zürich oder bei ihrer Schwester Chava, reisten mein Vater und ich allein in die Ferien. Dann war ich sicher, war unser Frieden garantiert. Ich mag elf, zwölf Jahre alt gewesen sein, als ich begann, meine Mutter abzulehnen. Ich wünschte mir ein Leben ohne Dramen, ohne laute Streitereien, ohne Kata­strophen. Wenn ich mich daran erinnere, wie mein Vater von meiner Mutter als «d’Ima» sprach, spüre ich meinen Hass auf sie, die beschädigte, verschüttete Liebe zu der Frau, die mein Leben und das meines Vaters zerstörte.

      Am einfachsten lässt sich dies anhand des Brandes be­­schrei­ben. Mein Vater sagte: «Zum Glück gab es diesen Brand, denn das verstehen die Leute, darunter können sie sich etwas vorstellen. Wenn ich sage: Meine Frau hat eine Schizophrenie, hat niemand auch nur eine Ahnung, wovon ich spreche.» Mir geht es heute ähnlich. Auch ich treffe nur sehr selten jemanden, der versteht, was es heisst, eine solche Mutter zu haben.

      Als sie unsere Wohnung anzündete, war ich vier Jahre alt. Meine Mutter war in einem psychotischen Zustand und hörte Stimmen. Es war der Besuchstag im Kindergarten, mein Vater nahm allein daran teil. Um zwölf Uhr fuhren wir mit dem Auto in die Stadt, zum vegetarischen Restaurant Gleich, das für uns eine Art zweites Zuhause war. Von dort fuhren wir zu seinen Eltern. Meine Grossmutter stand in der Haustür und rief, völlig ausser sich: «Beat, du musst sofort nach Hause, deine Wohnung brennt!»

      Ich sehe meinen Vater, wie er die Strasse entlangrennt, zum Waldrand, das kurze Stück Wiese hoch, zum Block, in dem wir wohnten. Das Feuer war bereits gelöscht und meine Mutter in der Klinik. Sie hatte im Wohnzimmer Brennsprit ausgeschüttet und dann angezündet. Über fünfhundert Bücher und Fotoalben verbrannten, sie hatten meinem Vater gehört. In seinem Büro und Schlafzimmer lagen die Akten in Schutt und Asche. Seine und ihre Kleider hatte meine Mutter vorher zerschnitten und in Abfallsäcke gestopft. Mit einer Vase hatte sie auf Vaters massiven Schreibtisch aus Holz geschlagen. Die fingerbreiten Kerben hat mein Vater später mit einer tannengrünen Schreibunterlage zugedeckt. Ich erinnere mich an die verkohlten und angebrannten Bücher im Wohnzimmer, an den stechenden Geruch, der in der Wohnung hing. Mein Zimmer hat meine Mutter verschont.

      Heute ist meine Mutter die Gleichmut in Person. Sie sieht gut aus, wirkt mit ihren noch immer dunkel gefärbten Haaren wesentlich jünger, als sie ist, fast kindlich. Wenn es ihr gut ge­­gangen sei, habe sie ein Licht im Gesicht gehabt, sagte mir ein bekannter israelischer Schriftsteller, der in Jerusalem ihr Freund gewesen war. Das ist heute noch so, und aussergewöhnlich ist auch ihre Offenheit. Die Männer, die in meinem Leben wichtig waren, hat meine Mutter sofort ins Herz geschlossen. Meine Freundinnen mögen sie, manche beneiden mich um ihre liebevolle Art, etwa wenn sie an meinen Geburtstagsfesten ungefragt sämtliche Teller wäscht.

      Kürzlich warteten wir am Zürcher Paradeplatz auf das Tram. Ich stöhnte: «Noch acht Minuten!» Meine Mutter meinte: «Acht Minuten mit dir zu sein, ist für mich nicht schlimm.» Ich um­­armte sie, sagte ihr, wie sehr sie sich verändert hat, wie unglaublich positiv sie geworden ist. «Das ist dank Gottes Hilfe so», antwortete sie. «Ich fühle mich aufgehoben und von ihm beschützt.»

      Während wir am Abend vor meiner Abreise Löcher stopften, bat mich meine Mutter, einen Spruch aus dem Buch der Propheten zu lernen. Ich schrieb ihn in meine Agenda, aber er ist so einfach, dass ich ihn schon im Flugzeug auswendig konnte. Übersetzt lautet er: «Im Namen des Herrn, zu meiner Rechten Michael, zu meiner Linken Gabriel, vor mir Uriel, hinter mir Rafael und auf meinem Kopf der Segen Gottes.» Meine Mutter beschwor mich: «Bitte sag das jeden Tag.»

      Vor ein paar Tagen sprach mich am Russenstrand ein Inder mit einem auffallend langen weissen Bart an. Wir hatten uns zwei-, dreimal beim Sonnenuntergang zugenickt, nun kam er lächelnd auf mich zu und sagte: «Today we have to meet.» Schon nach wenigen Schritten erfuhr ich: Eqbal ist Sikh, seine Eltern stammen aus dem Punjab. Geboren und aufgewachsen ist er in Kenia, wo er auch seine Frau kennengelernt hat, eine Schweizerin, deren Eltern Missionare waren in Afrika. Die beiden haben vier Kinder, mit denen sie in Kenia, in Kanada und in Genf gelebt haben. Im Wallis besitzen sie in einem kleinen Dorf ein Chalet. Am nächsten Tag stellte mir Eqbal am Strand seine bildhübsche Tochter, deren polnischen Mann und das zweijährige Töchterchen vor, seine Frau sollte in zwei Wochen aus Kanada nachkommen.

      Gestern war ich bei Eqbal zum Mittagessen eingeladen. Auf seiner Veranda, die direkt am Fluss aus Meerwasser liegt, der etwa so breit ist wie der Rhein, servierte er ein köstliches, nordindisches Bohnencurry,

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