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Mit dir, Ima. Daniela Kuhn
Читать онлайн.Название Mit dir, Ima
Год выпуска 0
isbn 9783038552222
Автор произведения Daniela Kuhn
Жанр Документальная литература
Издательство Bookwire
Nach der Trauung im Stadthaus Zürich lud meine Mutter ein paar wenige Freunde, meinen Vater und mich in ein chinesisches Restaurant ein. Ich nahm den Mann kaum zur Kenntnis, denn ich wusste, der Spuk würde bald wieder vorbei sein. Mehrmals war meine Mutter einem Liebeswahn verfallen. Mal war es ein amerikanischer Scientologe mit fünf Kindern gewesen, mal ein Zürcher Jude namens Egon, mal Jimmy, ein um sechzehn Jahre jüngerer Amerikaner, oder gar Prinz Charles. Früher oder später wollten diese Männer nichts mehr von ihr wissen.
Und ich sah ihn auch nie wieder, den Herrn Singh, da ich in der kurzen Zeit, in der meine Mutter mit ihm zusammen war, in Jerusalem studierte. Mein Vater, der damals schon seit über zehn Jahren von meiner Mutter geschieden war, machte zuerst gute Miene zum bösen Spiel. Später, als meine Mutter unter der Sexbesessenheit ihres jungen Mannes und dem dominanten Geruch seiner Kochkünste litt, sprach er mit Verachtung vom «Inder». Und es ging dann auch nicht mehr lange, da war das ungleiche Paar wieder geschieden.
Ich sprach nicht nur Eqbal gegenüber nicht von Herrn Singh, ich habe auch sonst noch nie jemandem von ihm erzählt. Und hätte ich Eqbal nicht getroffen, wäre mir die zweite Heirat meiner Mutter kaum in den Sinn gekommen.
Okra, das Gemüse, das Eqbal mir serviert hat, kochte auch meine aus dem Irak stammende Grossmutter. Viele Gerichte und Gewürze der indischen Küche sind in den Vorderen Orient eingeflossen. Beispielsweise Kitchri, ein Gericht aus Reis und Linsen. Meine Grossmutter kochte es mit Zimt und servierte es mit angebratenen Zwiebeln. Ich muss hier auch an sie denken, weil ich täglich einen zuckersüssen Granatapfel esse. Wenn wir in Haifa bei meiner Grossmutter zu Besuch waren, setzte sie sich zu mir an den Tisch und schälte mir mit ihren von der lebenslangen Küchenarbeit muskulösen und von der Sonne gebräunten Fingern einen Granatapfel. Ausser den Händen war nur ihr Gesicht gebräunt. Der Rest ihres Körpers war fast weiss, kam nie mit der Sonne in Berührung.
Seit sechs Wochen bin ich in Goa. Fast so lange ist es her, seit ich meine Mutter auf Skype gesprochen habe. «Wir werden von nun an jeden Tag miteinander sprechen», hatte sie gesagt, und ich hatte geantwortet: «Ja, oder zumindest jeden dritten.»
Es kam anders. Am Tag unseres nächsten Skype-Termins schrieb mir ihr Freund Ben per Mail, er sei krank, meine Mutter könne deshalb nicht mit mir sprechen. Allein kommt sie mit dem Gerät offenbar noch immer nicht klar. Ich hätte es ihr viel früher kaufen und mit ihr üben sollen, das war mein Fehler. Als ich ihr das Gerät am Vortag meiner Reise überreichte und ihr zeigte, wie sie Skype öffnet, dachte ich, Ben oder eine Pflegerin im Altersheim, irgendjemand werde mit ihr die zwei, drei Schritte üben, die sie beherrschen muss, um mit mir zu sprechen. Das erste Gespräch sollte leider das letzte bleiben. Zuerst war Ben während vier Wochen krank und jetzt, da er wieder gesund ist, hat er vergessen, wie er das Gerät bedienen muss.
Seit meiner Kindheit sind wir zum ersten Mal voneinander abgeschnitten, nicht im regelmässigen telefonischen Kontakt. Für meine Mutter, so stelle ich mir vor, ist die Funkstille schlimmer als für mich. Umso weniger verstehe ich, weshalb sie nicht jemanden finden kann, der ihr zeigt, wie Skype funktioniert. Die Abwesenheit ihrer Stimme kommt mir wie ein kleiner Tod vor, ein Vorgeschmack auf mein Leben ohne sie.
Gestern habe ich sie auf dem Festnetz angerufen. Alles sei in Ordnung, sagte sie, ausser dem Gerät. «Es funktioniert nicht, wir haben alles versucht!»
*
Nach Mitternacht beginnen die herrenlosen Hunde zu jaulen und zu bellen. Mal sind sie weiter weg, mal habe ich das Gefühl, einer stehe unmittelbar vor meiner Tür. Kurz nach vier Uhr kräht ein Hahn, die ersten Krähen beginnen zu krächzen. Ich habe mich inzwischen daran gewöhnt, mehrmals aufzuwachen. Obwohl ich müde bin, dauert es manchmal lange, bis es mir wieder gelingt einzuschlafen. Zugleich habe ich die Schönheit dieser Stunden entdeckt, in denen ich wach liege, es irgendwann wieder ruhig wird und so etwas wie Stille in mein Zimmer und in den Garten mit den hohen Kokospalmen einkehrt. Oft erinnere ich mich noch an einen Traum. Heute Nacht habe ich gedacht: Den muss ich mir merken!
Aus einem Fenster, das sich im Erdgeschoss befindet, sehe ich auf einen Strand. Meine Mutter geht auf das Wasser zu. Ich bin erstaunt, da sie Angst hat vor dem Meer. Als sie sich in die ans Ufer schlagenden Wellen setzt, denke ich: Sie spinnt mal wieder. Doch plötzlich spüre ich meine starke Liebe zu ihr, denn ich sehe, wie sie absichtlich immer tiefer ins Wasser gleitet. Sie will sich offenbar das Leben nehmen. Innert Sekunden schätze ich ab, ob ich den Sprung aus dem Fenster schaffe. Ich entschliesse mich, hinauszueilen und sie zu retten. Dass mir das gelingen wird, steht ausser Frage.
Als ich einundzwanzig Jahre alt war, hat meine Mutter versucht, sich das Leben zu nehmen. Sie wohnte damals in einer Einzimmerwohnung, wenige Schritte von der Wohnung entfernt, die sie Jahre zuvor angezündet hatte, in der ich aufgewachsen war und wo mein Vater noch immer lebte. Ich war seit ein paar Wochen auf Kreta, zog mit einem Norweger von Dorf zu Dorf. Im goldenen Licht eines späten Nachmittags wählte ich von einem öffentlichen Telefon am Strassenrand die Nummer meiner Mutter. Ich liess es lange läuten, bis sie abnahm. Sie hauchte etwas ins Telefon, als hätte ich sie geweckt. Mir war klar, dass etwas nicht stimmte. «Ich kann nicht sprechen», flüsterte sie, «ich habe alle meine Medikamente geschluckt, ich will sterben.» Ich hatte Angst und war zugleich gefasst. Mein Vater war in Spanien, und so rief ich eine befreundete Ärztin an, die den Notfallpsychiater und die Sanität kommen liess. Es war bereits dunkel, als mir die Freundin berichtete, man habe meiner Mutter den Magen ausgepumpt, sie sei jetzt in der Klinik.
Es war ihre einunddreissigste Einweisung. Zurück in der Schweiz erfuhr ich, dass die achthundert Milligramm Leponex, die sie eingenommen hatte, nicht tödlich gewesen wären. Aber seither sitzt mir die Angst, dass sie sich das Leben nehmen könnte, in den Knochen. Als Kind und Jugendliche hatte ich oft gedacht: Am besten wäre es, sie würde sterben. Dann wäre unser Leben ruhig und normal, mein Leben und das meines Vaters.
Viel später hörte ich im Radio einen Psychiater sagen, die fehlende Krankheitseinsicht von Menschen mit einer Schizophrenie sei ein vitaler Schutz. Patienten, die ihre Krankheit anerkennen, würden sich sehr oft das Leben nehmen. Die immer wiederkehrenden Schübe haben das Leben meiner Mutter geprägt. Geprägt, nicht zerstört. Vielleicht weil sie die Krankheit negiert. «Ich bin krank» – noch nie hat sie diese Worte ausgesprochen. Sie sagt vielmehr, sie leide unter Heimweh, sie sei «heimwehkrank». Dass ich das stigmatisierende Wort «Schizophrenie» hier nenne, möchte sie nicht. Sie fürchtet, wegen dieses negativ konnotierten Begriffs würden die Leser schlecht von ihr denken. «Du hoffst, dein Buch werde dazu beitragen, dass man offen darüber sprechen kann», sagte sie mir. «Du hast einen offenen Horizont, aber die meisten Menschen sind nicht wie du. Du meinst, du könnest die Welt ändern, aber die Welt ist, wie sie ist.»
Ihre Befürchtungen sind sehr verständlich. Wir haben uns deshalb darauf geeinigt, dass meine Mutter auf diesen Seiten Jehudit heissen wird. Sie hat den Namen ausgewählt und dazu bemerkt, er passe am besten zu ihr. Meine Mutter freut sich aber auch über mein Vorhaben, es erfüllt sie mit Stolz.
In ihren Büchern schreibt die in England und in den USA aufgewachsene Autorin Jhumpa Lahiri über ausgewanderte Bengalen. Als ich vor ein paar Wochen ihren Roman Der Namensvetter las, musste ich an meine Mutter denken. Die Inderin Ashima, die in einer kleinen Universitätsstadt in der Nähe von Boston lebt, bezeichnet darin ihr Leben als Ausländerin als eine Art lebenslange Schwangerschaft, als ein ewiges Warten, eine dauernde Last, ein ständiges Unwohlsein. […] Es ist eine permanente Verantwortung, ein Zwischenspiel im einst normalen Leben, bis man merkt, dass das Leben davor gar nicht mehr existiert, dass etwas Kompliziertes,