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Bruder findet Lienhard keine versöhnlichen Worte dieser Art.

      Zukunftsweisend für Heinrich Lienhard waren Erlebnisse wie an jenem Abend, als er von der Feldarbeit nach Hause kam und der grosse Bruder ihn aufforderte, ihm zu helfen, einen grossen Stein wegzuwälzen. Heinrich antwortete ihm, dass er zuerst kurz ins Haus wolle, ihm danach aber helfen werde. Obwohl er sich beeilte, wurde er, als er aus dem Haus trat, von Peter schroff abgewiesen, da diesem inzwischen der jüngere Bruder Kaspar geholfen hatte. Beim Abendessen beklagte sich Peter über Heinrichs mangelnde Hilfsbereitschaft, worauf ein heftiger Streit entbrannte: «Ich antwortete, dass ich ihm doch habe helfen wollen, und erzählte, warum ich nicht sogleich helfen konnte, allein mein Bruder sagte, dass ich lüge, worüber ich sagte, dass er lüge, und nicht ich. Die nächste Antwort war ein Schlag von ihm auf mein Gesicht, welchen ich erwiderte, allein da er natürlich viel stärker war als ich, wurde ich von ihm erfasst und auf die Stubetiele geschmissen. Meine Schwester hörte ich sagen: ‹Das ist Recht!›, meine Mutter mahnte zur Vernunft, aber mein Vater nahm mich nichts weniger als sanft und schmiess mich vor die Hausthüre hinaus! Das war die Behandlung, die mir zu Theil wurde, die Gerechtigkeit, die mir wiederfuhr – weil ich das Herz hatte, eine freche Lüge von meinem Bruder als solche zurück zu weisen und einen Faustschlag mit einem Faustschlag, wenn auch schwächern, zurück zu geben.

      Verzweiflung hatte sich meiner nahezu bemächtigt, und ich weiss nicht, was ich gethan haben würde, wenn ich meine liebe, unvergessliche Mutter nicht gehört hätte, wie sie zu Vernunft mahnte, zum unparteiischen Untersuchen der Sache. Ich begab mich in das Gebüsch, von da in das obere, dem Vater gehörende Haus, mich fortwährend mit Gedancken der schlimmsten Art beschäftigend. Bald wollte ich an die Lint eilen, um meinem misserablen Dasein ein Ende zu machen, oder ich wollte doch wenigstens fortlaufen, weit, weit hinaus in die fremde Welt, zu fremden, unbekannten Menschen – schlimmer glaubte ich es nirgends zu bekommen. Längere Zeit wandelte ich umher, aufgeregt und bis ins Innerste gekränkt; dann und wann sah ich empor zu dem herrlichen, vom Monde und den Millionen von Sternen beleuchteten Himmel: Wie herrlich war die Pracht und die Ruhe der Nathur, wie sehr verschieden von meinen Empfindungen!»44 Als seine Mutter ihn endlich fand, erklärte er ihr, dass er die ungerechte Behandlung nicht mehr länger ertragen könne und deshalb fort wolle von zu Hause. «Natürlich beredete die Mutter mich, wieder ins Haus zu kommen, und ihrem mahnenden, vernünftigen Zureden schreibe ich es zu, dass ich mich jene Nacht nicht vom elterlichen Hause trennte.»

      Lienhard harrte in jenen Jahren nur seiner Mutter zuliebe auf dem Ussbühl aus. Sie war kränklich, und er wusste, dass auch sie unter der Art des Vaters litt. Deshalb wollte er ihr jetzt, da er bald erwachsen war, zur Seite stehen, wie sie es in seiner Kindheit so oft für ihn getan hatte. «Unsere Mutter besass ein viel klaarerer Verstand [und] richtigeres Begriffsvermögen», urteilt er rückblickend, «und ihr Einfluss und Ansicht waren ein Segen für uns Alle. Leider wollte der Vater ihren überlegenen Ansichten sehr oft nicht beipflichten, indem er sich dadurch seiner vermeinten männlichen Würde abbruch zu thun glaubte. Dadurch geschah es, dass seine Unternehmen manchmahl verkehrt ausfielen, wofür er aber doch lieber nicht die Schuld auf sich nehmen wollte, wenn ihm von der Mutter seine Missgriffe gezeigt wurden. Bei solchen Gelegenheiten gab es dann einigen Zwist zwischen den Eltern, und der Vater konnte sogar Ungerecht und Grob gegen die Mutter werden. Nahmen wir Kinder mehr die Partei mit der Mutter, welches Grösstentheils geschah, weil wir sie auch am meisten im Rechte glaubten, so erbitterte es den Vater dann nur noch mehr, und er wollte selten Gründe annehmen oder hören, bis sein Zorn nachgelassen hatte.»45

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      Heinrich Lienhards zehn Jahre älterer Bruder Peter (*1812) mit seiner dritten Frau Christina Blumer (*1831) von Nidfurn. Die drei Kinder Christina, Dorothea, und Caspar stammen aus seiner zweiter Ehe mit Dorothea Ackermann von Kerenzen (1821–1848). Peter Lienhard wanderte in den 1850er-Jahren mit seiner Familie nach Brasilien aus.

      Heinrich war bereits achtzehn oder neunzehn Jahre alt, als er es einmal wagte, dem Vater energisch ins Gewissen zu reden. Vorausgegangen war ein heftiger Wortwechsel zwischen den Eltern, in dessen Verlauf der Vater die Mutter mit beleidigenden und kränkenden Ausdrücken beschimpft hatte: «Ich frug den Vater, ob er mit seinen ungerechten und unverdienten Zänkereien mit der Mutter uns ein Beispiel geben wolle, wie sich gute Eltern miteinander vertragen sollen. Er bete viel und alle Tage und wolle christlich Handeln, ich könne aber in seinen Zänkereien gegen die Mutter wenig christliches Betragen erblicken. Oder ob er vielleicht lieber hätte, dass die Mutter sterben sollte? Wenn das der Fall sei, so glaube ich, dass er sein Ziel allerdings leicht erreichen werde, denn es habe ihm ja früher schon einmahl ein Arzt gesagt, dass, wenn er seine Frau bald Tod sehen wolle, er sie nur recht zu ärgern brauche, so werde er bald am Ziel sein.»46 Zu seinem Erstaunen hörte ihm der Vater ganz ruhig zu, und seine Worte sollten ihre Wirkung nicht verfehlen: «Ich freue mich jetzt noch, mir sagen zu dürfen, dass mein Vater nachher niemahls mehr Hart und Beleidigend gegen die Mutter war, ja er erzählte mir sogar nach der Mutter Tod einmahl, dass er meine Mahnung sehr zu herzen genommen und beschlossen habe, in Zukunft die Mutter besser zu behandeln. Und er hatte es treulich gehalten.»47

      An einem Abend im Dezember 1841 erschien ein Knecht von Barbaras Schwiegervater auf dem Ussbühl und berichtete, Barbara sei recht krank und wünsche sich, dass die Mutter nach Schänis käme.48 Vergeblich versuchten der Vater und die Söhne, die Mutter davon abzuhalten; schon am folgenden Tag begab sie sich zu Barbara, wo sie mehrere Wochen blieb und ihre Tochter gesund pflegte. Nach ihrer Rückkehr auf den Ussbühl geschah, was alle befürchtet hatten: Die Mutter erkrankte ebenfalls am sogenannten Nervenfieber49. Heinrich pflegte sie hingebungsvoll und war untröstlich, mit ansehen zu müssen, wie sie Schmerzen litt und mit jedem Tag schwächer wurde. Auf die drängenden Fragen des Vaters und der Kinder eröffnete ihnen der Arzt schliesslich, dass keine Hoffnung mehr bestehe. Gegen Ende delirierte die Mutter oft, und die Phasen, in denen sie ansprechbar war, wurden immer seltener. Die Schilderung dieser letzten Wochen am Bett der schwer kranken Mutter ist ein sehr persönlicher Abschnitt des Manuskripts; sie bringt die Liebe und grosse Dankbarkeit zum Ausdruck, die Lienhard für die Mutter empfand und sein Leben lang bewahrte.

      Am 30. Januar 1842, einem Sonntag, blieb Heinrich, als die Besucher sich für kurze Zeit aus dem Krankenzimmer entfernten, allein bei der Mutter zurück und fragte sie: «‹Liebe Mutter, kennt Ihr mich noch?› Sie öffnete ihre Augen, blickte mich freundlich an und antwortete: ‹Ja, Du bist ja mein lieber Heinrich!› Ich konnte kaum Worte hervorbringen, doch wollte ich sie noch Einiges fragen; aber es waren ihre letzten lieben Worte gewesen, und sie war wieder in Schlummer verfallen, und ihr Puls gieng besonders schnell und laut.»50 Nachdem sich die Familie wieder um das Bett versammelt hatte, starb die Mutter in Heinrichs Armen. «Ich konnte meiner Gefühle kaum Herr werden», beschreibt er diesen Moment, «denn mir war es, als ob sich auch für mich auf dieser Welt alles aufgelöst habe und ich nun nicht mehr existiren könne, und ich glaube, hätte ich auf mein Wort ihr in die Ewigkeit folgen können, ich würde es gethan haben. Nachdem meine erste Aufregung etwas nachgelassen und ich meine Fassung einigermassen wieder erlangt hatte, da war mein Beschluss gefasst: ‹Ich reise nach Amerika›, sagte ich mir, ja ich sagte es offen!»51

      Obwohl seine Entscheidung nun feststand, brachte er es nicht übers Herz, den trauernden Vater gegen dessen Willen zu verlassen. Kaspar Lienhard beschloss nach dem Tod seiner Frau, mit dem mütterlichen Erbe sein gesamtes Land den Kindern zu überlassen. Sie teilten es in vier möglichst gleich grosse Teile auf und verlosten diese untereinander. Am begehrtesten war das sogenannte «Heimatgut» mit dem Elternhaus, das lebenslanges Wohnrecht für den Vater und für die unverheirateten Söhne einschloss. Das Los entschied für Peter, und für Heinrich war klar, dass er von seinem Wohnrecht keinen Gebrauch machen würde. Er wollte deshalb die Zeit, bis der Vater seinen Reiseplänen zustimmen würde, für eine Berufslehre nutzen, setzte vorher aber noch ein deutliches Zeichen, indem er im Sommer das ihm zugefallene Land an einer Auktion verkaufte. Dabei spielte ihm der ältere Bruder einen letzten Streich: Obwohl der Vater Peter davor gewarnt hatte, bot dieser mit,52 worauf sich der am Kauf interessierte Nachbar zurückzog. Später liess dieser Heinrich wissen, dass er ihm zweihundert Gulden mehr bezahlt hätte als der Bruder.

      Noch

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