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dass ich an Ostern immer die gleichen Filme über Jesus und sein Leben vorgesetzt bekam, die mich ängstigten, aber auch seltsam faszinierten. Das Resultat war, dass mich nach dem Ansehen der Filme immer große Ängste plagten. Darum musste ich im Zimmer meiner Schwester schlafen und wurde zusätzlich mit einem Filmverbot für die Zeit während der Ostertage belegt. Klar: Das Spiel sollte sich zu jedem Osterfest genau gleich wiederholen. Das war so sicher wie das Amen in der Kirche.

      Was ich mit dieser Geschichte andeuten möchte: In meinem Elternhaus gab es Regeln und moralische Werte, die uns vermittelt wurden, und unser Verhalten hatte dem Konsens der Gemeinde zu entsprechen. Doch es gab praktisch immer einen Spielraum, der kleine Abweichungen erlaubte. So ließ ich liebend gerne die Schülermesse am Dienstagmorgen sausen, auch wenn es danach alle im Dorf erfuhren. Ausschlafen war eindeutig besser angesagt als morgens um sieben aufzustehen und in die Kirche zu trotten.

      Ich erinnere mich nicht an große Standpauken oder an körperliche Züchtigungen im Elternhaus. Die Erwartungshaltung meiner Eltern war auch nicht übertrieben. Dafür bin ich meiner Mutter und meinem Vater noch heute dankbar. Im Großen und Ganzen waren beide tolerant und großzügig. Der Kampf ums tägliche Brot ließ es ihnen oft an Zeit und Energie mangeln, um all unsere Schritte ständig zu überwachen. Die Rollenverteilung war klassisch und jener Zeit geschuldet. Meine Mutter wirkte als Hausfrau, mein Vater brachte das Geld nach Hause. Wir waren stets ordentlich gekleidet und gut genährt. Da sich die Eltern nicht jede Minute um uns kümmern konnten, kamen wir schon früh in den Genuss einiger Freiheiten. Auch solche, von denen manche Kinder im Jahr 2020 nur träumen können. So fiel es auch nicht immer auf, dass ich ein besonders lebhaftes und quirliges Kind war.

      Gut bürgerlich

      Mein Vater war 1972 mit dem Aufbau seiner Schreinerei beschäftigt. Die ersten Jahre erwiesen sich dabei als besonders beschwerlich. Wie bei vielen selbstständigen Handwerkern üblich, lauerte immer die Gefahr von Auftragsflauten, was konkret bedeutete, dass man die guten Zeiten für Rücklagen nutzen musste, um die mageren Jahre überstehen zu können.

      Die schweren Zeiten kannte er aus seiner eigenen Kindheit nur zu gut: Mein Großvater väterlicherseits verstarb früh als mein Vater gerade mal 8 war und die Mutter stand mit den vier Kindern, ein fünftes war unterwegs, alleine da. In jenen Jahren gab es keine Witwenrenten oder anderweitige soziale Auffangnetze, und man kann es aus heutiger Sicht als Wunder betrachten, dass die Kinder nicht verdingt werden mussten. Das war, wie ich später erfuhr, zu weiten Teilen der Dorfgemeinschaft zu verdanken, die der Familie in jeder Hinsicht zur Seite stand. Es hatte aber auch mit der Anpassungsfähigkeit meiner Großmutter zu tun, die mit den Kindern in die Hauswartswohnung in der Schule zog und dort nach dem Rechten sah. Das Geld reichte natürlich bei Weitem nicht. So kam es, dass die sechsköpfige Familie am Sonntagmorgen in den Wald pilgerte, Beeren und Brennholz sammelte und danach schwer bepackt nach Hause zurückkehrte, um rechtzeitig in die nachmittägliche Christenlehre zu gelangen, die im Nachbardorf stattfand.

      Mein Vater arbeitete wohl auch deshalb so hart, weil er sich an die eigene beschwerliche Kindheit erinnerte. Er wollte, dass es uns Familienmitgliedern an nichts fehlte. Ich erinnere mich ausschließlich an tolle Geburtstagsfeste und festlichen Weihnachtsfeiern. Wir unternahmen viele Ausflüge, besaßen einen Fernseher und es reichte sogar für ein Auto. Die existenziellen Nöte, die sich mit der Ölkrise Mitte der 1970er-Jahre verschärften, gingen an den Eltern nicht spurlos vorbei und führten innerhalb der Familie zu Spannungen. Wie so oft ging es um das liebe Geld. Mein Vater kritisierte das Haushaltsgeld, das seiner Meinung nach zu hoch war, meine Mutter hielt ihm dafür den «teuren» Schießsport vor. Das alles sorgte für enorme Spannungen, die ich als Kind mit ADHS kaum aushalten konnte. Trotz allem waren Mutter und Vater wild entschlossen, sich einen Traum zu verwirklichen: Sie wollten sich und der Familie ein Haus bauen.

      Bis es soweit war, blieben wir in unserem Dorf, wo wir bestens integriert lebten. Meine Mutter hatte Freundinnen, mit denen sie sich regelmäßig traf, und auch mein Vater verfügte über ein gut funktionierendes soziales Umfeld. Ich besuchte während dieser Zeit die erste Klasse. Ziemlich schnell entwickelte ich mich zum Klassenclown, redete viel und störte den Unterricht nachhaltig. Mein Tischnachbar war auch ein bevorzugter Gesprächspartner während der Schulstunde. Zur Strafe musste ich mich immer wieder in die Ecke stellen. Ich schämte mich zwar für mein Label «Klassenclown», aber der Rest der Klasse nahm mir meine Ausreißer nicht übel, denn ich war trotz oder gerade deswegen ihr Liebling. Ich konnte mir das allerdings nie recht erklären, dass man jemanden gernhaben konnte, der sich schämen soll. Aber offenbar fanden die anderen Kinder mein Benehmen belustigend und bereichernd. Solche Vorfälle und die Gründe dafür wurden zwar regelmäßig thematisiert, mein positives Selbstbild, das mir Eltern und Lehrer vermittelten, wurde davon allerdings nicht beeinträchtigt.

      In unserer Klasse gab es sieben Schüler, vier Knaben und drei Mädchen. Obwohl unsere Lehrerin noch zwei andere Klassen betreuen musste, hatte sie genügend Zeit und Energiereserven zur Verfügung, um sich um jedes einzelne Kind persönlich zu kümmern. Der Unterricht verlief relativ altmodisch. Es waren die 1970er-Jahre. So etwas wie Frühförderung gab es nicht, und ich erinnere mich auch nicht an Nachhilfeunterricht. Neue Lehrmittel oder moderne Ansätze waren de facto inexistent.

      Die Schulstunden gingen für meinen Geschmack recht gemütlich und gemächlich vonstatten. Meinen inneren Turbo konnte ich ja durch permanentes Schwatzen beruhigen. All diese Voraussetzungen schienen mir jedenfalls zu entsprechen, denn meine schulischen Leistungen waren gut. Die Freizeitgestaltung hatte auch nur ein einziges Kriterium zu erfüllen: Sie sollte Spaß machen.

      Wälder und Wiesen

      Wegen meinem unstillbaren Spaß an der Freude durfte ich viele Stunden hauptsächlich im Freien verbringen. Die nahe gelegenen Wälder, die endlosen Felder und Wiesen waren für mich riesige Spielplätze – sowohl im Frühling, Sommer, Herbst wie auch im Winter. Es gab keine Jahreszeit, in der ich nicht einen oder mehrere Tage draußen verbrachte – ohne dabei eine Leistung erbringen zu müssen, ohne Verhaltensregeln und ohne zeitliche Begrenzung. Mein Bewegungsdrang, meine Abenteuerlust und meine Wildheit fanden in der freien Natur ihre Erfüllung.

      Erwachsene haben die Tendenz, nonkonformes Verhalten zu qualifizieren und nicht selten auch zu sanktionieren. Wenn Kinder auf sich allein gestellt sind, tragen Kinder ihren Ungestüm untereinander aus, und so war es auch bei uns. Streitigkeiten und Raufereien fanden ohne Einmischung der Erwachsenen statt und endeten stets in Gelächter und innigen Umarmungen. In Vereinen oder in anderen strukturierten Freizeitaktivitäten fand ich mich hingegen nicht zurecht. Die Blockflöte warf ich nach zwei Musikstunden in die Ecke. Ich war auch ein begeisterter, aber schlechter Fußballspieler. Bereits nach einem Probetraining im Club war meine Karriere als Diego Maradona vorbei. Das Training nach Regeln hatte mir die Freude am Spiel gründlich verdorben. Ich empfand unseren Trainer definitiv als zu streng, und meine individuelle Freiheit wurde dadurch beschränkt. Gleichzeitig spürte ich, dass mein außergewöhnliches Verhalten nicht in ein enges Korsett passte. Ein Streit mit dem Trainer war also quasi vorprogrammiert. Heute kann ich sagen, dass ich schwierigen Situationen, die viel Ausdauer abverlangten, unbewusst aus dem Weg ging.

      Fliegende Backsteine

      Ich hatte großes Glück mit meinen Eltern. Sie ließen mich mehrheitlich machen, was ich wollte, und sie trauten mir auch einiges zu. Keine Frage: Verglichen mit meinen lebhaften Kameraden war ich mit Sicherheit das turbulenteste, unruhigste und aktivste Kind von allen.

      Einige meiner «Aktionen» gingen weit über die bekannten Bubenstreiche hinaus: Einmal besuchte ich mit Freunden eine Baustelle in unserer Straße. Dort entstand gerade ein Zweifamilienhaus. Der erste Stock war bereits fertiggestellt und wir gelangten ungehindert in das Gebäude. Ein Berg nigelnagelneuer Backsteine lag vor uns wie auf dem Präsentierteller. Wer die Initialzündung hatte, einen Backstein in die Hand zu nehmen und diesen aus dem oberen Stock zu werfen, weiß ich nicht mehr so genau. Doch nach dem ersten Steinwurf ergab sich eine unheilige Dynamik bei jedem Einzelnen von uns. Nach einer halben Stunde lagen auch die Steine aus den oberen Stockwerken zertrümmert im Garten. Das Resultat dieser Aktion war nicht nur ein Schaden von mehreren tausend Franken. Es folgten

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