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Warum zum Teufel Ritalin?. Stephan Rey
Читать онлайн.Название Warum zum Teufel Ritalin?
Год выпуска 0
isbn 9783906287935
Автор произведения Stephan Rey
Жанр Сделай Сам
Издательство Bookwire
Und doch glaube ich, dass der bekannte Schweizer Kinderarzt Remo Largo auch recht hat, wenn er in Bezug auf Verhaltensauffälligkeiten Folgendes sagt: «Nicht die Kinder sind das Problem, sondern die Erwachsenen, die die Umgebung gestalten.» Aufgrund meiner eigenen Biografie weiß ich nur zu gut, wie verschiedenartig sich AD(H)S äußern kann und welchen Beitrag die Umwelt unter Umständen leistet.
Die ersten Jahre meines Lebens hatte ich Glück: Mit toleranten Erwachsenen und wenigen Regeln, die meinen Bewegungsdrang und mein unkonventionelles Verhalten einschränkten. Später erlebte ich leider das pure Gegenteil, und das hatte Konsequenzen für mein Leben. Wenn das Umfeld mit Überforderung reagiert und wenn in gleichem Maße Vorurteile vorhanden sind, die oft auf mangelnder Information beruhen, kann der Alltag für ein Kind mit AD(H)S zur wahren Belastung werden.
Im weiteren Verlauf meines nicht einfachen Lebens wurde ich schließlich mit dem Thema Ritalin konfrontiert. Nach einem fünfjährigen Prozess, der mit unzähligen Versuchen gespickt war, meine innere Unruhe und das Chaos in meinem Kopf zu bewältigen, war ich dazu bereit, dem umstrittenen Medikament eine Chance zu geben, und ich entschied mich für die Einnahme von Ritalin. Das Resultat ist für mich positiv, um nicht zu sagen: Es war überwältigend. Seit einiger Zeit bin ich gut eingestellt mit dem Medikament und mein Buchprojekt konnte dadurch Kapitel um Kapitel erweitert werden. Manche meiner Überlegungen mögen für Leserinnen und Leser ketzerisch erscheinen, andererseits kann ich als Betroffener laut aussprechen, was sich andere vielleicht nicht getrauen: Warum sollte ich verschweigen müssen, dass ein Medikament meine Lebensqualität signifikant steigert, während die Medikation mit anderen Präparaten wie z. B. Temesta, Xanax, Stilnox u. a. weit mehr Risiken birgt und die Mittel noch dazu abhängig machen? Anders gefragt: Warum ist Ritalin im Zusammenhang mit AD(H)S ein Tabuthema und warum sind es Benzodiazepine und Schlafmedikamente oft nicht?
Ritalin fällt in die Kategorie der Betäubungsmittel. Das ist aus meiner Sicht jedoch nicht der eigentliche Grund, warum es immer wieder verteufelt wird. Die Antwort ist simpel: Die wenigsten Menschen wissen, wie Ritalin bei Menschen mit AD(H)S wirkt und welche Nebenwirkungen es dann tatsächlich hat. Die Empörung rund um Ritalin ist laut und schrill. Während Nebenwirkungen in der Schulmedizin mehrheitlich ignoriert werden, muss die Psychiatrie und Neuropsychiatrie immer noch gegen enorme Vorurteile ankämpfen, und das gilt hier natürlich auch für die Medikamente, die eingesetzt werden.
Die Diskussion sollte sachlich und nicht ideologisch geführt werden. Natürlich hat jedes Medikament eine Wirkung und eine Nebenwirkung. Wirksamkeit und Nutzen müssen immer wieder aufs Neue überprüft werden. Verschreibungspflichtige Arzneimittel dürfen zudem niemals ohne Facharzt und eine vorhergehende Anamnese verordnet werden. Eine seriöse Behandlung von AD(H)S und möglicher Folgeerkrankungen schließt immer mehrere Therapiebereiche mit ein. Dazu gehören Ernährung, Bewegung, die Komplementärmedizin oder die Agogik. All diese Maßnahmen können eine Linderung bewirken und sie tragen auch dazu bei, dass die Medikation mit Ritalin die beste Wirkung entfalten kann.
In meinem Fall half mir das Medikament dabei, dass ich einerseits mehr am Leben teilnehmen und andererseits den Moment besser genießen kann. Ich bin heute mit mir selbst im Reinen, agiere im Gegensatz zu früher überlegt und bin innerlich ausgeglichen und ruhig. Und das ist ein großer Gewinn für mich, ein Zustand, den ich kaum in Worte fassen kann. Ich erhebe nicht den Anspruch, dass meine Erfahrungen für alle Gültigkeit haben. Und doch möchte ich nicht schweigen müssen.
Zusammenfassend kann ich sagen: Nach all den Jahren, in denen sich meine Hyperaktivität negativ auf meine Lebensqualität ausgewirkt hat, ist mein Leben mit Ritalin heute wie ein Geschenk, das ich etwas verspätet ausgepackt habe. Das klingt jetzt für einige vielleicht so, als hätte ich einen Werbevertrag mit einem bekannten Pharmakonzern. Ich kann aber mit gutem Gewissen behaupten, dass dem nicht der Fall ist und sich für mich auch keine anderen finanziellen Quellen erschlossen haben, um dieses Buch zu schreiben. Ich beschreibe lediglich die Erlebnisse eines Menschen – meine Erlebnisse – mit ADHS, wie ich mit (aber nicht nur) Ritalin einen Weg gefunden habe, mein Leben so zu leben, wie es für viele von Geburt an natürlich und selbstverständlich ist.
Stephan Rey, im Sommer 2020
Dr. med. univ. Ilona Maier erläutert das Kapitel
Fakten zu ADHS:
Sind Menschen mit ADS und ADHS kreativer?
Der Begriff «Kreativität» stammt vom lateinischen Wort «creare» ab, was in die deutsche Sprache übersetzt «schaffen», «gebären» oder «erzeugen» bedeutet.
Dahinter steht auch die entsprechende Motivation, bezogen auf den Bereich, in dem die Kreativität ausgelebt wird. Das kann in der Kunst sein, doch ist es natürlich in unzähligen anderen Bereichen möglich.
Kreativität wird nach Joy Paul Guilford (1897–1987), amerikanischer Psychologe und Intelligenzforscher, durch grundlegende psychische Merkmale erfasst: Problemsensitivität, d. h. im Erkennen, wo ein Problem besteht, die Fähigkeit, in kurzer Zeit viele Ideen hervorzubringen, Flexibilität, das Neuverwenden bekannter Objekte, Anpassen der Ideen an die Realität sowie Originalität.
Gemäß der Kreativitätstheorie des Psychologen Dean Keith Simonton (geboren 1948) von der University of California sind ungewöhnliche und unerwartete Erfahrungen ein wichtiges Merkmal von Menschen, die im Laufe ihres Lebens kreative Meisterleistungen vollbringen.
Was hat das mit ADHS zu tun?
Das Kernsymptom Unaufmerksamkeit führt oft zum Abwandern der Gedanken (mind-wandering, der Autopilot ist eingeschaltet). Die während dieses Abdriftens aufkommenden Gedanken, betrachtet es man nun positiv, können zu neuen Ideen bzw. kreativen Einfällen führen.
Das andere Kernsymptom, die Impulsivität, macht Menschen mit ADHS spontaner, auch mutiger, sie haben eine gewisse Risikobereitschaft, sind begeisterungsfähig. Da sie manchmal die Grenzen nicht so gut spüren können, probieren sie eher Dinge aus, lassen sich auf Neues ein, sind offen und neugierig. Das fördert die Umsetzung von Ideen bzw. Kreativität.
Ein Problem ist häufig die Ausdauer. Wenn ein großes Interesse an einer Sache besteht, funktioniert die Konzentration besser und es gelingt entsprechend einfacher, eine Angelegenheit weiterzuverfolgen, man befindet sich dann im Flow-Zustand.
Es ist davon auszugehen, dass es unter den Künstlern, also Menschen mit großem kreativem Potenzial, nicht wenige gibt, die ADHS haben.
Gefundene Freiheit
Die Landschaft zieht an mir vorüber. Ich sehe Salzkräuter, die der Wind als kugelartige Büsche über die rot gefärbte Wüste treibt. Am Horizont zeichnen sich bizarre Felsformationen ab, die das Death Valley so berühmt gemacht haben. Ich nehme diese Bilder intensiv wahr. Die innere Ruhe, die ich in diesem Moment empfinde, macht alles, was ich auf dieser USA-Reise erlebe, zu einer einzigartigen und nie da gewesenen Erfahrung.
Vieles, was bis vor kurzem ein Ding der Unmöglichkeit gewesen wäre, klappt jetzt problemlos. Ich reise in einer Gruppe in einem Bus und sitze pro Tag bis zu acht Stunden ruhig und zufrieden auf meinem Platz. Die Mitreisenden gehen mir nicht auf die Nerven. Ich fühle mich nicht gehetzt, und ich muss an einem Tag nicht zehn verschiedene To-do‘s auf einer Liste abhaken, die mit Sehenswürdigkeiten gespickt ist. Es sind Aktivitäten, die ich mir früher auferlegt habe, um der drohenden Langeweile und der daraus resultierenden inneren Anspannung zu entfliehen. Ich habe kaum mehr Angst, meinen Pass, die Schlüssel, das Gepäck oder irgendwelchen Krimskrams zu verlieren. Auch mein nahezu fanatischer Ordnungswille und der Hang, alles akribisch planen zu müssen, plagen mich nicht mehr. Noch vor kurzem hatte ich große Angst, dass etwas schiefgehen könnte, und