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Ali Basrâwis Geschichte niederzuschreiben lockte mich die ganze Zeit, obwohl sie voller Elend und Tristesse war und auch noch einige wenige Drittweltelemente enthielt, die sich an die Gefühlswelt westlicher Leser richten. Seine Geschichte hat mir immer die Poesie des menschlichen Gesichts verdeutlicht, das wie ein Juwel unter Millionen Tonnen von Trivialmüll dieses Lebens verborgen ist. Vielleicht weil ich ein Dichter bin und als Flüchtling an einem solchen Ort wohne, einem Kuhstall, habe ich ein verhärtetes Herz oder vielleicht ein Gehirn, das nicht ohne die albernen Weisheiten des Nihilismus auskommt, ein Gehirn, das versucht, mit dürftigen Worten gleichzeitig seinen Zorn über und seine Leidenschaft für die menschliche Angst auszudrücken. Aber jedes Mal, wenn ich einen Baum anschaue oder über eine Nacht voller Wölfe des Zweifels nachdenke, reißt in meinem Herzen eine Quelle aus simpler, kindlicher Traurigkeit auf. Ich bin überzeugt, dass das Schreiben sich nicht behindern lassen darf durch das demütige Gefühl Massen von Menschen gegenüber, aus deren Hemden der Schweiß dampft und die sich ähneln wie die Klos in einer Toilette. Doch Alis Geschichte sickerte in mein Blut und drängte mir viele Nächte lang Tränen in die Augen. Ich weinte über mein verhärtetes Herz. Ich weinte, weil die Welt um vieles reiner und schöner sein könnte.

      Als Ali Basrâwi im vergangenen Jahr ins Aufnahmezentrum kam, gab es viel Unruhe. Die anderen Bewohner machten einen Riesentumult. Es wurde viel gelacht und gewitzelt, was wohl in seiner bleigrauen Tasche war, einer Reisetasche im Stil der 1950er-Jahre. Gleich nach seiner Ankunft wurde Ali von der Polizei vorgeladen und drei Tage einbehalten. Danach ließ man ihn gehen, gab ihm aber seine Tasche erst drei Monate später zurück. Während dieser Zeit wurde sie in den Labors der Hauptstadt untersucht. Und der Direktor des Aufnahmezentrums war schockiert, als Ali schließlich seine Tasche mit dem gesamten Inhalt zurückerhielt.

      In den Neunzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts lebte Ali mit seinen sieben Brüdern, alle älter als er, in einem elenden Viertel in Bagdad. Sein Vater arbeitete als Nachtwächter für mehrere Läden in der Stadtmitte. Seine Mutter war, wie die meisten irakischen Mütter, ein Wesen, über das man den Morast der Traurigkeit, der Ungerechtigkeit und der Einsamkeit ausschüttete. Man könnte leicht die Existenz Gottes leugnen, wenn man auch nur einen Tag im Leben einer irakischen Mutter erlebt hat. Natürlich könnten Regungen dieser Art als simple, romantische Gefühlsaufwallungen abgetan werden, doch wenn es geheime Kameras gäbe, die der Welt zeigten, was eine Frau in irakischen Häusern zu ertragen hat, würden Steine reden und die Verhältnisse und ihre Verursacher anprangern. Alis Brüder hatten von ihrem Vater die zwanghafte Neigung geerbt, die Mutter für alles Unheil und alle Probleme, für Armut und Schicksalsschläge verantwortlich zu machen. Beim trivialsten Anlass wurde sie geschlagen, und die Mutter haderte mit ihrem Herrn, dass er ihr keine Tochter geschenkt hatte, dir ihr im Haushalt beistehen und Sympathie für sie haben könnte. Ali konnte nie den Tag vergessen, an dem sein ältester Bruder die arme Frau mit Händen und Füßen traktierte, bis sie ohnmächtig zusammenbrach, und das nur, weil sie ihn nicht geweckt hatte, damit er auf dem Markt Arbeit suchen konnte. Die Reaktion der Mutter auf all die Gewalt und Demütigung war immer dieselbe: Sie setzte sich neben den alten Kleiderschrank und weinte; sie beschwor die Gott wohlgefälligen Heiligen, sie aus ihrer Lage zu erlösen. Ali war damals noch ein kleiner Junge. Die Mutter schloss ihn in die Arme und drückte ihn schluchzend an die Brust. Und vielleicht umarmte sie ja einen Sohn, der, einmal erwachsen, sie auch schlagen würde.

      Wenn sie ausgeweint hatte, erzählte Ali, holte sie ihre kleine Tasche aus dem Kleiderschrank, das Einzige, was sie besaß: eine alte Reisetasche, darin ein Holzkamm, ein Spiegel und ein Bild von Imam Ali, außerdem ein Koranexemplar, das in ein grünes Tuch gewickelt war, und ein Schwarz-Weiß-Foto von ihr selbst als junges Mädchen mit ihrem Vater am Flussufer. Sie löste ihr schwarzes Kopftuch und kämmte eine volle Stunde völlig stumpfsinnig ihr Haar. Dazu summte sie ein altes Lied, in dem es um die Liebe zur Mutter ging. Vielleicht fand ja die ständig wiederholte Bitte der Frau um Erlösung aus diesem Leben bei den Satanen des Himmels schließlich Gehör. Sie starb völlig überraschend an einem Gehirnschlag. Ali musste nach ihrem Tod noch Jahre warten, bis er sich an seinen Brüdern und seinem Vater rächen konnte, der wie ein Stück Dreck gelähmt auf seinem Rollstuhl saß.

      Ein Jahr lang bereitete Ali alles aufs Genaueste vor. Er hatte beschlossen, zuerst nach Iran zu fliehen. In der Nacht, in der er aufbrechen wollte, ging er ins Zimmer seiner Mutter und nahm ihre Tasche, danach schlich er sich aus dem Haus. Sein Freund Adnân erwartete ihn am Ende der Gasse mit Hacke und Schaufel, in einem Sack versteckt. Die beiden Freunde zündeten sich eine Zigarette an und marschierten zum Friedhof. Der Himmel war klar, und der Mond, groß wie Alis Schmerz, erleuchtete das Grab, das die Freunde öffneten. Mit einem orangen Tuch säuberten sie die Knochen seiner Mutter und legten sie in die Tasche.

      Ali nahm seine Mutter in der Tasche mit auf seine Flucht nach Iran, glücklich über seine Rache. Er stellte sich die leichenblassen Gesichter von Vater und Brüdern vor, wenn sie die Sache entdeckten. Die Knochentasche verließ ihn auch während seiner zweiten Etappe über das Gebirge in die Türkei nie. Er schlief in Tälern mit anderen Flüchtlingen, die Tasche fest an sich gedrückt wie etwas Geliebtes, etwas Geheiligtes. Diese seltsame Tasche und Alis übertriebene Aufmerksamkeit dafür wurden Anlass zu Spott und Belustigung, was ihn aber nicht kümmerte. Und nie offenbarte er irgendjemandem ihr Geheimnis. Ein Jahr lang arbeitete er in Istanbul in einer Ballonfabrik, um seine Reise auf den geheimen Pfaden der Emigration fortsetzen zu können. Und während dieses Jahres unterhielt sich Ali bei Nacht mit seiner Mutter über das ferne Land, in dem er in Frieden wohnen wollte, auch über seinen Wunsch, ein neues Leben zu beginnen und die Pein zu vergessen. Doch immer schmerzte es ihn, dass er seine Mutter in eine Tasche hatte stopfen müssen.

      Als es in Istanbul bitterkalt wurde, vereinbarte Ali mit einem Schlepper, sich von ihm über die türkisch-griechische Grenze bringen zu lassen. Der Winter ist die geeignetste Jahreszeit für solche Unternehmungen, weil die Grenzwächter ihre täglichen Patrouillen etwas weniger ernst nehmen. Ali hatte zwar Angst vor der Flussüberquerung, doch der Schlepper beruhigte ihn und versicherte ihm, diese erfolge in einem Boot mit genügend Platz für alle. Im kalten Wasser könne man sowieso nicht hinüberschwimmen. Trotzdem besorgte sich Ali Plastiktüten, um die Gebeine seiner Mutter darin zu verstauen.

      Kaum hatte sich die Gruppe hinter dem Schlepper im Wald in Bewegung gesetzt, tauchten auch schon griechische Grenzsoldaten auf. Sie sollten stehen bleiben, wurde ihnen befohlen. Doch der Schlepper forderte sie auf, ihm durch den dichten, dunklen Wald zu folgen. Sie rannten los. Äste zerschrammten ihnen die Gesichter und zerrissen ihnen die Wintermäntel. Die Tasche fest an die Brust gedrückt, rannte Ali, so schnell er konnte, dicht hinter dem Schlepper her, um sich nicht zu verirren. Doch dann stieß er gegen einen Baumstamm, prallte zurück und fiel zu Boden. Die Gebeine seiner Mutter flogen in alle Richtungen und verteilten sich im Dunkeln auf dem Waldboden, er selbst blutete an der Stirn. Entsetzt und verwirrt sammelte er die Knochen ein, tastete sie sorgsam ab und legte sie zurück in die Tasche. Dann wischte er das Blut von seinen Augen und nahm torkelnd seine Flucht wieder auf. Von Zeit zu Zeit war in der Ferne noch das Rufen der Grenzpolizisten zu hören.

      Wie durch ein Wunder und dank ihres intelligenten Schleppers, der den Weg durch den Wald kannte, gelang es der Gruppe, sich in Sicherheit zu bringen. Nur ein junger Iraner und ein junger Kurde verloren den Anschluss und wurden möglicherweise festgenommen. Die Übrigen erreichten wohlbehalten Athen und wurden einem alten griechischen Schlepper übergeben, der sie übers Meer nach Italien bringen sollte.

      Während seines Aufenthalts in einem Versteck für Flüchtlinge in Athen untersuchte Ali den Inhalt seiner Tasche. Die Gebeine seiner Mutter, der Spiegel und der hölzerne Kamm, das Bild von Imam Ali und das Koranexemplar – alles war da. Es fehlte einzig der Kopf, der einst seinen Kopf berührt und sich zärtlich über ihn geneigt hatte.

      Gewiss wird Ali seine Tasche an einen sicheren Ort bringen und für die Gebeine ein Grab finden, zu dem kein anderer den Weg kennt. Und vielleicht wird er dort, allein, eines der Lieder seiner Mutter hören, deren Kopf in jenem Wald verloren ging.

      Die Jungfrau und der Soldat

      Im After der Leiche steckte eine Schnapsflasche, von der rechten Hand waren drei Finger abgeschnitten, und es gab weitere, bestialische Verunstaltungen,

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